| # taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Die diasporische Lektion | |
| > Die Erfahrung Israels lehrt: Demokratien brauchen einen pluralistischen | |
| > Univeralismus. Es gilt, die verschiedenen Identitäten zu verbinden. | |
| Bild: Heute erleben wir die Verlagerung vom Diaspora-Juden zum Israel-Juden. | |
| Was bedeutet jüdisches Leben in einer globalisierten Moderne? Dieser Frage | |
| widmete sich kürzlich das Jüdische Museum Berlin in einer hochkarätig | |
| besetzten Tagung. Eine Frage, die natürlich nicht jenseits des Bezugs zu | |
| Israel gestellt werden kann. | |
| Einer der Tagungsteilnehmer, Micha Brumlik, hat dazu im Vorfeld einen Essay | |
| in der taz veröffentlicht. Brumlik schreibt, dass das geplante Gesetz, das | |
| Israel zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklären soll, zu einer | |
| innerjüdischen Spaltung führen würde: Es würde Israel und die jüdische | |
| Diaspora auseinanderdividieren. | |
| Man kann tatsächlich von einer drohenden Spaltung des Judentums sprechen. | |
| Doch diese verläuft nicht einfach zwischen Israel und der Diaspora. Die | |
| Bruchlinie scheint komplexer. Eine Gruppe reiht sich um den Signifikanten | |
| „Israel“. Diese Gruppe ist aber keineswegs identisch mit den Bewohnern des | |
| Landes. Hier findet sich neben einem Teil der Israelis jener Teil der | |
| Diaspora, der sich als fünfte Kolonne, als vehementer Statthalter einer | |
| jüdischen Nation versteht. | |
| Die andere Gruppierung schart sich um den Signifikanten „Diaspora“. Sie ist | |
| aber keineswegs identisch mit den Gemeinden weltweit. Sie umfasst Teile von | |
| diesen ebenso wie Teile der Israelis. Man kann auch in Israel ein | |
| Diaspora-Jude sein. | |
| ## Chiffren einer geistigen Haltung | |
| Und man kann auch in Deutschland, in Österreich oder sonst wo auf der Welt | |
| ein Israel-Jude sein. Denn Diaspora und Israel sind heute Chiffren einer | |
| geistigen Haltung. Sie sind mentale Bestimmung. Kurzum – sie sind | |
| entterritorialisiert. | |
| Was ist ihr Unterschied, wenn er nicht mehr geografisch ist? Brumlik | |
| unterscheidet zwischen den universalistischen Werten der Diaspora und einem | |
| „nackten Partikularismus“. Was nackter Partikularismus ist, ist klar: Es | |
| ist das Hochhalten des einen, einzelnen Prädikats – in dem Fall eben | |
| „jüdisch“. Natürlich funktioniert so ein Partikularismus auch mit anderen | |
| Prädikaten – etwa mit „deutsch“ bei Pegida-Aufmärschen. Aber was für e… | |
| Universalismus liegt der Diaspora zugrunde? | |
| In einem problematischen Text hat der französische Philosoph Alain Badiou | |
| vor einiger Zeit geschrieben, aufgrund des Holocaust sei der Name „Jude“ | |
| sakralisiert worden. „Jude“ sei in einen heiligen „Ausnahme-Signifikanten… | |
| verwandelt worden. Badiou hält dem entgegen, die Lektion aus dem Holocaust | |
| sei, „jedes kommunitäre Prädikat“ zurückzuweisen – vor allem aber das | |
| jüdische. | |
| ## „Weder Juden noch Griechen“ | |
| Deshalb sei, so Badiou, der Anspruch Israels, ein jüdischer Staat zu sein, | |
| inakzeptabel. Was Badiou diesem Partikularismus entgegensetzt, ist ein | |
| Universalismus, der nach dem Paulus-Wort „weder Juden noch Griechen“ kenne. | |
| Eine moderne Demokratie sei eine solche, die „alle ohne Ansehung der | |
| Prädikate zähle“. | |
| Ist das tatsächlich so? Funktionieren moderne Demokratien dergestalt – oder | |
| sollten sie es? Geht es wirklich darum, von sämtlichen | |
| Identitätsbestimmungen abzusehen? Brauchen wir heute nicht vielmehr einen | |
| ganz anderen, einen pluralistischen Universalismus? Eine Demokratie, die | |
| die unterschiedlichen Prädikate, die verschiedenen Identitäten verbinden | |
| kann? Eine solche Verbindung hat zur Folge, dass jede Identität, jedes | |
| Prädikat zwar beibehalten wird, sich im pluralen Kontext aber verändert, | |
| einschränkt, Teil eines pluralistischen Universums wird. Das wäre | |
| vielleicht die diasporische Lektion. | |
| Allerdings ist das, was wir seit 20 Jahren in langsamer Kontinuität erleben | |
| und was sich derzeit maßlos steigert und beschleunigt, etwas anderes: Es | |
| ist die Verlagerung des Diaspora-Juden zum Israel-Juden. Und zwar weltweit. | |
| Dies ist gewissermaßen eine weltweite Rückkehr ins Ghetto. Wenn wir dagegen | |
| Einspruch erheben wollen – was heißt das dann? Heißt es, das | |
| Diaspora-Judentum gegen Israel zu kehren? Heißt es, das, was ein Mangel war | |
| – eine Minderheit zu sein – gegen das zu kehren, was die Lösung sein | |
| sollte, also Israel? Dan Diner meinte bei der Konferenz: In aussichtslosen | |
| Situation könne man nur schweigen. | |
| 26 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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