# taz.de -- Essay Identität und Individualität: Wir sind demokratischer als g… | |
> Die Neuen Sozialen Bewegungen haben ein paradoxes Subjekt hervorgebracht. | |
> Das behauptet seine Identität außerhalb festgefügter Gruppen. | |
Bild: Alles individuelle Identitäten. | |
Die Grünen haben sich kürzlich bei ihrem Freiheitskongress in Berlin der | |
Frage gestellt, ob sie zu einer Verbotspartei geworden sind, und konnten zu | |
keiner Einigung kommen. | |
Der deutsche Politologe Ingolfur Blühdorn, der in Großbritannien lehrt, | |
hätte da weiterhelfen können. Mit seiner These nämlich, die Neuen Sozialen | |
Bewegungen – worunter er im Wesentlichen die Umweltbewegung der 1970er | |
Jahre versteht, die ja in den Grünen mündete – hätten das brüchige Ideal | |
der Demokratie, das autonome, vernünftige und ethische Subjekt | |
revitalisiert und breitenwirksam durchgesetzt. | |
Es ist eine originelle und plausible These, dass die Grünen eine Art zweite | |
(stille) bürgerliche Revolution vollzogen hätten – und damit auch | |
erfolgreich waren. Ihr Nimbus als Verbotspartei würde dann genau daher | |
rühren – aus ihrer Verpflichtung auf eine Verantwortungsethik. Und wenn | |
dieser Nimbus heute veraltet wirkt und sich gegen sie richtet, dann ist das | |
die paradoxe Folge ihres Erfolgs: Denn erst dieser brachte das neue | |
postbürgerliche, das postgrüne oder, wie Blühdorn es nennt, das | |
postdemokratische Subjekt hervor. | |
Wie sieht dieses nun aus? Immerhin ist das Subjekt die zentrale Kategorie | |
der Demokratie. Wer bevölkert heute unsere Demokratien? Man sollte dazu | |
auch die anderen (ehemals) Neuen Sozialen Bewegungen betrachten: etwa die | |
Frauen oder Schwulen. Auch deren Identitätspolitik hat das gesamte | |
politische Leben durchdrungen und einen neuen Individualismus begründet. | |
Sie haben eine Politik in der ersten Person etabliert. Das Ich-Gefühl, das | |
damit in die politische Arena eingetreten ist, weist drei Besonderheiten | |
auf. | |
## Bestätigung statt Veränderung | |
Zum einen erleben die Akteure jene Merkmale, über die sie sich | |
identifizieren, als unverfügbar und damit als unverhandelbar. Gleichzeitig | |
hatte gerade die Identitätspolitik Anteil am Rückgang traditioneller | |
politischer Zugehörigkeiten. Ihre Akteure waren also gleichzeitig politisch | |
flexibel und fixiert in ihrem Selbstverständnis. | |
Daran knüpft sich die zweite Besonderheit dieses neuen Individualismus: der | |
Wunsch, sich nicht zu verändern, sondern nur zu bestätigen. Parteien mit | |
einem pädagogischen Konzept, also mit der Vorstellung, die Subjekte zu | |
erziehen, haben schon lange das Nachsehen. Die politisch flexible Identität | |
kämpft darum, als das anerkannt zu werden, was sie ist. Als solche tritt | |
sie in die politische Arena ein. Genau deshalb können Parteien Lebensformen | |
nicht verordnen oder verbieten. Sie können diese bestenfalls an | |
Konfliktpunkten austarieren. Das müssen die Grünen gerade schmerzhaft | |
lernen. | |
Ein drittes Merkmal des neuen Homo politicus ist seine Ausrichtung auf | |
Differenz. Ging es früher um einen Raum der Gleichen – der Parteigenossen, | |
der Kompatrioten–, so tritt man nun in die identitätspolitisch geprägte | |
Arena, um sich als anders, als different zu bestimmen. | |
## Keine Addition, keine Akkumulation | |
Das Subjekt der Neuen Sozialen Bewegungen aber traf auf ein anderes | |
prägendes Phänomen: die Pluralisierung. Diese ist ein unhintergehbares | |
Faktum heutiger Gesellschaften. Denn es gibt kein Zurück in eine „homogene“ | |
Gesellschaft. Was aber bedeutet das für den Einzelnen? | |
Pluralismus ist keine Akkumulation von kulturellen, religiösen, ethnischen | |
Unterschieden. Es ist keine Addition, wo etwas Neues zu einem Bestehenden | |
hinzukommt. Pluralismus ist kein äußerliches Verhältnis, kein | |
Nebeneinander, das die Teile unberührt lässt. Vielmehr affiziert die | |
Verschiedenheit jeden: Sie verändert uns alle. | |
Wir können heute nicht mehr auf dieselbe Art Deutscher, Österreicher oder | |
Franzose sein wie noch vor 40, 50 Jahren. Ebenso sind wir heute auf eine | |
andere Art gläubig oder atheistisch. Nicht weil wir so fragmentiert, | |
flexibel oder fluid sind. Nicht weil wir keine fixen Identitäten mehr | |
hätten. Sondern weil wir diese Identitäten nunmehr neben anderen haben. | |
Wenn in einer Klasse Moslems neben Juden und Atheisten sitzen, migrantische | |
neben nichtmigrantischen Deutschen – dann verändert das jeden Einzelnen, | |
der da sitzt. Nicht weil es notwendig zu Mischformen kommt, den berühmten | |
hybriden Identitäten. Grundlegender ist: Jeder erlebt heute seine Identität | |
im Wissen, dass der Andere, der Nachbar eine andere Identität hat. Dieses | |
Wissen nimmt der Identität ihre Selbstverständlichkeit. Es schränkt sie | |
ein. Sie weiß, dass sie nur eine Option unter anderen ist. Pluralismus | |
schreibt sich als Minus, als Weniger, als Abzug von unserer jeweiligen | |
Identität in uns alle ein. | |
## Das Demokratische als Teil der Identität | |
Wir haben also eine widersprüchliche Situation: Wir erleben unsere | |
Identitäten einerseits als unverfügbare, nicht verhandelbare Voraussetzung | |
– und gleichzeitig als eingeschränkt, im Wissen um andere Identitäten. | |
Diese reduzierte und bekräftigte, diese widersprüchliche Identität ist das, | |
was uns zu demokratischen Subjekten macht. | |
Nicht das autonome, vernünftige, bürgerliche Subjekt, jenes mit einer | |
eindeutigen, vollen Identität also ist heute das demokratische Subjekt. | |
Nein, das demokratische Subjekt ist heute jenes, dessen vorpolitische | |
Identität eingeschränkt ist – das nichtvolle, das pluralisierte Subjekt, | |
das dennoch auf seiner Identität besteht. Wir sind demokratische Subjekte, | |
weil wir weniger, weil wir eine eingegrenzte Identität haben. Das heißt | |
aber, dass das Demokratische daran keine Überzeugung ist. Wir sind keine | |
demokratischen Subjekte, weil wir ein Bekenntnis ablegen. Das Demokratische | |
hat vielmehr Eingang in unsere Identität gefunden, ohne dass wir es | |
beabsichtigt haben. In diesem Sinn sind wir weit mehr demokratische | |
Subjekte, als wir glauben. | |
Dazu muss man erwähnen, dass der französische Theoretiker Claude Lefort die | |
Grundlage der Demokratie als den „leeren Ort der Macht“ bestimmt hat. | |
Demokratie bedeutet nicht die Auflösung von Macht und Souveränität, sondern | |
die Auflösung jedes Anspruchs, diesen Platz dauerhaft einzunehmen, ihn zu | |
besetzen. Volkssouveränität heißt demnach nicht, dass ein definiertes Volk | |
sich selbst regiert. Es heißt vielmehr, dass das „Volk“ eine Leerstelle ist | |
– also etwas, um das wir ringen und streiten. Demokratie zeichnet sich | |
damit durch ein leeres Zentrum aus – was für ein schwindelerregender | |
Befund! Erst wenn das Zentrum leer ist, weil es keine letzte Instanz gibt, | |
eröffnet sich der Freiraum für Kontroversen. Demokratie ist eine | |
Konfliktordnung. | |
## Imaginäre Formen erodieren | |
Es gab historisch natürlich viele Versuche, die symbolische Leerstelle zu | |
füllen – etwa durch die Nation, also das Angebot einer konkreten Gestalt | |
für die Leerstelle des Volkes. Heute erodieren diese imaginären Formen, | |
diese Gestalten. Sie greifen nicht mehr richtig. Denn Pluralismus bedeutet, | |
dass es „kein Weltbild mehr gibt, das von allen geteilt wird“, wie der | |
Philosoph Charles Taylor meint. Es gibt keine imaginäre Gestalt mehr, die | |
die symbolische Leere überdeckt. Die Demokratie ist gewissermaßen | |
ideologisch nackt. | |
Auf den Einzelnen umgelegt heißt das: Wir sind demokratische Subjekte, | |
nicht weil eine Gestalt des Volkes uns bestimmt, sondern weil sich die | |
symbolische Leerstelle in unsere Identität einschreibt – als jenes kleine | |
Minus, das zu jeder Identität „hinzukommt“. Dieses Minus ist die Form, in | |
der wir uns heute auf andere beziehen. Es ist das, was uns zu Teilen einer | |
pluralen Gesellschaft macht. Darin schreibt sich das „Volk“ als Leerstelle | |
in jeden Einzelnen ein. | |
Nach Blühdorn jedoch ist das Subjekt heutiger Demokratien ein | |
„postdemokratisches“. Es sei so selbstbestimmt, dass es sich keine | |
Vorschriften machen lassen will. Ein Subjekt, das so selbstbewusst ist, | |
dass es Verbote als unangemessen erachtet. Und postdemokratisch ist dieses | |
Subjekt, weil es mit seinen Ansprüchen nur seine Identität bestätigt, ohne | |
tatsächliche Veränderungen zu bewirken. Deshalb werde Demokratie zu einer | |
Simulationsveranstaltung, einer „kollektiven Illusionierung“. | |
## Einzelner in der Masse | |
Aber war Demokratie nicht immer eine solche, war sie nicht immer eine | |
Inszenierung – die Inszenierung von Volksherrschaft, Wählerwillen und | |
autonomen Bürgern? Haben wir nicht nur den Unterschied zwischen alten | |
Inszenierungen und neuen? Alte Inszenierungen waren Praktiken zur | |
Herstellung eines Volkserlebnisses, also jenes ozeanischen Gefühls eines | |
Aufgehens in der Masse. | |
Heutige Inszenierungen hingegen zielen zunehmend in die andere Richtung: Es | |
sind Darstellungen des Einzelnen als Einzelner selbst in der Masse (wie man | |
an allen Protestformen der letzten Jahre ablesen konnte). Paradox ist | |
dabei, dass wir als pluralisierte, nichtvolle Identitäten nicht post-, | |
sondern eher genuin demokratische, gewissermaßen demokratischere Subjekte | |
als früher sind. Aber das, was uns zu solchen demokratischen Subjekten | |
macht, was uns in Bezug zu anderen setzt, ist das, was uns von ihnen trennt | |
und unterscheidet. Wir sind demokratische Subjekte in Abgrenzung | |
voneinander. | |
Die Paradoxie ist also, dass wir gleichzeitig demokratischere Subjekte sind | |
und weniger Gemeinsamkeit haben – demokratischer und ungleicher zugleich. | |
Wir vergesellschaften unsere Differenzen – und was wir teilen, ist nur eine | |
Leere. Und das bedeutet Freiheit und Bedrohung zugleich. | |
22 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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