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# taz.de -- Roman „Die Hunde im Souterrain“: Der direkte Weg ins Unglück
> Die Siebzigerjahre waren nicht so befreit wie nachträglich imaginiert.
> Gabriele Weingartner zeichnet nach, wie brav die Generation war.
Bild: Demo gegen den Vietnamkrieg, 1971 in Hamburg.
Mit der Konstruktion von literarischen „Trends“ sollte man äußerst
vorsichtig sein, sprechen wir also lieber nur von einer Auffälligkeit: Es
scheint, als richte sich der Blick verstärkt auf die siebziger Jahre, kurz
bevor diese ganz und gar historisch werden. Sven Reichardts so monumentale
wie leserfreundliche Studie „Authentizität und Gemeinschaft“ über das
linksalternative Milieu der siebziger (und frühen achtziger) Jahre ist zu
Recht ein kleiner Bestseller geworden. Ulrich Raulffs „Wiedersehen mit den
Siebzigern“ führt das Jahrzehnt gleich im Titel und die Rezensenten weisen
unisono darauf hin, wie sehr dieses Jahrzehnt eines des Lesens und der –
zuweilen sehr verstiegenen – intellektuellen Auseinandersetzungen war.
Gabriele Weingartner, die schon vor drei Jahren mit dem wunderbaren Roman
„Villa Klestiel“ das intellektuelle Westberlin der Sechziger und Siebziger
wieder hatte lebendig werden lassen, dringt mit ihrem neuen Buch noch
einmal tief in die damalige Zeit ein, und zwar transatlantisch. Dabei wird
eines vor allem klar: Wie sehr dieses angebliche Jahrzehnt des Aufbruchs
und der Veränderungen noch dem Kalten Krieg verhaftet, wie sehr es noch
Nachkriegszeit war. Zwar hatte Ludwig Erhard schon in den Sechzigern das
Ende der Nachkriegszeit propagiert, aber tatsächlich ging diese erst mit
den Ereignissen von 1989 zu Ende, die dann in neue Kriege führten.
Man muss das vorausschicken, um die eigenartige Atmosphäre wirklich
erfassen zu können, in die die Geschichte von Felice und Ulrich eingebettet
ist. Ulrich, Experte für osteuropäische Diktaturen, ist Assistent am
Otto-Suhr-Institut bei Professor L., in dem sich für Eingeweihte unschwer
Richard Löwenthal erkennen lässt, der nach dem Krieg aus dem Exil
heimgekehrte Politikwissenschaftler, den man später mit den damals üblichen
Holzschnittkriterien zum „rechten Flügel“ der SPD rechnete.
Wir begegnen in diesem Roman auch mancherlei Figuren der damaligen Zeit
unter Klarnamen, etwa dem US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski.
Gabriele Weingartner hat zwar keinen Schlüsselroman geschrieben, sieht sich
aber doch genötigt, in einer kurzen Notiz darauf hinzuweisen, dass nicht
jede ihrer Figuren einer tatsächlichen Figur der Zeitgeschichte entspricht.
## Ehe mit Abstand
Ulrich und seine Studentin Felice, Altersdifferenz circa fünfzehn Jahre,
werden ein Paar, und als Ulrich ein zweijähriges Forschungsstipendium für
Harvard bekommt, heiraten die beiden, damit sie mitkommen kann in die USA.
Felice, die nicht ganz zufällig den Vornamen von Kafkas Dauerverlobter
trägt, auch wenn ihre Liebe Thomas Mann gehört, ist die retrospektive
Erzählerin des Romans. Erst bei einem Besuch in den USA vier Jahrzehnte
danach erfährt sie, was damals wirklich mit ihrem Mann, der schon seit
Langem unter der Erde liegt – und sie hat vergessen, auf welchem Friedhof
er beigesetzt wurde! – geschehen ist.
Denn während die erste Zeit in Harvard problemlos zu verlaufen scheint und
die beiden wie selbstverständlich mit lauter hochkarätigen Personen
verkehren, von Kissinger bis Leonard Bernstein, liegt Ulrich nach ihrer
Rückkehr aus Deutschland, wo sie wegen einer Zahnbehandlung vier Wochen
verbringen musste, im Krankenhaus und hat sich in seinem ganzen Wesen
radikal verändert. Etwas ist vorgefallen, aber er will es nicht sagen, er
hält die Hunde im Souterrain an der Kette.
Dass diese Metapher aus einem frühen Brief Thomas Manns dem Roman den Titel
gibt, ist durchaus sinnfällig, bezog sie sich doch bei Mann wie bei Ulrich
auf unterdrückte Geschlechtlichkeit. Denn Ulrich, der sich nach Harvard und
nach der Rückkehr nach Westberlin auf blutigste Art und Weise das Leben
nimmt, war nicht nur schwul und wollte sich das „wegtherapieren“ lassen,
sondern hatte auch beim Anschauen von Filmdokumenten aus einem KZ eine
schmerzhafte Erektion bekommen. Es ist letztendlich aber die „Schuld“, die
ihn in den Tod treibt: Als Acht- oder Neunjähriger hatte er zusammen mit
seiner Mutter in den letzten Berliner Kriegstagen im Bombenkeller eine
Person identifiziert, die da nicht hingehörte, einen Juden nämlich, der
dann auch verschwand.
## Harmlose Generation der Studenrevolte
Ähnlich wie bei „Villa Klestiel“ arbeitet Weingartner auch hier souverän
mit den verschiedenen Zeitebenen. Allerdings neigt sie diesmal dazu,
manches zu sehr auszuerzählen. Natürlich bietet sich das Lokalkolorit der
Ostküste dafür auch an, und die Autorin, die selbst unter anderem in
Harvard studiert hat, weiß sehr wohl, wovon sie spricht. Dabei erliegt sie
zuweilen der Versuchung, es mit der poetischen Gerechtigkeit zu übertreiben
und selbst die Geschichten von wirklich nicht sehr belangreichen
Nebenfiguren zu sehr auszubreiten.
Von diesen nicht sehr schwerwiegenden Einwänden abgesehen (selbst diese
Geschichten haben ja erzählerische Kraft und machen Spaß), ist der Roman
ein großartiges Stück Erinnerungsarbeit an eine Zeit, die selbst den
Zeitgenossen nach und nach eher versunken zu sein scheint und die der
literarischen Rettung bedarf. Dass es in den frühen Siebzigern mit der
„befreiten Sexualität“ noch längst nicht so weit her war, wie man später
imaginierte, dürfte inzwischen schon zum Allgemeinwissen gehören.
In diesem Roman bekommt man aber zudem eindrucksvoll vorgeführt, wie
harmlos, wie brav, wie autoritätsfixiert die Generation der
Studentenrevolte, zumal ihr universitärer Teil, in Wirklichkeit gewesen
ist. Ulrich gehört zwar nicht zu den Revoltierenden, ist aber auch Mitglied
dieser Generation und durchaus ihr Repräsentant.
## Durchlüftung der BRD
Man kann hier sehen, dass zwar „1968“ ganz entscheidend zur Durchlüftung
und Modernisierung der Bundesrepublik beigetragen hat, dass aber die
Protagonisten von damals mehrheitlich nicht mehr die Nutznießer ihrer
Erfolge waren. Ihre Handlungen sind nicht nur in das Schema des Kalten
Kriegs eingezwängt, sie sind individuell zudem allesamt die Produkte einer
Sozialisation, die auch nach 1945 noch zwei Jahrzehnte lang den
nationalsozialistischen Richtlinien folgte.
Spezifisch im universitären Bereich war der Muff von tausend Jahren auch
weiterhin unter den Talaren zu riechen. Ob man nun dagegen aufstand oder
versuchte, innerhalb dieses Bereichs Karriere zu machen, beides führte oft
genug direkt ins Unglück. Gabriele Weingartners Roman zeigt das sehr
deutlich und muss, weil sie erzählen kann, dabei nicht eine einzige These
aufstellen.
28 Oct 2014
## AUTOREN
Jochen Schimmang
## TAGS
Literatur
Demokratie
68er
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