| # taz.de -- Streitgespräch Aly vs. Rutschky: "In welcher K-Gruppe waren Sie de… | |
| > Was war 1968? Da liefen die Kinder deutscher Massenmörder Mao hinterher, | |
| > meint Historiker Götz Aly. Publizistin Katharina Rutschky widerspricht - | |
| > sie findet die Praxis, etwa in Kinderläden, viel wichtiger. | |
| Bild: Eine Revolte, zwei Perspektiven: Rutschky und Aly. | |
| taz: Frau Rutschky, an welche Szene erinnern Sie sich, wenn Sie an 1968 | |
| denken? | |
| Katharina Rutschky: Eine schöne Szene war der Vietnam-Kongress im Februar | |
| 1968. Wir hatten das Gefühl: Uns gehört die Zukunft. Jetzt sind wir dran. | |
| Ich habe zwei schöne Sachen erlebt: 1968 und die Wiedervereinigung | |
| Also war 68 ein Fest? | |
| Rutschky: Fest? Na ja. Wir kriegten Luft unter die Flügel. Wir im SDS waren | |
| elitär. Wir waren wenige, aber immer die Besten. Wir hatten die meisten | |
| Bücher gelesen, waren am besten informiert etc. Und dann merkten wir, dass | |
| wir plötzlich von einer Grundwelle getragen wurden. Dass damals Feltrinelli | |
| mit Sprengstoff anreiste, der im Kinderwagen von Rudi Dutschke | |
| transportiert wurde - das wussten wir ja nicht. | |
| Welche Szene erinnern Sie, Herr Aly? | |
| Götz Aly: Es gibt die Fotos von Michael Ruetz. Da sieht man immer das | |
| Gleiche: ein paar oft bärtige, wild gestikulierende Protestprotze und eine | |
| stille Frau. Das ist die Sprache der Bilder: drei Männer und eine Frau. Es | |
| gab damals ja weniger als 25 Prozent Frauen an den Hochschulen. Das hat | |
| auch die Dynamik dieser Revolte sehr stark befördert. | |
| Mit mehr Frauen hätte es keine Revolte gegeben? | |
| Aly: Wenn das Geschlechterverhältnis ausgeglichen gewesen wäre, wäre es | |
| anders gelaufen. Es war ja ein Tanz auf dem Affenfelsen. Es gab an den | |
| Universitäten wenig Frauen - und gleichzeitig die Pille und die sexuelle | |
| Revolution. Bei Reimut Reiche steht, dass schon Freud gesagt habe, dass | |
| protestierende Männer über ganz besondere sexuelle Qualitäten verfügten - | |
| also XXL-Männer seien. In diesem Sinne verfolgten die sexuelle Selbst- und | |
| vor allem Fremdbefreiung sehr unmittelbare Zwecke. Das war lustig, hatte | |
| aber mit Emanzipation nicht viel zu tun. | |
| Haben Sie 1968 nicht als Befreiung empfunden? | |
| Aly: Doch. 1967 siezten sich die deutschen Studenten ja noch. Da war man | |
| Fräulein Schmidt und Herr Aly. Man trug Faltenrock oder Krawatte und | |
| Jackett und kriegte einen Nervenzusammenbruch, wenn man zum Professor in | |
| die Sprechstunde musste. Aber all die Befreiungsschriften von damals sind | |
| Müll, unerträglich. Nicht nur die Theorie, auch die Schriften zu den | |
| Kinderläden. Es steht kein vernünftiger Satz drin, nichts, was man heute | |
| noch mit Gewinn lesen könnte. | |
| Und "Sexfront" von Günter Amendt? | |
| Aly: Ach was, lächerlich. Blöde und altmodisch. | |
| Waren die Männer auf den Fotos denn damals Vorbilder für Sie, Herr Aly? | |
| Aly: Ja, klar. In Berlin war das das SDS-Trio Rudi Dutschke, Bernd Rabehl | |
| und Christian Semler. Natürlich haben wir damals "Die Rebellion der | |
| Studenten" gelesen. Aber da stehen Dinge drin, da zieht es Ihnen die Schuhe | |
| aus. Da sagt Dutschke sinngemäß: Wenn wir nach dem Tod von Benno Ohnesorg | |
| den Widerstand nicht fortsetzen, machen wir uns zum Juden. Stellen Sie sich | |
| vor, ein brandenburgischer Bürgermeister würde heute sagen: Wenn wir den | |
| Widerstand gegen eine Müllverbrennungsanlage oder ein Ausländerheim nicht | |
| fortsetzen, machen wir uns zum Juden. Der Kerl würde morgen im politischen | |
| Orkus verschwinden. Aber damals war Dutschke ein Vorbild. Das Radikale war | |
| schön. Man konnte die Welt erklären und hatte immer Recht. Das war | |
| wunderbar. Wenn man sich heute anschaut, womit wir diesen eigenen | |
| kulturellen Raum füllten, erfasst einen das Grauen. | |
| Zum Beispiel? | |
| Aly: Der Personenkult, die Mao-Begeisterung. Die Kinder der deutschen | |
| Massenmörder sind damals einem Massenmörder hinterhergerannt. Ich hab auch | |
| eine Mao-Plakette getragen. 1968 war ein Spätausläufer des europäischen | |
| Totalitarismus - und besonders des deutschen. | |
| Rutschky: Herr Aly, entschuldigen Sie, aber jetzt rege ich mich auf! Damals | |
| wurde in den Kinderläden doch eine andere Pädagogik erfunden, verdammt noch | |
| mal. Herr Aly, Sie reden, wie Renegaten es oft tun, über sich - und | |
| verallgemeinern. In welcher K-Gruppe waren Sie denn? Ich war in keiner. | |
| Hier, ich habe meinen Ausweis der "Falken" mitgebracht, unterschrieben 1960 | |
| von Holger Börner. Und meinen SDS-Ausweis. Ich muss mich, anders als Sie, | |
| für nichts entschuldigen. Ich bin nicht hinter Thälmann hergerannt. Ich | |
| habe auch Dutschke nie verstanden. Der war nett und charmant, aber | |
| verstanden hat ihn keiner. Ich hatte eine kurze Mao-Phase - Jan Myrdals und | |
| Edgar Snows Bücher über China waren damals ja populär. Ich kannte das | |
| Ausmaß der Hungersnot dort nicht. Und Sie auch nicht. | |
| Aly: Ja, ich wusste es auch nicht. | |
| Rutschky: Aber Sie tun heute so, als wäre 1968 eine Symptomatik des | |
| deutschen Faschismus: die Kinder der Massenmörder. Ich bin kein Kind eines | |
| Massenmörders. Meine Familie ist seit 1906 quasi in der SPD. Und ich war | |
| immer politisch, so wie viele, die damals demonstriert haben. Manche haben | |
| sich damals an den Leithirschen orientiert, sind in K-Gruppen gegangen oder | |
| sogar bei der RAF gelandet. Das ist nicht meine Geschichte. Ich habe als | |
| Kind einer Arbeiterfamilie studiert. Sich als Frau durchzusetzen war | |
| schwierig. Auch an der liberalen FU wurde man als Frau nur HiWi und nie | |
| Assistent. Das war einfach noch nicht drin. Trotzdem ging es für viele | |
| Frauen im SDS und der Gewerkschaft aufwärts. Zwischen 1969 und 1972 sind | |
| 300.000 junge Leute zwischen 18 und 25 in die SPD eingetreten. Aber in dem | |
| Bild von 1968 kommt das nicht vor: sondern nur Jugend, Rebellion, | |
| pittoreske Sexualität mit Uschi Obermaier. Das wird gehypt, bis heute. Sex | |
| und Gewalt. Und ich ärgere mich tot, welche Öffentlichkeit diese | |
| RAF-Gangster haben: diese Inge Vietts und Irmgard Möllers, denen noch das | |
| Mikro hingehalten wird. | |
| Aly: Sie haben nach meiner Biografie gefragt. Also: Jahrgang 1947. Ich kam | |
| im November 1968 nach Berlin. Ich habe die Zeitschrift Hochschulkampf 1970 | |
| mitgegründet. Das war eine Zeitung der Roten Zellen. Ein schreckliches | |
| Blatt, wenn ich heute darin lese. Von 1971 bis 1973 war ich bei der damals | |
| sehr radikalen Roten Hilfe. Wir fanden damals den Genossen Mahler, der die | |
| RAF gegründet hatte, sehr toll - und Ströbele, der damals noch SPD-Mitglied | |
| war, viel zu reformistisch, um in diesem sozialistischen Anwaltskollektiv | |
| in die großen leeren Schuhe des verhafteten Horst Mahler zu passen. Ich | |
| habe mich auch mit meinen Schriften aus dieser Zeit beschäftigt. Die waren | |
| meist anonym, ich hätte mich gar nicht dazu bekennen müssen. Aber ich | |
| dachte, ich will meinen Kindern erklären können, was ich damals getrieben | |
| habe. Deshalb habe ich ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel: "Unser | |
| Kampf: 1968 - ein irritierter Blick zurück". | |
| Aha. Waren die Roten Zellen auch Maoisten? | |
| Aly: Wir waren doch alle Maoisten. Frau Rutschky behauptet: Das war eine | |
| Phase, wir haben uns für etwas Fernes begeistert. Vom Terror konnte man | |
| nichts wissen. Ich bin Historiker und habe geprüft, was man hätte wissen | |
| können. Der große deutsche China-Experte lehrte damals an der FU Berlin und | |
| hieß Jürgen Domes. Der hat seit 1966/67 systematisch veröffentlicht, was | |
| dort passiert. Wer in den Selbstmord getrieben wurde, er hat Zahlen über | |
| die Hungersnot in China veröffentlicht: 10,5 Millionen - das war allerdings | |
| zu niedrig. Enzensbergers Kursbuch veröffentlichte 1967 einen Text von | |
| Joachim Schickel über die Kulturrevolution, der sich hauptsächlich auf | |
| einen Zeugen stützte, den deutschen Ökonomen Max Biehl, der in der NS-Zeit | |
| Chef der Grundsatzabteilung des Deutschen Wirtschaftsministeriums im | |
| besetzten Polen in Krakau gewesen war. Der hatte China bereist und fand | |
| die, wie er sagte, etwas strenge Entwicklungspolitik, die | |
| Kapitalakkumulation zulasten der Massen, sehr angenehm. Das waren unsere | |
| Quellen! Wir haben damals unsere Eltern gefragt: Was hättet ihr von den | |
| Verbrechen im Nationalsozialismus wissen können? Aber wir selbst wollten | |
| von den Massenmorden und Gewalttaten in China nichts wissen. Das ist doch | |
| erschütternd. Wir hätten viele Details kennen können. Die Zerstörung von | |
| Kirchen und Tempeln, die Unterdrückung buddhistischer Mönche, das ist | |
| 1967/68 alles publiziert worden. Wir hätten es wissen können. Aber es | |
| wollte niemand wissen. | |
| Rutschky: Nein, Herr Aly. Ich war zum Beispiel kein Maoist. Ich war | |
| Antiantikommunist, und China diente gewissermaßen der politischen | |
| Selbstpositionierung in der Bundesrepublik. Das verkennen Sie im Nachhinein | |
| ja völlig. Wir haben doch nicht in China Politik gemacht, wir haben keine | |
| Bücher über China geschrieben. Wir haben gehofft, dass es etwas anderes | |
| gibt als diesen grauenhaften DDR-Sozialismus. Da kriegte man als | |
| Antiautoritäre ja schon an den Grenzübergängen Anfälle. Herr Aly, Sie waren | |
| damals 20 und ich ein bisschen älter. Ich kam aus dem sehr theoretischen | |
| SDS. Und aus dem SPD-Milieu. Und ich kam von unten und hatte auch viel zu | |
| verlieren. | |
| Aly: Es gibt sehr große Unterschiede in unserer Biografie | |
| Rutschky: Ja, und es gab damals nicht nur Maobegeisterung. 1969, als SPD | |
| und FDP die Wahl gewonnen hatten, haben wir - alles Linke - ein Wahlfest | |
| gemacht. | |
| Aly: Frau Rutschky, dass Sie mit ihrer sozialdemokratischen | |
| Familientradition, das Totalitäre nicht mitgemacht haben, ehrt Sie | |
| außerordentlich | |
| Rutschky: Nein. | |
| Aly: Sie müssen mir nicht immer widersprechen. | |
| Rutschky: Doch. Weil Sie mich marginalisieren wollen. Ich bin aber nichts | |
| Besonderes. Ich vertrete 68, und zwar den Großteil der Bewegung und nicht | |
| die Leithirsche. | |
| Aly: Nein. Sie vertreten nicht 68. | |
| Rutschky: Doch. Sie glauben, Sie vertreten 68, weil Sie Schuldgefühle | |
| haben. Weil Sie etwas falsch gemacht haben. | |
| Aly: 85 Prozent der Studenten kamen aus bürgerlichen Elternhäusern. Leute | |
| mit ihrem familiären Hintergrund waren damals innerhalb dieses | |
| Hochschulsystems marginal, Frau Rutschky. Sie gehörten zu einer Minderheit, | |
| die über die SPD-Gewerkschaftsschiene aufgestiegen sind. Die Mehrheit der | |
| Studenten an der Freien Universität waren Krawallschwaben. Sie kamen aus | |
| dem süddeutschen Raum, aus relativ autoritären Elternhäusern. Es waren | |
| regelrechte Repressionsflüchtlinge. Und diese süddeutschen Staaten, die | |
| reformunfähig waren, Bayern, Baden-Württemberg, auch Nordrhein-Westfalen, | |
| haben ihr Rebellionspotenzial in dieses relativ freie, | |
| reformerisch-sozialdemokratisch regierte Westberlin abgeschoben. Sie haben | |
| das Problem ausgelagert. Dafür müssten Sie eigentlich heute noch | |
| Entschädigung an Berlin zahlen. Und dann haben Strauß und Filbinger auch | |
| noch gesagt: "Diese unfähigen Berliner Politiker". Dabei waren die Rebellen | |
| doch Kinder ihrer Klientel. | |
| Welcher Repression sind die denn konkret entflohen? | |
| Aly: Nehmen Sie die Prügelstrafen an Schulen. Wir sind bis ins Alter von | |
| 14, 15 von unseren Lehrern verdroschen worden. | |
| Haben Sie es als Befreiung empfunden, in die Studentenszene Westberlins zu | |
| kommen? | |
| Aly: Ja, sicherlich. | |
| Und was war dann so schrecklich dort? | |
| Aly: Zum Beispiel wie wir Richard Löwenthal gesehen haben. Löwenthal war | |
| Professor in Berlin. Er war in der Weimarer Zeit Kommunist gewesen, hatte | |
| im Nationalsozialismus im Untergrund gekämpft, sich dann vom Stalinismus | |
| abgesetzt, war nach Großbritannien geflohen und kam als Journalist und | |
| später Berater Willy Brandts zurück. Als ich an die Universität kam, habe | |
| ich den nicht wahrgenommen, weil er als rechts galt. Ich rannte zu einem | |
| Mann namens Johannes Agnoli - der uns durchaus erzählte, dass er der | |
| faschistischen Partei in Italien angehört hatte. Verschwiegen hat er uns, | |
| dass er sich 1943 bei der Besetzung Italiens durch die deutsche Wehrmacht | |
| freiwillig über die Waffen-SS zur Wehrmacht gemeldet hat und zwei Jahre in | |
| der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien eingesetzt war. Dieses Faktum hat | |
| er uns verschwiegen. Er hat sich an der Wahrheit entlanggelogen und das | |
| eigentlich Wichtige in seiner Biografie weggelassen. Wolfgang Kraushaar hat | |
| ja gezeigt, wie Agnoli in seiner Parlamentarismuskritik an die | |
| faschistische Parlamentarismuskritik angeknüpft hat. Wir waren da sehr | |
| empfänglich. Frau Rutschky, Sie nicht, weil Sie älter waren und einen | |
| anderen Hintergrund hatten. Aber das sind meine Erfahrungen gewesen - und | |
| das bedrückt mich heute. Es gab an der FU ausgezeichnete Professoren. Etwa | |
| Ernst Fraenkel oder Kurt Sontheimer, der ein großes Buch über | |
| antidemokratisches Denken in der Weimarer Zeit verfasste. Aber all diese | |
| möglichen Lehrer haben uns nicht interessiert. | |
| Aber war denn die Neigung zu dem Exfaschisten Agnoli und die Ablehnung des | |
| Reemigranten Löwenthal typisch? Es gab 1967/68 doch vor allem eine | |
| Wiederentdeckung vertriebener Juden, von Walter Benjamin, Theodor Adorno. | |
| War das nicht das Hauptsächliche? Und es gab 1968 ja auch den | |
| Rehse-Prozess, der mit einem Freispruch endete - für einen Richter an | |
| Freislers Volksgerichtshof. Das hat die Bewegung als Skandal wahrgenommen. | |
| Aly: Ich weiß, ich war bei der SDS-Demo nach dem Urteil dabei. Aber das war | |
| rein funktional. Das war im Rahmen der Justizkampagne des SDS. Es gab da | |
| 3.000 Verfahren gegen sogenannte Krawalltäter. Der SDS wollte Stimmung | |
| gegen die Justiz machen. | |
| Rehse war doch ein Symbol für die Kontinuität der NS-Eliten in der | |
| Bundesrepublik | |
| Aly: Nein. Es ging um die Delegitimierung des Justizapparats, nicht um die | |
| NS-Vergangenheit. | |
| Rutschky: Herr Aly, vom wem sprechen Sie eigentlich? | |
| Aly: Von mir. | |
| Rutschky: Gut. Dann sagen Sie das dazu. Denn es gab eine Tradition der | |
| Beschäftigung mit der NS-Zeit, nicht nur im SDS, sondern in der Linken. | |
| Dazu gehörte der Protest gegen den Rehse-Prozess, dazu gehörte Peter Weiss | |
| Auschwitz-Stück, die Beschäftigung mit dem Auschwitz-Prozess. Ich habe als | |
| Teenager "Nacht und Nebel" von Resnais gesehen. Mich hat das berührt. | |
| Aly: Mich auch. Da sind wir uns einig. | |
| Rutschky: Nein! Das Bewusstsein, das fatale Erbe wachzuhalten, war ein | |
| starkes moralisches Motiv der Achtundsechziger. Das wusste sogar die RAF, | |
| die mit Schleyer einen NS-Täter ermordete. Die RAF wusste, dass dies der | |
| wunde Punkt der Achtundsechziger war, an dem sie uns kriegen konnten. Und - | |
| Sie reden immer von Akten und Texten und von ihren Post-festum-Weisheiten. | |
| Diese Texte haben mich damals nicht besonders interessiert - und sie tun es | |
| heute auch nicht. Ich wollte ja für das Leben studieren. Wir haben | |
| antiautoritäre Erziehung praktiziert. Warum? Weil wir den faschistischen | |
| Charakter beseitigen wollten. Auch bei den Kinderläden stand die | |
| NS-Vergangenheit im Hintergrund. Die Kinderläden gibt es ja heute noch. Das | |
| ist nach wie vor noch ein wunderbares Modell. Das war auch 68. | |
| Aly: Frau Rutschky, ich möchte Sie etwas fragen: Wie war das mit den | |
| NS-Prozessen? An welche Prozesse erinnern Sie sich? | |
| Rutschky: Es gab den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964. Aber ich war nicht | |
| dort. | |
| Aly: Frankfurt dauerte von 1963 bis 1965. Gab es noch welche? | |
| Rutschky: Wissen Sie, es ist mir unangenehm, wie Sie fragen. Es ist auch | |
| unangenehm, wie Sie argumentieren. Das hat was | |
| Aly: Interessant | |
| Rutschky: Sie fragen mich ja nicht nur. Sie insinuieren etwas. Sie haben ja | |
| eine ganze Theorie im Hintergrund. Sie versuchen mit historischen Lektüren | |
| post festum auf der Basis eines schlechten Gewissens ein Fortleben des | |
| Faschismus im deutschen Sozialcharakter nachzuweisen. Das ist | |
| Schuldgefühlsökonomie bis zum Gehtnichtmehr, gestützt | |
| vonTotalitarismus-Verdächtigungen. Unangenehm ist, dass Sie jetzt im | |
| Nachhinein so wahnsinnig schlau sind. Sehen Sie denn nicht, wie jung Sie | |
| damals waren? Und dass die meisten, die bei Agnoli studiert haben, keinen | |
| Schaden an ihrer Seele genommen haben? | |
| Aly: Ich wollte ja nur sagen, dass wir an der FU durchaus ordentliche | |
| Lehrer hatten. Die waren doch diesen Discount-Professoren, die wir als | |
| Studenten später in die Universitäten gehievt haben, hundertfach überlegen. | |
| Rutschky: Sie sind mir zu jesuitisch und inquisitorisch. | |
| Aly: Warum schimpfen Sie eigentlich so auf mich? | |
| Rutschky: Weil das eine wichtige Zeit für mich war. Außerdem waren wir | |
| damals ja nicht nur von morgens bis abends Achtundsechziger. Man war noch | |
| verliebt, hatte Karriereängste und Prüfungsstress. Es war doch nicht so, | |
| dass dauernd die Polizei vor der Tür stand. | |
| Aly: Die Frage ist doch, warum junge Deutsche auf Agnolis | |
| Parlamentarismuskritik, die inhaltlich und lebensgeschichtlich beim | |
| Faschismus anschloss, so abgefahren sind. Und warum wir Mahnungen von | |
| Löwenthal, Dahrendorf und anderen überhört haben. Und warum heute niemand | |
| weiß, dass 1968 das Jahr mit den meisten NS-Prozessen in der Geschichte der | |
| Bundesrepublik und den meisten lebenslänglichen Verurteilungen war. 1968 | |
| enden 30 riesige Prozesse, 23 mit lebenslanger Haftstrafe. 1968 sind an die | |
| 3.000 neue Ermittlungsverfahren neu eröffnet worden. Doch für die | |
| Studentenbewegung war das kein Thema. Es gab kein Teach-in dazu, Sie finden | |
| in keiner linksradikalen Zeitung dazu Artikel. Es wurde öffentlich | |
| verhandelt: über Treblinka, Sobibor, Belzec, Auschwitz, Sachsenhausen. | |
| Täglich stand etwas darüber in der Zeitung. Die Vergasungsversuche durch | |
| das Reichskriminalpolizeiamt wurden thematisiert. Aber die Studenten | |
| interessiert es nicht | |
| Wie erklären Sie sich das? | |
| Aly: Die Bewegung flieht vor der NS-Zeit in ein theoretisches Gebäude und | |
| in den Internationalismus. Und der Internationalismus heißt - deutlich in | |
| der Parole USA - SA - SS -, die Last der deutschen Vergangenheit nach außen | |
| zu exportieren, verdünnt und verallgemeinert, denn es ist überall | |
| Faschismus. Das ist eine Flucht aus der eigenen Nationalgeschichte. Das | |
| machte die Sache attraktiv. Und zwar nicht, weil die Gesellschaft über die | |
| NS-Zeit schwieg - sondern weil sie davon redete. | |
| Rutschky: Herr Aly, Sie wissen, dass es 1968 viele NS-Prozesse gab. Schön - | |
| aber die Justiz konnte doch dieser Schuld nicht gerecht werden. Sie kann | |
| Täter lebenslänglich einsperren - aber das reichte doch nicht. Wir fühlten | |
| uns damals alle schuldig. Wir sind ins Ausland gereist und haben Englisch | |
| gesprochen, weil wir wussten - "Scheiße, wir kommen aus diesem Land". Bei | |
| meiner ersten Auslandsreise mit den "Falken" wurden wir noch angepöbelt. | |
| Ich habe das ja verstanden. Auch wenn wir das als sozialistische Jugend | |
| ungerecht fanden. | |
| Aly: Wenn Sie glauben, Sozialdemokraten hätten prinzipiell mit dem | |
| Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt, irren Sie. | |
| Rutschky: Na, Sie haben ja eine moralische Lupe vorgeschaltet, die ist ja | |
| schon richtig lebens- und menschenfeindlich. Da gibt es nicht den Funken | |
| eines Konsenses zwischen uns. Sie suchen so richtig bösartig nach den | |
| Schuldspuren in der Vergangenheit, und Sie sehen nicht, was 68 in der | |
| Breite bewirkt hat, nämlich eine Grundwelle von Liberalisierung und | |
| Demokratisierung. | |
| Herr Aly, wie kann denn eine, wie Sie sagen, totalitäre Bewegung wie die | |
| Achtundsechziger-Bewegung zu einer kulturellen Liberalisierung führen? | |
| Aly: Durch eine Niederlage. Dafür muss man sich die Geschichte der | |
| Bundesrepublik veranschaulichen. Das Konservative der Adenauer-Republik | |
| nach 1945 war historisch gesehen notwendig. 18 Millionen Männer waren | |
| Soldaten gewesen und haben ganz Europa verwüstet. Sie kamen traumatisiert | |
| zurück, weil ihnen die Gewalt auf die eigenen Köpfe gefallen ist - Gott sei | |
| Dank. Nach diesem Größenwahn musste dieses Volk einfach zur Ruhe gebracht | |
| und gedeckelt werden. Deswegen der Reformstau in der Adenauer-Ära, diese | |
| Bewegungsunfähigkeit. Zwischen den Jugendlichen herrschte nach 1945 ein | |
| enorm gewalttätiges Klima. Es gab einen Sadismus auf dem Schulhof, das | |
| glaubt heute kaum einer mehr. Die Zwischengeneration - die Generation Kohl, | |
| die Wapnewskis und Dahrendorfs - spürten dieses Dumpfe und wollten mehr | |
| liberale Reformen. Die waren am Anfang Sympathisanten der | |
| Studentenbewegung. Selbst Kohl findet in seinen Erinnerungen positive Worte | |
| über die Studentenbewegung. Aber diese Generation Kohl wandte sich 1968 ab, | |
| weil sie merkte: Da steckt etwas Wildes, Totalitäres drin. So wird diese | |
| große Chance verspielt. Die Studenten fielen in den Totalitarismus zurück, | |
| in die Spurrillen unserer Dreiunddreißiger-Eltern, die ja auch schon eine | |
| Studentenbewegung ins Werk gesetzt hatten, die mit ähnlichen Methoden | |
| operierte hatten. Die "Bewegung" - ein widerliches Naziwort - denunziert | |
| die ernsthaften Reformer als "Scheißliberale". Deshalb hat die | |
| Studentenbewegung für die Liberalisierung der Republik eher einen | |
| verlangsamenden Effekt als einen beschleunigenden. | |
| Frau Rutschky, Herr Aly, aus der Distanz betrachtet: Welchen Effekt hatte | |
| 68 für die Republik? | |
| Aly: 1967/68 war Ausdruck einer Gesellschaftskrise der Republik, die | |
| Studenten zeigten die deutlichsten Symptome dieser Krise. Die Gesellschaft | |
| hat sich in dieser Krise erneuert - im Erziehungssystem, im Schulwesen, in | |
| dem, was man unter Pressefreiheit versteht, in der Offenheit der eigenen | |
| Geschichte gegenüber. | |
| Also ist es doch eine Geschichte zum guten Ende hin - angestoßen durch die | |
| Revolte? | |
| Aly: Nein, nicht angestoßen durch die Revolte. Die Revolte war nur das | |
| Symptom. Die Achtundsechziger haben daran keine besonderen Verdienste. | |
| Rutschky: Doch, haben sie. Viele Gesellschaften stecken in Krisen - ohne | |
| dass sich etwas ändert. Es stimmt: Es gab damals eine Mischung aus | |
| politischem Gangstertum und narzisstischem Größenwahn - vor allem bei | |
| Männern. Das hat Gerd Koenen in "Das rote Jahrzehnt" gezeigt. Und | |
| vielleicht ist das noch nicht ganz aufgearbeitet. | |
| Aber die Bundesrepublik brauchte damals - wohl mit allem Wahnsinn am linken | |
| Rand - diese Luft unter die Flügel. Das war die Studentenbewegung. Kann | |
| sein, dass viele für falsche Helden demonstrierten, aber sie haben gezeigt, | |
| dass man überhaupt demonstrieren kann. Die Krise allein hat gar nichts | |
| bewegt. Das haben damals junge Leute gemacht, die sahen, dass man etwas tun | |
| kann: im Bildungswesen, im Umgang der Behörden mit Bürgern, in der Öffnung | |
| des Kleinbürgertums nach außen. Es waren Leute, die später | |
| Bürgerinitiativen gründeten und nicht auf den Staat warteten. Und die keine | |
| Vorhänge mehr vor den Fenstern hatten. | |
| 27 Dec 2007 | |
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