# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Pathos der Verschlechterung | |
> Die linke Kritik hat sich in einem Dilemma verrannt: Entweder Hyperkritik | |
> oder Miserabilismus, lautet heute die Alternative. | |
Bild: Wenn Angela Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnet, dann muss etwas… | |
Wenn Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnet, dann kommt in linken | |
Kreisen sofort die Frage auf: Warum? Warum macht sie das? Was steckt | |
dahinter? Das ist keine wirkliche Frage, sondern ein Verdacht – ein | |
Verdacht, der sich selbst begründet, noch ehe ihm ein Faktencheck | |
nachgereicht wird. Die Grundhaltung lautet: Nichts ist, was es scheint. Es | |
steckt immer etwas anderes dahinter. Und dieses andere ist immer negativ. | |
Was einmal die Edeldisziplin der Linken war, die Ideologiekritik, ist | |
verkommen zu jenem miesepetrigen Generalverdacht, der stets das Schlechte | |
sucht – und es auch findet. Überall. „Miserabilismus“ nennt Thomas Edlin… | |
diese Geisteshaltung in seinem soeben erschienenen Buch: „Der wunde Punkt. | |
Vom Unbehagen an der Kritik“. | |
Es ist dies eine heikle Gratwanderung, denn Kritik war und ist der | |
Königsweg der Linken. Die Kritik kritisieren, das Unbehagen an ihr sammeln | |
– und dennoch seine kritische Position nicht aufgeben, das ist so etwas wie | |
die linke Quadratur des Kreises. Edlinger, österreichischer Radiomann, | |
Festivalleiter und Autor, stellt sich diesem Unbehagen (das natürlich auch | |
sein eigenes ist). | |
Woher rührt es, das Unbehagen? Etwas ist schiefgelaufen mit der Kritik. | |
Diese hat ihren Impetus zur Weltverbesserung verloren: Sie ist zu einem | |
leeren Ritual verkommen, einer „autoritären Besserwisserei“, einer | |
selbstgerechten Feier der eigenen, allerkritischsten Position. Vor allem in | |
jener Form, die Edlinger als „Hyperkritik“ bezeichnet. | |
## Sensorium für Identitäten | |
Hyperkritik – das ist jene Sackgasse, in der eine überbordende | |
Identitätspolitik gestrandet ist. Vor lauter Partikularismen, Minderheiten | |
und Opfersucht (wer ist das größte Opfer?) sei Kritik in einen Strudel | |
geraten, zu einem Fetischismus der Differenz geworden, einer Versteifung | |
auf Unterschiede. Sie hat ihr Sensorium für Identitäten zwar bis zum | |
Maximum verfeinert – aber sich damit als gesellschaftsverändernde Kraft | |
völlig gelähmt. | |
Mehr noch: Diese Form der Kritik hat sich aus einem Einspruch in eine | |
Position der Autorität verkehrt. Aus Kritikern wurden selbstgerechte | |
„Autoritäten des Kritischen“ – eine Hegemonie des kritischen Geistes, der | |
heute eher dazu dient, Karrieren zu befördern, als die Welt zu verbessern. | |
Was bleibt da für den Einspruch übrig? Für diesen ist dann eben nur noch | |
der Miserabilismus zuständig. Ist Hyperkritik ein Heißlaufen der | |
Kritikmaschine, so ist Miserabilismus die Schwundstufe der alten | |
Gesellschaftskritik. | |
## Unmöglichkeit jeglicher Verbesserung | |
Hier verschanzt sich der alte kritische Geist. Der Miserabilismus ist seine | |
letzte Barrikade. Aber wie hat er sich verändert! Aus dem Pathos der | |
Weltveränderung wurde das Pathos der Verschlechterung. Aus dem Glauben an | |
die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Fortschritts wurde der Glaube an | |
die Unmöglichkeit jeglicher Verbesserung. | |
„Wer glaubt, es würde sich zur Abwechslung auch einmal etwas verbessern, | |
ist ein Schaf“, beschreibt Edlinger den miserabilistischen Glauben. Der | |
Generalverdacht ist sein Königsweg. Nichts darf gut sein. Alles, was nur | |
den Anschein einer Wende zum Besseren hat, muss diskreditiert werden. | |
Und wenn Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnet, dann muss, muss, muss | |
etwas Schlechtes dahinterstecken. Wirtschaftliche Interessen sind da noch | |
das Gelindeste. Erst bei Vorstellungen wie: Es ginge darum, „die | |
Bevölkerung auszutauschen“, ein „neues Sklavenheer zu schaffen“ (O-Töne… | |
linken Chatrooms) – erst da ist er bei sich, erst da feiert er seine | |
Höhenflüge, der Miserabilismus. | |
Erst da fühlt er sich als reiner Linker, der Miserabilist – der sich von | |
keiner Hoffnung anstecken lässt. Ein Purismus, der von einer | |
Verschwörungstheorie kaum noch zu unterscheiden ist. | |
Wer zwischen der Skylla der Hyperkritik und der Charibdis des | |
Miserabilismus hindurchwill, wer beiden Sackgassen entgehen möchte – wer | |
also trotz allem kein Zyniker werden möchte, wer sich auch als Linker über | |
die Grenzöffnung freut und dennoch versucht, eine kritische Position zu | |
retten, der lese bei Edlinger nach, ob dieser einen Ausweg findet. | |
22 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Podcast-Guide | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Israel | |
Demokratie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Podcaster über „Wohlstand für alle“: „Kapitalismus ist pure Ideologie“ | |
Der Podcast „Wohlstand für Alle“ dekonstruiert Wirtschaftsmythen. Ein | |
Gespräch mit den Machern über die Inflation und die Aktualität von Marx. | |
Organisationen zur Flüchtlingskrise: Bitte mehr Engagement | |
Die Bahn stellt den Fernverkehr nach Salzburg und Budapest vorübergehend | |
ein. Internationale Organisationen schlagen in der Flüchtlingskrise Alarm. | |
Debatte Pegida: Der zentrale Zündstoff | |
Aufklärung? Es ist angesichts von Pegida an der Zeit, über politische | |
Emotionen zu sprechen. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Die diasporische Lektion | |
Die Erfahrung Israels lehrt: Demokratien brauchen einen pluralistischen | |
Univeralismus. Es gilt, die verschiedenen Identitäten zu verbinden. | |
Essay Identität und Individualität: Wir sind demokratischer als gedacht | |
Die Neuen Sozialen Bewegungen haben ein paradoxes Subjekt hervorgebracht. | |
Das behauptet seine Identität außerhalb festgefügter Gruppen. |