# taz.de -- Pro & Contra: Ist Deutschland jetzt protestantischer? | |
> 20 Jahre nach dem Mauerfall haben die Deutschen eine märkische | |
> Protestantin zum zweiten Mal zur Kanzlerin gewählt. Ist das Barocke des | |
> Südens ein Auslaufmodell? | |
Bild: Später Troumph des Reformators? Mehrfach spiegelndes Lutherbildnis in de… | |
## Ja! | |
sagt Isolde Charim, Philosophin und Publizistin aus Wien | |
Die politische Repräsentation in Deutschland ist heute unzweifelhaft | |
protestantisch geprägt. Das ist wirklich beachtlich. Nicht nur weil | |
Protestantismus und Repräsentation so gar nicht zueinander passen - ist | |
Repräsentationsverweigerung nicht das Markenzeichen von Angela Merkel? Ihr | |
Auftreten hebt sie von allen anderen ab. Von Radaubrüdern wie Sarkozy, | |
Berlusconi oder Putin (alles Männer!), aber auch von ihrem Vorgänger im | |
Kanzleramt. | |
Schröder schien die Figur der hedonistisch befreiten Gesellschaft zu sein - | |
der Lebemann, in dem sich eine vehement genießende Gesellschaft | |
wiedererkennen konnte. Solch eine Figur würde heute aber gar nicht mehr | |
passen. Nicht weil die Gesellschaft zu den protestantischen Tugenden von | |
Askese, Enthaltsamkeit und Disziplin zurückgefunden hätte. Aber mit der | |
Finanzkrise hat sich die Situation radikal verändert. Und wenn diese | |
Veränderung auch noch keine tief greifende mentale Wandlung ausgelöst hat, | |
so gibt es doch - ob subkutan oder explizit - ein weitverbreitetes | |
Verständnis dafür, dass es einer geistigen Erneuerung bedarf. | |
Wir haben also die ungewöhnliche Situation, dass es eine Nichtentsprechung | |
von Bevölkerung und ihrer Repräsentation gibt und dass diese Schere keinen | |
Unmut auslöst. Im Gegenteil: Merkel verkörpert so eine Art | |
"Avantgardefunktion" in Sachen Protestantismus, die die Leute beruhigt. Das | |
zeigt die Zustimmung, die Merkel weit über ihre tatsächliche Wählerschaft | |
hinaus genießt. | |
Steinmeier war ja auch nicht gerade eine Glamourfigur. Es war ein bisschen | |
die Wahl: Wer ist protestantischer? Wer verkörpert besser Pragmatismus, | |
Nüchternheit, Bescheidenheit? Da war die Frau aus dem Osten ihrem | |
Herausforderer tatsächlich überlegen. Der Protestantismus kehrt also als | |
Erbschaft des Kommunismus wieder und stutzt auch so antiprotestantische | |
Figuren wie Westerwelle zurecht. | |
Merkel erfüllt die Sehnsucht nach Strenge und Askese optimal. Denn sie ist | |
der Garant eines stellvertretenden Protestantismus - einer Gesellschaft, | |
die dort noch nicht angekommen sein mag, die aber weiß, dass es genau | |
dessen jetzt bedarf. | |
## Nein! | |
sagt Ralph Bollmann, Leiter des taz-Parlamentsbüros | |
Würde man Historiker nach dem Deutschesten aller Deutschen fragen, fiele | |
die Wahl vermutlich auf Martin Luther. Kein Ereignis hat das Land so sehr | |
geprägt wie die Reformation. Ohne sie keine Glaubensspaltung und blutigen | |
Religionskriege, keine preußische Allianz von Thron und Altar. Mit seiner | |
Abneigung gegen das "welsche" Papsttum, gegen die Globalisierung der | |
römischen Kirche und den frühkapitalistischen Ablasshandel steht Luther für | |
vieles von dem, was später als deutscher Sonderweg oder "Abkehr vom Westen" | |
kritisiert wurde. Allerdings auch für manches, was Modernisierung und | |
Rationalisierung mit sich brachte. | |
Dass die alte Bundesrepublik bis 1990 von katholischen Rheinländern, | |
Pfälzern oder Bayern dominiert wurde, galt vielen als zivilisatorischer | |
Fortschritt. Der konfessionelle Gleichklang erleichterte Konrad Adenauers | |
Politik der Westbindung, während manchem Protestanten die Gründung der | |
Europäischen Gemeinschaft mit Franzosen, Italienern oder Belgiern als | |
ultramontanes Komplott erschien. | |
Nach der Wiedervereinigung löste die These, Deutschland werde nun wieder | |
protestantischer, deshalb auch Ängste aus. Nicht nur bei der CDU um ihre | |
strukturelle Mehrheitsfähigkeit, sondern auch bei Linken und Liberalen. Die | |
vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens, wie sie | |
Jürgen Habermas genannt hatte, schien in Gefahr. Die karge brandenburgische | |
Steppe oder die reformatorischen Kernlande in Sachsen und Thüringen wirkten | |
auf geradezu unheimliche Weise deutsch. | |
Zwanzig Jahre später erweisen sich diese Befürchtungen als kulturalistische | |
Klischees. Angela Merkel regiert so kühl wie ihr katholischer Vorgänger | |
Konrad Adenauer, barock agierten eher die Protestanten Ludwig Erhard und | |
Gerhard Schröder. Auf die konkrete Politik hatte all das wenig Einfluss - | |
nicht einmal auf Wahlergebnisse. | |
Im katholischen Süden verliert die Union rasanter an Zuspruch als im | |
Norden. Und vom antiwestlichen Furor Luthers waren Deutschlands | |
protestantische Kanzler alle so weit entfernt wie ihre katholischen | |
Kollegen. | |
31 Oct 2009 | |
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Israel | |
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