Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Russland geht gegen NGO vor: Noch ein Warnlicht weniger
> Ein Moskauer Gericht löst das Menschenrechtszentrum Memorial auf. Dieses
> vermittle mit Listen politischer Gefangener ein negatives Bild der
> Justiz.
Bild: Das Schwert entscheidet: Das Tor vor dem Moskauer Gericht, in dem das Urt…
Nach der vom obersten Gericht Russlands verfügten [1][Auflösung der
Menschenrechtsorganisation Memorial] vom Vortag hat nun am gestrigen
Mittwoch ein Moskauer Stadtgericht auch dessen Schwesterorganisation, das
Menschenrechtszentrum Memorial, aufgelöst. Beide Organisationen arbeiten
eng zusammen, sind jedoch zwei unterschiedliche juristische Personen. Das
Menschenrechtszentrum hatte nach Auffassung von Gericht und
Staatsanwaltschaft gegen das Gesetz über ausländische Agenten verstoßen und
Terrorismus gerechtfertigt.
Seit 2012 werden in Russland Organisationen, die Gelder aus dem Ausland
beziehen und nach Auffassung der Behörden politisch tätig sind, in ein
Register sogenannter ausländischer Agenten eingetragen. Eine Eintragung in
dieses Register verpflichtet die betroffene Organisation, bei allen ihren
Veröffentlichungen deutlich zu machen, dass sie als „ausländischer Agent“
registriert ist.
Anfang 2013 hatten sich von diesem Gesetz betroffene russische
Organisationen mit einer Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) gewandt, sie sahen diese Einstufung als
diskriminierend. Die Entscheidung des EGMR steht immer noch aus. Die
Anwälte des Menschenrechtszentrums Memorial kündigten an, gegen die
aktuelle Entscheidung Beschwerde einzulegen, berichtete die Rechtsanwältin
Maria Eismont.
JournalistInnen durften dem Gerichtsprozess zum Menschenrechtszentrum
Memorial nicht direkt beiwohnen, sie mussten die Verhandlung über eine
Videoschalte beobachten. Mit der Schließung seiner Organisation, so
Alexander Tscherkassow, der Vorsitzende des Menschenrechtszentrums, wolle
der Staat „das rote Blinklicht abwürgen, das signalisiert, dass etwas nicht
in Ordnung ist“. Auf die Idee, die Probleme selbst zu lösen, käme der Staat
ohne die Arbeit seiner Organisation gar nicht, so Tscherkassow vor Gericht.
## Negatives Bild vom Staat führe zu Depressionen
Der Staatsanwalt bezichtigte das Menschenrechtszentrum einer Beteiligung
an „Protestbewegungen“ sowie einer Missachtung der russischen Verfassung
und Gesetze. Die Organisation vermittle mit seiner Listung von politischen
Gefangenen ein negatives Bild des russischen Justizsystems. Die vom
Menschenrechtszentrum Memorial unterstützten Proteste, so die
Staatsanwaltschaft, beabsichtigten eine Destabilisierung des Landes.
Wiederholt habe es das Menschenrechtszentrum außerdem versäumt, in seinen
Veröffentlichungen darauf hinzuweisen, dass es als ausländischer Agent
eingetragen sei. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft könne ein negatives
Bild vom Staat und die fehlende Kennzeichnung als „ausländischer Agent“ bei
Bürgern zu Depressionen führen.
Außerdem habe das Menschenrechtszentrum Memorial Personen als politische
Gefangene anerkannt, die von den Gerichten als „Extremisten“ und
„Terroristen“ eingestuft worden seien. Dazu gehörten kritische Künstler d…
Gruppe Artpodgotovka, die Zeugen Jehovas und Anhänger der muslimischen
Hizb ut-Tahrir. Damit, so die Staatsanwaltschaft, begünstige man
Extremismus und Terrorismus.
Während sich Memorial International mehr mit historischen Fragen und der
Aufarbeitung von Verbrechen der Stalinzeit beschäftigt, fühlt sich das
Menschenrechtszentrum Memorial für die aktuellen Menschenrechtsverletzungen
zuständig. Unvergesslich sind die Besuche des langjährigen Vorsitzenden des
Menschenrechtszentrums Memorial, Sergei Kowaljow, vor 20 Jahren in
Tschetschenien.
Mehrmals hatte sich Kowaljow mit weiteren Aktivisten des
Menschenrechtszentrums Memorial in das damals von russischen Truppen
beschossene Tschetschenien gewagt. Und die Berichte, mit denen die
Beobachtergruppe von Kowaljow aus dem Kriegsgebiet zurückgekehrt war,
hatten die offiziellen Verharmlosungen des Kriegs in Tschetschenien Lügen
gestraft.
MitarbeiterInnen von Memorial vor Ort berichten bis heute über die Lage der
Menschenrechte in der zu Russland gehörenden Teilrepublik. Es waren
MitarbeiterInnen von Memorial, die über Ehrenmorde in Tschetschenien
berichtet und Gewalt gegenüber Angehörigen von sexuellen Minderheiten im
Nordkaukasus öffentlich gemacht hatten. Durch die Hände von
MitarbeiterInnen des Menschenrechtszentrums Memorial waren Hunderte von
Listen vermisster Opfer der blutigen Auseinandersetzungen in
Tschetschenien, Inguschetien, Armenien, Aserbaidschan, Tadschikistan und
der Republik Moldau gegangen.
## Auch der Westen ist schuld
Wenn Krieg herrschte in einem Gebiet der früheren Sowjetunion, waren immer
auch MitarbeiterInnen des Menschenrechtszentrums Memorial vor Ort. Sie
sammelten und veröffentlichten Informationen, halfen Verwundeten und
Familien von Vermissten. In Zusammenarbeit mit dem Menschenrechtszentrum
Memorial hatte zum Beispiel die Organisation Komitee Bürgerlicher Beistand
Bildungsprogramme für tschetschenische Schulen organisiert.
Auch nach der Schließung von Memorial International und des
Menschenrechtszentrums Memorial denken beide Organisationen nicht daran
aufzugeben. Gegenüber der taz erklärte Jan Ratschinski, Vorsitzender von
Memorial International, man werde gegen das Urteil in der Berufungskammer
des obersten Gerichts Berufung einlegen. „Wir arbeiten erst mal weiter wie
bisher“, so Ratschinski. Außerdem erwäge man einen Schritt zum Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Swetlana Gannuschkina, Vorstandsmitglied vom Menschenrechtszentrum Memorial
und Vorsitzende des Komitees Bürgerlicher Beistand (siehe nebenstehenden
Text), kritisiert aber auch den Westen. „Es ist bedrückend, dass der
Europäische Menschengerichtshof immer noch nicht über die 2013
eingereichte Klage russischer Nichtregierungsorganisationen gegen das
Agentengesetz entschieden hat.“ Dass es überhaupt zur jetzigen Lage
gekommen sei, liege auch an der „feigen und verlogenen Politik des
Westens“, so Gannuschkina.
„Was wir jetzt brauchen, ist sehr viel Solidarität – in Russland und bei
euch im Westen“, sagt Gannuschkina.
29 Dec 2021
## LINKS
[1] /Menschenrechte-in-Russland/!5821939
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Russland
Menschenrechte
Wladimir Putin
Memorial
Schwerpunkt LGBTQIA
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
russische Justiz
Wladimir Putin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ende von Russlands Europarat-Mitarbeit: Desaster für Putins Kritiker
Der Europarat galt selbst im Tschetschenienkrieg als Gesprächskanal. Jetzt
will sich Russland zurückziehen – auch aus der Menschenrechtskonvention.
Russische Organisation Memorial verboten: Kreml reißt die Geschichte an sich
Seit den 80er-Jahren hat die Organisation „Memorial“ Aufarbeitung
sowjetischer Gräueltaten betrieben. Nun wird sie in Russland verboten.
Menschenrechte in Russland: Aus 13 werden 15 Jahre
Ein Gericht erhöht das Strafmaß für den inhaftierten Historiker Juri
Dmitriew. Er hatte zu Opfern Stalin’scher Repressionen gearbeitet.
Russische Großmachtansprüche: Zu wenig Gegenwind
Der lange Arm des russischen Präsidenten Putin reicht nach Armenien,
Aserbaidschan und in die Ukraine. Überall mischt er mit. Und der Westen
schaut zu.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.