# taz.de -- Krieg gegen die Ukraine: Was es heißt, Ukrainerin zu sein | |
> Es ist Krieg. Was das bedeutet? Polina Fedorenko weiß es. Sie ist 22, | |
> kommt aus Kyjiw und schreibt über ihren Alltag, ihre Angst, ihre | |
> Hoffnung. | |
Bild: Kyjiw, 19. April 2023, Unabhängigkeitstag. Menschen gedenken der Gefal… | |
Polina Fedorenko führt seit Beginn des [1][russischen Angriffskriegs] im | |
Februar 2022 regelmäßig Tagebuch für die wochentaz. Die 22-Jährige kommt | |
aus Kyjiw, sie studiert dort Soziologie. Zwischenzeitlich lebte sie in | |
Lviv, nun ist sie zurück in Kyjiw. | |
## Der zehnte Sommer der Angst | |
Für diesen Text wurde ich gebeten, über den beginnenden zweiten | |
Kriegssommer zu schreiben. Eigentlich aber ist es der zehnte Sommer des | |
Krieges. Der zehnte Sommer der Angst und Sorge vieler Ukrainer, dass ihre | |
Angehörigen nicht von der Front zurückkehren. | |
Zu sagen, dies sei der zweite Sommer, würde bedeuten, all jene zu | |
vergessen, die schon vor Beginn des großflächigen russischen Angriffskriegs | |
vermisst und getötet wurden, die damals ihre Häuser verloren haben und die | |
nicht mehr mit ihren Verwandten kommunizieren konnten. Die angefangen | |
haben, Ukrainisch zu sprechen und sich ihrer politischen und kulturellen | |
Identität bewusster wurden – wider das russisch-imperiale System, das die | |
Ukraine als souveränen Staat nicht anerkennt. | |
Ich möchte dem ukrainischen Militär danken: den Soldaten und Soldatinnen an | |
der Front und den Verteidigungskräften, die nachts, während ich schlafe, | |
Drohnen und Raketen abschießen. Ohne all diese Menschen, lebendig und | |
leider auch tot, wäre ich nicht in der Lage, dies zu schreiben. Ich danke | |
euch! | |
## Winter | |
Beginnen muss ich aber mit dem [2][Kriegswinter 2022/23]. Ich erinnere | |
mich, dass, als ich ein Kind war, mal bei Renovierungsarbeiten zu Hause das | |
Licht ausgeschaltet wurde und ich fröhlich durch die Wohnung rannte und | |
Kerzen suchte, um dann mit meiner Mutter, meinem Vater und meiner Schwester | |
am Tisch zu sitzen und bei Kerzenlicht Bratkartoffeln zu essen. Kerzen | |
assoziiere ich mit solchen Abenden oder mit Liebesfilmen, die man bei | |
Kerzenlicht schaute, um eine romantische Atmosphäre zu erzeugen. Kerzen | |
erinnerten mich an Geburtstage, an süße Torten. | |
Erst jetzt, nach diesem Winter, verstehe ich, wie die Menschen vor der | |
Elektrifizierung und der Erfindung der Glühbirne lebten. Die Helle des | |
Tages und die Dunkelheit der Nacht ordneten das menschliche Leben. Mit dem | |
Sonnenuntergang endete der Tag. | |
Mein Tagesablauf ist in diesem Winter abhängig vom Zeitplan der | |
Notabschaltung. Morgens ist es eine Lotterie, ob ich eine Vorlesung über | |
moderne soziologische Theorien besuchen kann oder nicht – ob ich Netz haben | |
werde, um Zoom-Vorlesungen zu besuchen. Der Supermarkt nebenan wirbt für | |
den Verkauf von Stromgeneratoren. Das Geräusch dieses Winters: das Brummen | |
der Generatoren in der Dunkelheit, dazu der Geruch von Benzin. | |
Ich weiß nicht, wie oft ich mich diesen Winter über Elektroautos lustig | |
gemacht habe, die an einer Ladestation aufgeladen werden mussten, die | |
wiederum von einem Generator aufgeladen wurde, der Benzin verbrauchte, um | |
Energie zu erzeugen. Welch ein ökologischer Kreislauf! | |
In den Supermärkten ist es beliebt, sich um die Steckdosen herum zu | |
scharen. Dort laden die Menschen ihre Handys auf. Sie drängen sich mit | |
ihren Ladegeräten und Smartphones zusammen. Plötzlich sammeln sich alle im | |
Supermarkt: Teenager, ältere Menschen, Berufstätige. Den gesamten Winter | |
über gibt es immer wieder Stromausfälle. Der längste dauert zwei Tage. Es | |
beginnt mit Raketenangriffen, dann fallen Licht und Mobilfunk aus. | |
Ich erinnere mich, wie mein jüngerer Bruder Jaroslaw irgendwann keine Lust | |
mehr hat, seine Hausaufgaben bei Taschenlampenlicht zu machen, und mich | |
überredet, eine Kerze anzuzünden. Ich erinnere mich, wie wir in der Küche | |
eine batterienbetriebene Girlande aufhängen, die meine Mutter bestellt hat | |
und die nach ihrem Tod eingetroffen ist. Mit ihren Lichtern erinnert sie | |
uns an sie. | |
Ich erinnere mich an die goldene Regel, dass alle Powerbanks aufgeladen | |
sein müssen. Alle elektronischen Geräte sollen aufgeladen werden, wenn es | |
Strom gibt. | |
Ich erinnere mich, wie meine Schwester Sonya und ich uns auf die Jagd nach | |
Kerzen begeben, weil sie in den Läden in einem Irrsinnstempo weggekauft | |
werden. Die Preise für Taschenlampen, Batterien und elektrische Girlanden | |
sind um ein Vielfaches gestiegen. | |
Ich erinnere mich, dass alle Oberbekleidung mit Reflektoren ausgestattet | |
sein muss und dass man im Dunkeln, wenn man die Straße überquert, die | |
Taschenlampe am Handy einschalten muss, damit die Autofahrer die Passanten | |
sehen. | |
Ich erinnere mich an Nebel und Dunkelheit. Wie beunruhigend das war. | |
Ich erinnere mich, dass ich auf dem Heimweg vom Stadtzentrum auf die Ampel | |
an der Kreuzung schaue, um festzustellen, ob es zu Hause wohl Strom geben | |
würde oder nicht. | |
Da ist aber nicht nur Ungewissheit und Unruhe, da ist auch Entschleunigung | |
und viel Wärme. Ein erzwungener digitaler Detox. Ich muss mich mit mir | |
selbst auseinandersetzen. Und damit, was direkt um mich herum geschieht. | |
Ich habe oft bei Kerzenlicht gelesen. | |
Ich habe oft Bilder von meiner Familie gemalt. | |
Ich spiele Brettspiele mit Jaroslaw und meinem Vater. | |
Ich bin oft in meiner Nachbarschaft herumgelaufen und habe Fotos gemacht. | |
Als ich sie aufnahm, spielte ich mit der Belichtung der Kamera, damit | |
wenigstens etwas auf dem Bild zu sehen war. | |
Es ist auch eine Zeit, in der Freunde von Freunden mir schreiben und mich | |
darum bitten nachzusehen, ob es ihren Verwandten gut geht. In der Stadt | |
wissen wir irgendwie immer, wo es Bombardements gab und welcher Stadtteil | |
gerade ohne Strom und Mobilfunkverbindung ist. Dank dieser Informationen | |
können wir den Leuten sagen, ob ihre Angehörigen wohl in Sicherheit sind. | |
## Der Tod I | |
Der Tod ist für mich eine Frau. Sie ist so vertraut, so nah. Sie war eine | |
Besucherin aller Veranstaltungen, sie war der Subtext. | |
An einem Märzmorgen scrolle ich durch die Beiträge auf Instagram und stelle | |
fest, dass dort ein Nachruf nach dem anderen auftaucht, geliebte Menschen, | |
Geschwister, Eltern, Kinder von jemandem, den ich persönlich kannte. Jede | |
weitere Geschichte scheint ein Messer in mein Herz zu stoßen und Schmerz zu | |
verursachen. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den die | |
Person empfindet, für die der oder die Gestorbene die Welt bedeutete. | |
[3][Auf dem Maidan] gibt es einen Ort, an dem folgender Satz zu lesen ist: | |
„Stellen Sie hier eine Flagge hin, wenn Sie jemanden kennen, der im | |
russisch-ukrainischen Krieg gefallen ist.“ Ich vermeide es, an diesem Ort | |
vorbeizugehen, denn die Zahl der Fahnen wächst exponentiell, die Zahl der | |
toten Ukrainer wächst exponentiell. | |
In der Kiew-Mohyla-Akademie, wo ich studiere, findet eine Abschiedsfeier | |
für einen Studenten der Militärphysik statt, der zwei oder drei Jahre | |
jünger war als ich. | |
In der Gedenkstätte, die an die ukrainischen Getöteten seit 2014 erinnert, | |
bin ich jedes Mal, wenn ein Gesicht auftaucht, das jünger ist als ich, | |
voller Hass auf die Russen. | |
Eines hat mich der allgegenwärtige Tod gelehrt: die Kommunikation mit | |
Menschen nicht aufzuschieben. Der Gedanke, dass einer von uns das nächste | |
Treffen nicht mehr erleben wird, bestimmt das soziale Leben. Ich sage einer | |
Person nun öfter, dass sie mir sehr wichtig ist und ich gerne Zeit mit ihr | |
verbringe. Solange ich es ihr noch sagen kann. | |
## Der Tod II | |
Der Tod relativiert, verkleinert andere Probleme. Eine schlechte Note in | |
einer Prüfung? Macht nichts; Hauptsache, ich lebe noch. Streit mit Papa? | |
Auch kein großes Problem, denn ich lebe und er lebt, und wir können wieder | |
miteinander reden. Der Körper ist müde und wund? Hah, ich habe einen | |
Körper, der weh tun kann, weil er lebendig ist. | |
Manchmal will ich nicht leben. | |
Weil es so weh tut, dass ich schreien, mit den Fäusten gegen die Wand | |
schlagen und ununterbrochen weinen möchte. | |
Manchmal möchte ich tot sein, damit ich das nicht spüren muss. | |
Es ist interessant, dass wir als Gesellschaft nach und nach lernen, den Tod | |
nicht zu tabuisieren und ihm einen Platz in unserem Leben einzuräumen. In | |
Lviv sprach ich darüber neulich mit Olja, die ihren Vater 2014 in der | |
Schlacht von Ilowaisk verloren hat. Sie verglich ihre Erfahrungen mit dem, | |
was sie jetzt beobachtet: Menschen, die jemanden in diesem Krieg verloren | |
haben, wollen den Schmerz nicht allein ertragen müssen, sie verschanzen | |
sich nicht in ihren Häusern. Im Gegenteil, der Schmerz ist ein Anlass, sich | |
mit anderen zusammenzuschließen und gemeinsam zu trauern. Die Gemeinschaft | |
zu stärken. | |
Der Tod ist keine einsame Erfahrung mehr. | |
Vor einigen Wochen wurde in Lviv ein Restaurant mit dem Namen Republic of | |
the Garden eröffnet. Es ist das dritte Projekt des Lemberger Gastronomen | |
Dmytro Pashchuk. Es wurde schon von dessen Freundin Hanusia fertiggestellt, | |
weil Dmytro im März an der Front gefallen ist. Nun ist es ein Ort der | |
Erinnerung. Die gesamte Wand ist mit Fotos von Dmytro mit seiner Freundin, | |
seinen Freunden und seiner Familie bedeckt. | |
An einem anderen Tag besuchen wir die Gedenkstätte der Himmlischen Hundert. | |
Das ist ein kleiner Gartenplatz auf einem Hügel, von dem aus man die Dächer | |
von Lviv und wunderschöne Sonnenuntergänge sehen kann. | |
Der Ort verbindet die Erinnerung an den Tod der Helden mit dem Leben, | |
verwebt die Geschichte der Revolution der Würde mit dem Leben der jungen | |
Menschen, von denen viele zu jung waren, um an der Revolution teilzunehmen. | |
Für mich geht es an diesem Ort um das Leben nach dem Tod eines wichtigen | |
Menschen. Ich möchte, dass es noch mehr Gedenkstätten gibt, damit wir uns | |
daran erinnern, was der Preis ist für die Freiheit, Ukrainer zu sein. | |
## Eine Geschichte über die Zivilgesellschaft | |
Anfang des Jahres sah ich, dass das Kyjiwer Filmfestival DocuDays | |
Freiwillige für sein Festival suchte. Ich bewarb mich, ohne groß | |
nachzudenken. Ich interessiere mich eigentlich nicht für Dokumentarfilme, | |
aber die DocuDays haben mir gezeigt, dass Dokumentarfilme nicht nur über | |
Wildtiere, sondern auch über soziale Bewegungen, Veränderungen und | |
Revolutionen berichten können. Dass Filme ein gutes Mittel sind, um sich | |
für Menschenrechte einzusetzen. Das Thema der 20. DocuDays lautet „Image of | |
the Future“. Es werden Filme gezeigt, die sich mit der Erfahrung des | |
Krieges und der Zukunft nach dem Krieg in anderen Ländern befassen. Für die | |
Ukraine ein immer wichtigeres Thema. | |
An diesem Wochenende ist ein Vorbereitungstraining für uns Freiwillige. Ich | |
fühle mich erfüllt und inspiriert. Ich bin so froh, dass es Menschen gibt, | |
die bereits über die Ukraine der Zukunft nachdenken, über die | |
Herausforderungen, die bereits aufgetreten sind und erst noch auftreten | |
werden. Darüber, wie wir schon jetzt an Lösungen arbeiten können. | |
## Die Gesellschaft und der Krieg | |
Der Krieg ist für die Ukrainer nicht neu, aber im zweiten Jahr des | |
Angriffskrieges hat er erhebliche Auswirkungen auf den psychischen Zustand | |
aller Einwohner der Ukraine. Während der DocuDays-Schulung erwähnte jemand | |
die Adrenalinsucht, die die Bewohner der Städte an der Front und der | |
Städte, die am häufigsten von russischen Luftangriffen getroffen werden, | |
entwickeln können. | |
Es klingt seltsam, aber ich merke, wie mein Angstpegel ansteigt, wenn es | |
lange Zeit, 5 bis 6 Tage, keinen Luftalarm gibt. Es ist merkwürdig: Wenn | |
es Luftalarm gibt, gibt es Explosionen, die mit Stress und Adrenalin | |
verbunden sind, aber wenn es keinen gibt, fühlt es sich an, als ob etwas | |
schiefliefe. | |
Viele von uns haben Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ich | |
erinnere mich daran, wie ich mich vergangenes Jahr, als ich nach Lviv zog, | |
krank fühlte und jedes Mal erstarrte, wenn ich Verkehrsgeräusche auf dem | |
Kopfsteinpflaster hörte – weil es sich wie der russische Raketenwerfer | |
BM-21 anhörte. Jetzt habe ich große Angst vor lauten Geräuschen, Blitzen, | |
Signalen. Ich versuche sofort, die Quelle des Geräuschs zu finden und | |
sicherzustellen, dass es keine Gefahr für mich darstellt. | |
Am letzten Maiwochenende herrscht die ganze Nacht über Fliegeralarm. Ich | |
schlafe wie eine Tote, das ist meine Superkraft. Ich schlafe zum Klang von | |
Explosionen und Sirenen. Als ich am Morgen danach zur Freiwilligenschulung | |
komme, sprechen wir darüber, wie wir die Nacht überlebt haben. | |
Es gibt Leute wie mich, die friedlich zu den Geräuschen der Luftabwehr | |
schnarchen, und es gibt Leute wie meinen Freund, die bis zum Morgen nicht | |
einschlafen können. Nur noch wenige begeben sich auf den Flur oder in den | |
Schutzraum. Wir sind uns alle einig, dass es besser ist, in seinem eigenen | |
weichen Bett im Schlaf zu sterben als auf dem harten Flurboden. | |
## Aktuelle Herausforderungen | |
Es gibt viele Themen, die durch die russische Invasion in den Vordergrund | |
gerückt sind. Eines ist die gleichgeschlechtliche Partnerschaft. | |
Darüber wird schon seit Langem diskutiert, aber jetzt ist sie aktueller | |
denn je. Gegenwärtig umgehen gleichgeschlechtliche Paare die gesetzlichen | |
Beschränkungen, so gut es geht: Sie schließen Scheinehen mit Verwandten | |
oder Freunden des Partners, schreiben die Eigentumsverhältnisse um und so | |
weiter. | |
Eine nicht eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft bedeutet, dass | |
im Falle des Todes eines der Partner der andere nicht Erbe sein kann und | |
nicht das Recht hat, über die Bestattung des Leichnams seines geliebten | |
Menschen zu entscheiden. Das bedeutet auch, dass der Partner im Falle einer | |
schweren Verletzung keine Entscheidungsbefugnis in Bezug auf | |
Wiederbelebungsmaßnahmen hat. | |
Ein neues Gesetz, das gleichgeschlechtliche Partnerschaften erlaubt, wird | |
nun zum zweiten Mal von der Regierung geprüft. Beim ersten Mal wurde es mit | |
dem Argument abgelehnt, dass niemand weiß, wie viele Vertreter der | |
LGBTQI+-Gemeinschaft an der Front sind und ob dieses Gesetz relevant ist. | |
Ein weiteres Thema: der Zugang zu Eizellen und Samenbanken. Wenn Menschen | |
ihr Erbgut in Eizellen- und Samenbanken lagern, wird das vom Staat | |
gefördert. Es gibt viele Fälle, in denen ein Paar Kinder haben möchte und | |
Angst hat, dass der Partner an der Front stirbt. In solchen Fällen gibt der | |
Mann sein Sperma zur Aufbewahrung und unterschreibt eine notariell | |
beglaubigte Erlaubnis für seine Frau, das Sperma nach seinem möglichen Tod | |
zu verwenden. Auf diese Weise kann die Witwe gemeinsame Kinder mit dem | |
verstorbenen Ehemann bekommen. | |
Ein dritter Punkt ist die Tatsache, dass Frauen auch im Militär sind. Wenn | |
wir über das Militär sprechen, denken wir immer noch an Männer. Dabei ist | |
jeder dritte ukrainische Soldat eine Frau. Früher kam es häufig vor, dass | |
eine Frau im Militär nicht als Frau im Militär registriert war und ihre | |
Position als Köchin, Näherin oder Buchhalterin angegeben wurde. | |
Seit 2016 können Frauen Kampfpositionen bekleiden und es gibt bereits | |
Statistiken über die Anzahl der Frauen in der ukrainischen Armee. Frauen im | |
Militär sind mit vielen Problemen konfrontiert, die für die Gesellschaft | |
nicht sichtbar sind – die Uniformgröße, die Schuhe, der Mangel an | |
Hygieneartikeln. | |
In dem Film „Die Vision eines Schmetterlings“ wird ein weiteres konkretes | |
Risiko für Soldatinnen dargestellt: in Gefangenschaft zu geraten und | |
sexuelle Gewalt zu erleben. Beides wird auch Männern angetan. Aber Frauen | |
droht bei Vergewaltigung zusätzlich die Gefahr einer ungewollten | |
Schwangerschaft. | |
## Eine kleine Schlussfolgerung | |
Der Krieg beendet das Leben nicht. Er verkompliziert es, er fügt Schmerz, | |
fügt Tiefe und Bewusstsein hinzu. Der Krieg bringt Klarheit darüber, was | |
für mich wirklich wichtig ist: Menschen – und meine beiden Katzen. | |
Nachdem meine Mutter kürzlich an Krebs gestorben ist, kehrte ich nach Kyjiw | |
zurück. Ich habe den Verlust gleich auf mehreren Ebenen erlebt: Ich verlor | |
meine Mutter und ich verlor auch mein Alltagsleben, das ich mir in Lviv | |
aufgebaut hatte. Ich hatte keine engen Freunde in Kyjiw, weil sie alle ins | |
Ausland oder in andere Städte gezogen waren. | |
Meine engsten Freunde wurden meine Katze Sara (die vor ein paar Tagen auch | |
gestorben ist) und mein jüngerer Bruder Jaroslav, mit dessen Augen ich die | |
Blackouts als ein großes, aufregendes Abenteuer wahrnahm. Aber ich hatte | |
auch meine Studentengruppe, mit der wir einen Tag pro Woche offline in der | |
Bibliothek lernten. Jeden Donnerstag versammelten wir uns an einem großen | |
Tisch in der Bibliothek und hörten uns gemeinsam ein Thema zur Datenanalyse | |
an. | |
Diese Zusammenkünfte haben uns zu Freunden gemacht. Wir diskutieren über | |
die Nachrichten, betrachten die Welt mithilfe der soziologischen Theorien, | |
die wir studiert haben, reden über Zukunftspläne und das Leben, wir machen | |
Ausflüge. Unter uns sind Stadtplaner, die sich auf den Wiederaufbau von | |
Städten vorbereiten, und Aktivisten, die sich für die Rechte der | |
LGBTQI+-Gemeinschaft engagieren, sowie ein Militäroffizier von der | |
Territorialverteidigung, der mit uns in eine Bar geht und über die | |
Mechanismen der Räumung der Regionen Donezk und Luhansk diskutiert. | |
Ich liebe diese Menschen. Ich liebe meine Freunde in Lviv, die gerade ihr | |
Studium abschließen. Ich bin stolz auf sie. Ich liebe die Menschen, mit | |
denen ich während des Kyjiwer Dokumentarfilmfestivals zusammengearbeitet | |
habe. | |
Dies ist die Art von Leben, für die unsere Soldaten und Soldatinnen | |
kämpfen. Wir denken jeden Tag an sie. Ich bin all den Menschen dankbar, die | |
die Ukraine zu dem Land machen, in dem ich leben möchte. | |
Aus dem Englischen: Jens Uthoff | |
18 Jun 2023 | |
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