| # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Drohung mit den Wassermassen | |
| > Die russischen Besatzer warnen vor der möglichen Zerstörung des | |
| > Kachowka-Staudamms. Zeugen berichten von „Evakuierungen“ der Bevölkerung. | |
| Bild: Russische Soldaten auf dem Kachowka-Staudamm | |
| Bewohner der Dörfer um die russisch besetzte Stadt Cherson erhalten seit | |
| dem 18. Oktober Bekanntmachungen wie diese auf ihre Mobiltelefone: „Es | |
| eilt! Bezirksverordnung! Die Evakuierungslisten müssen eingereicht werden. | |
| Sie werden mit Bussen nach Russland gebracht. Informieren Sie auch Ihren | |
| Nachbarn. Alle müssen auf die Straße kommen!“ | |
| Ein Einwohner des Dorfes Mykilske, etwa 20 Kilometer nordöstlich von | |
| Cherson, erzählt, wie jeden Morgen die Besatzer ins Dorf kommen und alle | |
| Bewohner auffordern, so schnell wie möglich ihre Sachen zu packen, um nach | |
| Russland evakuiert zu werden. „Denen, die das nicht wollten, drohte man mit | |
| Erschießung. Bald würden hier die ukrainischen Streitkräfte kommen und auf | |
| alle Menschen schießen und Granaten in Wohnhäuser werfen, sagten die | |
| Russen.“ | |
| Am Morgen des 18. Oktober dementierten die russischen Besatzer noch | |
| Berichte, wonach die Bewohner des rechten Dnipro-Ufers der Region Cherson | |
| evakuiert worden seien. Die eilig organisierte massenhafte Ausreise von | |
| Kindern und Erwachsenen sei „keine Evakuierung, sondern einfach eine | |
| Urlaubsreise ans Meer“. | |
| Kyrylo Stremusow, stellvertretender Leiter der Besatzungsverwaltung in der | |
| Region Cherson, verkündete: „In Richtung Cherson ist alles unverändert, es | |
| gibt keinen Grund zur Panik.“ Auch gebe es keine groß angelegte Offensive | |
| der ukrainischen Truppen. Aber schon am Abend desselben Tages verkündete | |
| er, dass „die Schlacht um Cherson bald beginnen wird“, und rief alle | |
| Bewohner des rechten Ufers einschließlich der Stadt Cherson auf, sich „in | |
| Sicherheit“ zu begeben. | |
| ## Russische Soldaten suchen Netz | |
| Doch nicht nur am rechten Ufer, auch am linken Ufer des Dnipro organisierte | |
| die Besatzungsverwaltung von Nowa Kachowka die Evakuierung. Ein Einwohner | |
| der Stadt Beryslaw erzählt, dass ungefähr am 17. Oktober in der Stadt | |
| plötzlich fast alle Besatzungseinrichtungen zugemacht wurden: die Post, die | |
| Stelle, wo die russischen „Renten“ und „Sachbeihilfen“ ausgezahlt wurde… | |
| und die russische Bank. Auch das russische Mobilfunknetz und das russische | |
| Internet verschwanden. Russischen Soldaten liefen durch die ganze Stadt und | |
| fragten die Einwohner, wo sie telefonieren und ihre SIM-Karten aufladen | |
| könnten. Die Russen hätten auch ihr Militärhospital aus Beryslaw und ein | |
| Feldlazarett aus dem nahegelegenen Dorf Kostyrka evakuiert, so der | |
| Augenzeuge. | |
| Wohin genau die Menschen aus dem Gebiet Cherson gebracht werden und wie | |
| lange diese „Evakuierung“ noch andauert, erfährt man nicht. Während die | |
| Russen anfangs noch von Reisen auf die Krim gesprochen haben, nennen sie | |
| jetzt zunehmend den Schwarzmeerkurort Anapa in der russischen Region | |
| Krasnodar als Ziel. | |
| Dies wird durch zahlreiche Berichte im russischen Fernsehen bestätigt. Dort | |
| heißt es, dass die „evakuierten“ Einwohner aus Cherson von den russischen | |
| Behörden Wohnungszertifikate erhalten und vollständig in das | |
| „wirtschaftliche und soziale Leben der Region Krasnodar“ integriert werden. | |
| Eltern, die ihre [1][Kinder] während der ersten Phase der | |
| „Nicht-Evakuierung“ in die „Ferien auf der Krim“ geschickt haben, erfah… | |
| nun, dass ihre Kinder nicht zurückkommen. | |
| Die Angst vor der Evakuierung hat in der Region Cherson dazu geführt, dass | |
| mehr Menschen in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete ausreisen | |
| wollen. Aber der Weg in die Freiheit ist versperrt. Zum 1. Oktober haben | |
| die Besatzer ein „Genehmigungssystem“ eingeführt. Mit den dafür erteilten | |
| Bescheinigungen kann man noch über einen einzigen Kontrollpunkt im Gebiet | |
| Saporischschja ausreisen. Viele Menschen müssen dort aber mehr als zwei | |
| Wochen auf eine Weiterreise warten. Solange schlafen sie, wo es sich gerade | |
| ergibt: auf den Feldern, bei fremden Leuten in den Dörfern der Umgebung des | |
| „Kontrollpunktes“. Nur wenigen gelingt die Ausreise. | |
| Als einen der Hauptgründe für die „Evakuierung“ der Menschen nennen die | |
| Besatzer die Gefahr durch die mögliche Sprengung der Kachowka-Staumauer des | |
| Wasserkraftwerks in Nowa Kachowka. Sie schreiben diese Absichten den | |
| ukrainischen Streitkräften zu. Dabei waren es russische Soldaten, die das | |
| Kraftwerk selber bereits im April vermint hatten. Dies wurde bereits im | |
| Frühjahr von der Hauptnachrichtendirektion des ukrainischen | |
| Verteidigungsministeriums berichtet und von zahlreichen Zeugen in Nowa | |
| Kachowka bestätigt. Im Sommer haben dann die Besatzer die Uferzone um das | |
| Kraftwerk weiter vermint und befestigt. | |
| Am 22. Oktober teilte die Besatzungsverwaltung von Nowa Kachowka mit, dass | |
| damit begonnen wurde, Wasser aus dem Kachowka-Stausee abzulassen, „um den | |
| Schaden im Falle einer Zerstörung des Kraftwerks zu minimieren“. Bereits im | |
| Mai hatten die Besatzer Wasser aus dem Stausee abgelassen. Dies führte | |
| damals zur Überflutung eines Strandes in Nowa Kachowka, zum Anstieg des | |
| Wasserspiegels des Flusses Konka und zur Überflutung von | |
| Wochenendgrundstücken in der Nähe von Cherson. | |
| Sollten die russischen Besatzer beschließen, das Wasserkraftwerk Kachowka | |
| zu sprengen, wird dies nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodimir | |
| Selenski zu einer Großkatastrophe und zur Überflutung von mehr als 80 | |
| Ortschaften im Chersoner Gebiet einschließlich der Stadt Cherson führen. | |
| Wegen dieser Überflutungsgefahr also, so erklären es die Besatzer immer | |
| wieder, sollen die Menschen der rechtsufrigen Gebiete „evakuiert“ werden. | |
| Dabei stellt die Zerstörung der Staumauer des Wasserkraftwerks für sie | |
| keine Bedrohung dar: Das rechte Ufer ist höher gelegen. Die niedrig | |
| gelegenen Siedlungen am linken Ufer der Region Cherson könnten tatsächlich | |
| betroffen sein, Experten schätzen das Ausmaß der möglichen Katastrophe dort | |
| jedoch wesentlich geringer ein. | |
| ## AKW Saporischschja betroffen | |
| „Die Stadt Nowa Kachowka selbst wurde damals zusammen mit dem Bau des | |
| Wasserkraftwerks Kachowka geplant, und die sowjetische Führung hatte ein | |
| solches Szenario mitbedacht. Sollte der Staudamm gesprengt werden, droht | |
| wirklich eine Überschwemmung, allerdings nur in den Parkanlagen am | |
| Flussufer. Genau aus diesem Grund gab es dort auch nie große Bauprojekte. | |
| Auch in Teilen der in Ufernähe gelegenen Arbeitersiedlungen in Nowa | |
| Kachowka kann es zu Überschwemmungen kommen“, erklärte Tetjana Jewsejewa, | |
| Vorsitzende der Nowokachowker Gesellschaft für den Schutz des Nationalen | |
| Erbes und Mitglied des Stadtrates von Nowa Kachowka. Ihrer Meinung nach | |
| ist es unwahrscheinlich, dass die Städte am linken Dnipro-Ufer der Region | |
| Cherson überflutet werden. | |
| Folgen hätte ein solcher Terroranschlag vor allem für das [2][Atomkraftwerk | |
| Saporischschja], dem durch eine Sprengung des Staudamms und das Ablassen | |
| von Wasser aus dem Kachowka-Stausee Kühlwassser fehlen könnte. In diesem | |
| Fall wäre es schwierig, das AKW wieder in Betrieb zu nehmen. Der | |
| Pressedienst des ukrainischen Energieversorgers Energoatom erklärte, er | |
| prüfe derzeit die möglichen Folgen für das AKW Saporischschja, falls | |
| Russland beschließen sollte, das Wasserkraftwerk Kachowka zu sprengen. | |
| Aus dem Russischen: Gaby Coldewey | |
| 23 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oleh Baturin | |
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