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# taz.de -- Cherson nach Zerstörung des Staudamms: Erst Bomben, jetzt Wasser
> In der Region Cherson steigt nach dem Dammbruch am Dnipro-Fluss der
> Wasserpegel. Eine Katastrophe bahnt sich an.
Bild: Überwältigt von der Flut: Eine Einwohnern von Cherson bahnt sich ihren …
Heute ist der schwärzeste Tag in der Geschichte von Nowa Kachowka“, sagt
Wolodimir Kowalenko. „Das Wasserkraftwerk Kachowka, dank dem unsere Stadt
gegründet wurde, ist völlig zerstört“, so der Bürgermeister des Ortes.
Am Dienstag gegen 2.30 Uhr ist der Damm des Wasserkraftwerks Kachowka in
der südukrainischen Region Cherson gebrochen, das Kraftwerk selbst ist
vollständig zerstört. Aus dem Kachowka-Stausee bahnten sich Wassermassen
ihren Weg zu den flussabwärts gelegenen Siedlungen.
Insgesamt 80 Siedlungen sind von der Überschwemmung betroffen, bislang
stehen laut offiziellen Angaben 600 Häuser unter Wasser. Rund 16.000
Menschen gelten als direkt gefährdet. Die ukrainischen Behörden der Region
kündigten umgehend die Evakuierung der Bevölkerung aus der Stadt Cherson
und den angrenzenden Küstendörfern an. Dort ist man sicher: Die russische
Armee hat den Damm gesprengt.
Bewohner*innen von Nowa Kachowka berichten, dass sie am Vorabend der
Explosion einen ungewöhnlichen Aufmarsch von russischem Militär rund um das
Wasserkraftwerk und in den nahegelegenen Siedlungen beobachtet hätten.
## Wie ein Kartenhaus zusammengebrochen
Auch Kraftwerksmitarbeiter behaupten, dass die russische Armee einen Teil
des Staudamms und den Maschinenraum gesprengt hätten. Dadurch sei die
Konstruktion wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Bereits im Herbst 2022
hätten die Besatzer mit der Verminung der Kraftwerksanlagen begonnen. Im
November, als sie sich aus der Stadt Cherson zurückzogen, sollen sie einen
Teil der Brücke über den Staudamm gesprengt haben.
„Bis 11 Uhr waren 16 Tore des Kraftwerks, das Verwaltungsgebäude und ein
Erddamm zwischen dem Wasserkraftwerk und der Kachowka-Schleuse zerstört –
die Anlage kann nicht wieder instand gesetzt werden“, präzisiert Ihor
Syrota, Generaldirektor des Unternehmens Ukrhydroenergo, das Ausmaß der
Zerstörung. Am Dienstagmorgen wurde im Kachowkaer Stausee ein Sinken des
Pegelstandes mit 16 Zentimetern pro Stunde beobachtet. Nach vorläufigen
Prognosen werden in den kommenden vier Tagen die ersten Folgen der
Katastrophe im Wasserkraftwerk ihren Höhepunkt erreichen.
Vertreter der Besatzungsbehörden der Region Cherson hatten zunächst
Informationen über die Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka dementiert.
Wenig später räumte der Leiter der von Russland eingesetzten Verwaltung in
Nowa Kachowka, Wolodimir Leontjew, die Zerstörung des oberen Teils des
Wasserkraftwerkes ein. Am Dienstagmittag rief Leontjew den „örtlichen
Ausnahmezustand“ aus. Kurz darauf meldeten russische Telegramkanäle dann
doch die Vorbereitung zur sofortigen Evakuierung der Bevölkerung in den
Gemeinden Nowa Kachowka, Hola Prystan und Oleschky, „aufgrund eines
plötzlichen Anstiegs des Wasserstandes“.
In den befreiten Gebieten am rechten Ufer des Dnipro hatten die Behörden
bereits Dienstagmorgen um 6 Uhr 45 Uhr die Evakuierung der Bevölkerung
angeordnet. Mittags waren aus der Stadt Cherson bereits mehr als 800
Menschen, aus dem Dorf Tjahynka 20 Menschen evakuiert worden. In allen
Gemeinden rechts des Dnipro wurden Evakuierungs- und
Katastrophenschutzzentren eingerichtet. In der Stadt Cherson selber war der
Wasserstand bereits um 2 Meter gestiegen – der Leiter der Chersoner
Militäradministration Oleksandr Prokudin erwartet, dass der Wasserstand
hier auf 3 Meter ansteigen könnte.
## Maschinenöl fließt in den Fluss
Und das hat einiges zur Folge: Nach Informationen aus dem Büro des
ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski sind durch die Zerstörung des
Wasserkraftwerks Kachowka bereits mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den
Fluss Dnipro gelangt, mehr als 300 Tonnen könnten noch folgen.
Andernorts werden hingegen sinkende Pegel gemeldet. Einwohner*innen des
Gebietes Cherson melden bereits einen sinkenden Wasserstand im
Nord-Krim-Kanals. Sie berichten von ständigen Explosionen von Sprengkörpern
entlang dem gesamten Kanalufer: Ein Grund könnten die nun explodierenden
Minen sein, die das russische Militär überall verteilt hatte.
Am rechten Dnipro-Ufer, dem von der Ukraine zurückeroberten Gebiet,
berichten Einwohner*innen zudem von überfluteten Gullys. „Bei uns
riecht es überall nach Ruß und Schlick“, erzählte eine Bewohnerin des
Dorfes Dniprjany. Sorgen machen sich die Menschen der Region über die
Situation im Atomkraftwerk Saporischschja, das von einem ausreichend hohen
Wasserstand im Kachowkaer Stausee abhängig ist.
Befürchtungen dieser Art teilt auch Ihor Pylypenko, Professor für
Geographie an der Staatlichen Universität Cherson. Ihm zufolge könnten die
Abschaltung des Kernkraftwerks Saporischschja und ein Wassermangel in den
trockenen Regionen der Gebiete Cherson und Saporischschja drohen.
Mindestens 400.000 Menschen im Süden der Ukraine hätten keine
Trinkwasserversorgung mehr, wären ohne Bewässerungsmöglichkeiten ihrer
Felder.
## Angst vor Nahrungsmittelknappheit
Trockenheit oder komplette Überschwemmung – die verheerenden Folgen des
Dammbruchs sind schon jetzt erkennbar: „Das Unternehmen Nibulon, einer der
größten Getreideproduzenten in Europa, wurde überflutet“, sagt die
Chefredakteurin der Zeitung Ukrainskiy Pivden, Lidija Prigorewa. “Das
Wasser kam plötzlich und schnell, aber Experten haben uns gesagt, dass eine
riesige Welle, die den Menschen Angst macht und die es bereits im Jahr 1941
gab, nicht kommen wird“, fügt sie hinzu.
Prigorewa spricht von Flüssen, die nun wieder auftauchen, nachdem Menschen
jahrzehntelang auf deren trockenen Betten gelaufen waren. Noch herrscht in
der Stadt keine Panik, aber viele Einwohner*innen haben angefangen zu
hamstern, vor allem diejenigen, die in den oberen Stockwerken leben.
Zu den Aufgaben der Behörden gehört neben den Evakuierungen auch die
Überwachung von Gebäuden, um mögliche Plünderungen zu verhindern. Ein
weiteres Problem sind Tiere in Gefangenschaft, die sich möglicherweise
nicht selbst befreien können. Die Polizei hat deshalb dazu aufgerufen,
Tiere zu retten – von ihren Ketten und aus ihren Käfigen zu befreien und,
wenn möglich, mitzunehmen. Videos von Bibern auf der Straße machten auf
sozialen Netzwerken die Runde.
In einer offiziellen Stellungnahme äußerte sich am Dienstag die
Regionaldirektorin für Eurasien des Internationalen Komitees vom Roten
Kreuz, Ariane Bauer, zur Notlage vor Ort. “Die Überschwemmungen lassen
Zehntausende in einer katastrophalen humanitären Lage. Schäden an
kritischer Infrastruktur können ganze Gemeinden in Verzweiflung stürzen.
Das humanitäre Völkerrecht kann entscheidenden Schutz bieten, aber nur,
wenn die Staaten ihren rechtlichen Verpflichtungen nachkommen“, sagte
Bauer.
## Hilfe über überschwemmte Straßen
In Koordination mit dem Ministerium für Infrastruktur der Ukraine, mit der
Chersoner Militäradministration und dem Gouverneur des Gebiets Cherson
haben NGOs, die seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der
Ukraine humanitäre Hilfe verteilen, eine gemeinsame Hilfsmission in der
überfluteten Gegend gestartet. Eine dieser zivilgesellschaftlichen
Organisationen ist die US-amerikanische Global Empowerment Mission (GEM).
Einen Tag vor der Zerstörung des Staudamms von Nowa Kachowka hatte die NGO
zufällig eine ihrer zehn Verteilungsgruppen in benachbarten Dörfern im
Einsatz. Geländewagen und zusätzliches Personal wurden kurzfristig von
Kyjiw nach Cherson gesendet, um die Bevölkerung mit Wasser, Lebensmitteln,
Generatoren und Erster Hilfe zu versorgen. Doch viele Straßen sind vom
Wasser bereits komplett überspült worden, die Zufahrt außerhalb der großen
Städte dadurch stark erschwert.
Doch wo Busse noch fahren können, bringen sie die Einwohner*innen aus
der Stadt Cherson bis Mykolajiw, von wo sie dann mit der Bahn weiter
Richtung Kyjiw gebracht werden. In der ukrainischen Hauptstadt werden
Unterkünfte für bis zu 3.000 Menschen eingerichtet. “Aber das Hauptproblem
ist nicht das Wasser, das alles überflutet, sondern der permanente
russische Beschuss, der über unseren Köpfen weitergeht“, erzählt der Leiter
der GEM-Mission in der Ukraine, Andrew Negrych.
Auch die Caritas hat bereits erste Hilfsmaßnahmen im Krisengebiet
eingeleitet – Hilfszentren wurden trotz des täglichen Beschusses in den
Städten Odessa und Mykolajiw eingerichtet. Laut Caritas besteht der größte
Bedarf derzeit an Trinkwasser, Nahrungs- und Hygienemitteln sowie
Unterkünften.
## Manche Menschen haben von der Katastrophe nicht erfahren
Doch die Hilfsorganisationen rechnen auch mit einem weiteren Problem: Da
die Strom- und Internetleitungen in der Region Cherson nicht flächendeckend
funktionieren, schließen die Helfer*innen nicht aus, dass manche
Einwohner*innen von der Gefahr noch nichts mitbekommen haben. “Wir
suchen gezielt nach Einwohner*innen, die möglicherweise in Häusern
eingesperrt wurden – vor allem die ältere Bevölkerung“, erklärt Negrych.
Zugleich hat der ukrainische Staat bereits im vergangenen Winter viele
Menschen evakuiert, die sich aufgrund des nicht funktionierenden Strom- und
Wärmenetzes in der Stadt in andere Regionen haben bringen lassen. Nun ist
die Evakuierung auch dadurch erschwert, dass die russische Armee zahlreiche
Brücken rund um Cherson zerstört hat, als die Ukraine sie Ende des Jahres
zurückeroberte.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey und Barbara Oertel
Mitarbeit: Gemma Terés Arilla
6 Jun 2023
## AUTOREN
Juri Konkewitsch
Oleh Baturin
Gemma Teres Arilla
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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