# taz.de -- Stimmen aus der Ukraine: „Frieden klingt so verlockend“ | |
> Was bedeutet Frieden für Menschen im Krieg? Drei Ukrainer:innen | |
> erzählen von friedlichen Momenten, von Bitterkeit und einem anderen | |
> Weihnachtsfest. | |
Bild: Straßenszene im Regen auf dem Weg zur U-Bahn-Station in Kyjiw | |
Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem | |
Informatikstudium. Sie wollte das Fach wechseln und studiert mittlerweile | |
Soziologie. Polina Fedorenko kommt aus Kyjiw, sie war zwischenzeitlich in | |
Lwiw, lebt aber jetzt wieder in ihrer Heimatstadt. Sie bestückt im Rahmen | |
eines Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus | |
dem Krieg. | |
Frieden bedeutet Freiheit | |
Ich werde nie in der Lage sein, in einem Café zu sitzen und Kakao zu | |
trinken und nicht daran zu denken, dass all das nicht existieren würde, | |
wenn wir, die Menschen in der Ukraine, nicht zusammenhielten und uns | |
gegenseitig unterstützen würden – moralisch, physisch, finanziell. | |
Für mich wird es niemals Frieden geben, wenn wir von Russland eingenommen, | |
also gefangen genommen würden. In Gefangenschaft könnte ich nicht | |
existieren: Ohne meine Identität als ukrainische Frau, ohne unsere schönen | |
Städte, in denen mir alles vertraut ist und alle wissen, wer Taras | |
Schewtschenko ist, unser Nationaldichter. | |
Frieden gibt es nicht ohne Freiheit. | |
Und nicht ohne Erinnerung an die Gefallenen. | |
Friedliche Momente, an die ich mich erinnere | |
2019 war ich mit einer Gruppe von Leuten, mit denen ich damals studierte, | |
am Ufer des Schwarzen Meeres in der Region Cherson. Wir hatten ein Zelt | |
dabei, aber im letzten Moment entschieden wir uns, im Schlafsack am Strand | |
zu übernachten. Das Wasser war etwa einen halben Meter entfernt und wir | |
vier schliefen beim Rauschen der Meeresbrandung unter dem Sternenhimmel | |
ein. Am nächsten Morgen wachten wir im Morgengrauen auf und tanzten. Es gab | |
viele Marienkäfer. Der Sonnenaufgang war unglaublich. | |
Es gibt noch eine zweite Erinnerung. Sie kommt, glaube ich, aus dem Januar | |
2020, kurz vor der Pandemie. Ich wollte gerade von der Uni nach Hause | |
gehen, die Vorlesungen endeten gegen 18 Uhr und es war schon dunkel, da | |
entdeckte ich einen Straßenmusiker. Es regnete, die Lichter des Riesenrads | |
spiegelten sich auf dem nassen Platz. Ich beschloss, zur weiter entfernten | |
Metrostation zu spazieren, die sich direkt neben der Seilbahn befindet. Die | |
Lichter der Restaurants glitzerten auf dem Asphalt. Ich hatte das Gefühl, | |
am richtigen Ort zu sein. | |
Nachdem bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert worden war, blieb ich sechs | |
Monate zu Hause und sah meine Freunde nicht. Nach ihrer Operation besuchte | |
ich für ein paar Tage eine Freundin in Dnipro. Mir ging es emotional sehr | |
schlecht; ich konnte kaum mein Studium bewältigen, alles war schwierig. | |
Meine Freundin und ich liefen mit einem Drachen am Strand des Kanals | |
entlang, die Sonne schien. Olya war in diesem Moment so schön, und | |
plötzlich konnte ich tiefer atmen und leichter. | |
Eines Tages, es war schon Krieg, wurde das Licht ausgeschaltet, und Yarik, | |
mein sechsjähriger Bruder, wurde krank und ging nicht zur Schule. Er lief | |
in der Wohnung herum und rief: „Mir ist langweilig.“ Ich gab ihm einen | |
alten analogen Fotoapparat, den mein Vater einst gekauft hatte. | |
Für Yarik war der Umgang mit der Kamera schwer. Langsam verstand er, wie | |
der manuelle Fokus funktioniert und wie genau er den Knopf drücken muss. | |
Ich beobachtete ihn, wie er die Wohnung durch die Linse neu entdeckte, und | |
lächelte ihn an. Es war dunkel auf der Straße, denn nach dem russischen | |
Beschuss haben wir oft lange Zeit kein Licht. Aber neben ihm fühlte ich | |
mich ruhig. | |
Orte der Ruhe | |
Meine Wohnung in Lwiw. Mit meinen engen Freunden kuscheln. | |
Mein Bett in der Wohnung meiner Eltern, wenn Yarik morgens vor dem | |
Frühstück zu mir kommt und sich zu mir legt. | |
Und jemandes Hand in meiner Hand zu halten. Sei es die große von Papa, wenn | |
er beim Autofahren zu schluchzen anfängt und dann sagt, dass es in Ordnung | |
ist. Sei es die geschwollene Hand meiner Mutter, die ich die ganze Zeit | |
nicht losgelassen habe, als sie noch im Krankenhaus lag. Sei es die von | |
Yarik, klein und warm, wir nennen ihn scherzhaft „unser lokales | |
Heizkraftwerk“. Sei es die von Olya, die mich so festhält, als würde ich | |
fallen, wenn sie mich loslässt. Oder die von Iryna, die meine Hand so | |
leicht hält und immer irgendwohin führt. | |
Auch wenn die Katzen um mich sind, werde ich ruhig. Selbst wenn Cora | |
Schaden anrichtet und die Vorhänge hochklettert. Es ist unmöglich, in der | |
Nähe von Sara und Cora nicht ruhig zu sein. | |
Und die U-Bahn. Immer noch die U-Bahn. Dort bin ich am sichersten. Dort ist | |
es warm für mich. Dort gibt es immer etwas Neues, ein paar ungewöhnliche | |
Leute, und es ist interessant, zu raten, wohin sie gehen und wer sie sind. | |
Dort kann man immer in ein Buch eintauchen, und dann existiert die Welt | |
nicht mehr. | |
Weihnachten | |
Normalerweise geht unsere Familie an Weihnachten zu meiner Großmutter | |
väterlicherseits. Meine Familie ist nicht religiös, also gibt es bei uns | |
nicht all die traditionellen Gerichte wie das süße Kutia etwa, aber diese | |
Zeit des Jahres ist interessant, weil wir alle zusammenkommen. | |
In guten Jahren, wenn es kein Covid gibt, fliegt meine Tante Katya zu | |
Weihnachten aus den USA zu uns, und wir verbringen ein paar Tage zusammen | |
im Haus meiner Großmutter. Letztes Jahr war ich mit einem Studentenprojekt | |
zu Weihnachten in Odessa, und wir haben Krippen für das Militär gebaut. | |
Damals habe ich viele neue Weihnachtslieder gelernt. | |
Dieses Jahr wird Weihnachten anders sein. Erstens, weil meine Mutter im | |
Dezember gestorben ist und wir sie am Tisch sehr vermissen werden. Zweitens | |
versucht die Ukraine, vom gregorianischen auf den julianischen Kalender | |
umzustellen, und deshalb wird Weihnachten dieses Jahr noch vor Silvester | |
begangen. | |
Ich denke, dass das diesjährige Weihnachtsfest so aussehen wird: Am 24. | |
Dezember morgens werden ich, Papa und Yarik unsere Sachen ins Auto packen | |
und zu Oma fahren. Sonya, meine Schwester, wird sich weigern mitzufahren, | |
weil sie allein in der Wohnung bleiben will. Sie wird sich um unsere Katzen | |
kümmern. | |
Oma wird Yarik und mich küssen, Yarik wird losrennen, um alle Katzen von | |
Oma zu küssen, und die Katzen werden sich vor ihm verstecken. | |
Wir werden eine weite Strecke zum Supermarkt zurücklegen und müde | |
heimkehren. Ich hoffe, dass es an Weihnachten noch schneien wird und die | |
Russen am Feiertag nicht auf uns schießen. | |
Später werden Großmutters Schwester und ihr Mann kommen. Papa wird grillen, | |
Yarik wird sich einen Weihnachtsfilm ansehen, ich werde mit Großmutter und | |
Großtante Salate zubereiten und mir ihre Lektionen über das Leben anhören. | |
Wir werden uns an den Tisch setzen. Ein Stuhl wird leer sein, weil Mama | |
gestorben ist. Diese Erkenntnis wird über uns hängen und uns alle | |
schmerzen. Ich hoffe, ich kann an diesem Tag stark sein. | |
*** | |
Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger | |
bei der humanitären Organisation Rescue Now UA und hilft bei Evakuierungen | |
in und um Charkiw, seine Heimatstadt. Georgy Zeykov war vor dem Krieg | |
Unternehmer, er entwarf Mode und Accessoires. Er beschreibt sich selbst als | |
„Modefreak“, dem seine äußere Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig | |
war. | |
Meine Heimatstadt Charkiw, die Stadt, in der ich 35 Jahre lang gelebt habe, | |
strahlt nicht. Unbeleuchtete Laternen säumen eine leere Straße. Dazwischen | |
sind Cafés, die vor dem russischen Überfall ihre Weihnachtsdekoration noch | |
nicht abgebaut hatten und nach dem [1][24. Februar], dem Tag der Invasion, | |
nie wieder öffneten. Der Anblick ist mehr als trist. Die Schneeflocken aus | |
Papier sind von den Schaufenstern gefallen, die Girlanden hängen herunter | |
oder sind mit Spinnweben bedeckt. Eine dünne Staubschicht überzieht sie. | |
Es gab eine Zeit, in der Charkiw strahlte. Vor einem Jahr war Charkiw mit | |
zwei Millionen Einwohner:innen die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Nun | |
leben noch 800.000 Menschen hier. Als am 12. September 2008 die Band Queen | |
auf dem Freiheitsplatz in Charkiw spielte, kamen 350.000 Menschen. Heute | |
bräuchte es noch etwas mehr als zwei mit Menschen gefüllte Freiheitsplätze | |
für alle Einwohner:innen. Warum hänge ich so sehr an Zahlen? Weil ich | |
möchte, dass Du meinen Schmerz verstehst. | |
Eine Stadt ist nicht ein Ensemble aus Kästen aus Beton, eine Stadt lebt von | |
den Menschen, die dort wohnen. Es sind noch Menschen hier. Aber die Stadt | |
ist zu groß für sie. Trotz der 800.000 Bewohner:innen erscheint Charkiw | |
mitunter wie ausgestorben. | |
Es ist mehr als schwierig an einem Ort zu leben, der nur 26 Kilometer von | |
der russischen Grenze entfernt ist. Russland, dieses Nachbarland, das jeden | |
Tag Raketen und iranische Kamikaze-Drohnen abschießt. Ständige | |
Bombardierungen kritischer Infrastrukturen, Strom-, Internet-, Handy-, | |
Wasser- und Heizungsausfälle sind für Zivilist:innen mittlerweile zu | |
einem normalen, aber nicht weniger dramatischen Problem geworden. Aber | |
selbst in solchen Zeiten gibt es Raum für Neujahrsstimmung. | |
Am 19. Dezember haben wir in Charkiw den Weihnachtsbaum der Stadt | |
eingeweiht. Für die Bürger:innen war die Einweihung des Baumes auf dem | |
Freiheitsplatz seit jeher ein wichtiges Ereignis, denn die Aufstellung | |
markiert neben aller Symbolik auch den Beginn der Jahresend- und | |
Neujahrsfeierlichkeiten. In den vergangenen Jahren wurden auf dem | |
Freiheitsplatz zusätzlich ein kleiner Vergnügungspark, eine Eisbahn und ein | |
Jahrmarkt eröffnet – ein ganzer Komplex von Unterhaltungsmöglichkeiten. | |
Dieses Jahr finden die Feierlichkeiten unterirdisch statt. Der | |
Weihnachtsbaum steht nicht auf dem Freiheitsplatz, sondern unter der Erde, | |
in der U-Bahn-Station. | |
Ich stehe auf der letzten Stufe der Treppe, die zum Bahnsteig der U-Bahn | |
führt. Von dort aus habe ich einen Blick auf ebenjenen unterirdischen | |
Weihnachtsbaum, der in normalen Zeiten über der Erde stehen würde. Es fällt | |
mir schwer Worte zu finden für das, was ich sehe. Irgendwo in meinem | |
Hinterkopf versuche ich mir einzureden, dass ich das hier mag und dass es | |
keinen anderen Weg gibt. Aber ich kann mir doch nichts vormachen. Man hat | |
mir und den Menschen in meiner Stadt die Möglichkeit genommen hat, unsere | |
Traditionen friedlich zu begehen. | |
Ich sehe mir die weihnachtliche Installation in der U-Bahn immer wieder an. | |
Sie ist nicht schlecht gemacht. Wer auch immer das konstruiert und | |
aufgebaut hat, hat sein Bestes versucht. | |
An den Säulen des Bahnhofs hängen Lichterketten. Metallkonstruktionen | |
wurden mit kerzenförmigen Glühbirnen dekoriert; zweckentfremdet bilden sie | |
nun das Gerüst für die Weihnachtsbeleuchtung. Fast könnte man meinen, man | |
befände sich in einer Gasse. Es gibt auch ein Nikolaushaus und einen | |
Briefkasten für die Wunschzettel der Kinder. Da wir Weihnachten eigentlich | |
am 6. Januar feierten, ist der Weihnachtsbaum auch unser Symbol des neuen | |
Jahres. Er ist mit Girlanden und weißen, perlenartigen Kugeln geschmückt | |
und sticht mir besonders ins Auge. Er ist ungefähr fünf Meter hoch. Neben | |
der weihnachtlich geschmückten Tanne steht eine große Uhr, ebenfalls in | |
Weihnachtsbaumform. Jemand hat eine rote Mütze auf ihre tannenförmige | |
Spitze gesetzt. Ich lächle traurig. | |
Früher sind viele Leute zur Einweihung des Weihnachtsbaumes gekommen, heute | |
ist der Bahnhof kaum besucht. Die meisten von ihnen warten auf ihren Zug. | |
Ich ertrage die Stimmung in der U-Bahn dann doch nicht. Meine Brust krampft | |
sich zusammen und meine Beine führen mich zum Ausgang. Nein, es ist keine | |
Panikattacke. Ich will einfach nur weg. Ich möchte nicht, dass sich das | |
Bild dieses unterirdischen Weihnachtsbaumes in meine Netzhaut einbrennt und | |
ich es nicht mehr loswerde. Ich möchte meine Erinnerungen an das | |
weihnachtliche Charkiw nicht mit der Erinnerung an eine weihnachtliche | |
U-Bahn überspielen. Es gilt, in meinen Erinnerungen eine Welt zu schützen, | |
die es nicht mehr geben wird. | |
Wenn wir gewinnen, wird das alles durch etwas Neues ersetzt. Das Neue wird | |
auf seine Art vermutlich gut sein und einen Hauch von Freiheit und | |
Leidenschaft mit sich bringen. Vielleicht bringt es auch Hoffnung. Aber | |
nicht in diesem Moment. In diesem Moment möchte ich gehen. Ich fühle mich | |
wie ein Außenseiter bei dieser Feier, mit der Bürde von jemandem, der weiß, | |
wie es früher war und wie es sein sollte. | |
Am oberen Ende der Treppe drehe ich mich um und sehe mir den unterirdischen | |
Weihnachtsbaum ein letztes Mal an. Putin ist zu allem Überfluss der, der | |
uns Weihnachten stahl. Wenn alles vorbei ist, wird man ihn als den wahren | |
Dieb auf der Richterbank in Den Haag sehen, und eine Kaskade dessen, was er | |
den Menschen genommen hat, wird auf ihn niedergehen. Er hat den Frieden, | |
die Ruhe, das Leben der Menschen und auch den Sinn des Feierns geklaut. | |
Ich frage mich, was er bei seinem Neujahrsgruß an seine Bürger:innen | |
sagen wird? Wäre er ein ehrlicher Mensch, würde er sagen: „Ich habe den | |
Ukrainern die Neujahrsstimmung und dem russischen Volk die Zukunft | |
gestohlen.“ | |
*** | |
Kateryna Smirnowa ist 25 Jahre alt und kommt aus Kyjiw. Sie arbeitet als | |
freiwillige Helferin in den umliegenden Dörfern und hilft beim Wiederaufbau | |
der zerstörten Häuser. Neben dieser Freiwilligenarbeit und der Arbeit als | |
Übersetzerin ist sie Schlagzeugerin in einer Folkband, die traditionelle | |
ukrainische Lieder spielt und sie für eine Opernaufführung aufbereitet. Für | |
die Proben reist sie regelmäßig nach Lwiw: | |
Keine Ahnung, ob ich mir Frieden vorstellen kann. | |
Frieden, das klingt so verlockend. Schon vor der Krim-Annexion durch | |
Russland im Jahr 2014 haben wir gewitzelt, dass Ukrainer und Ukrainerinnen | |
sich nie einfach so hinsetzen und entspannen können. Sie müssen immer auf | |
der Hut sein. Sie müssen immer damit rechnen, fliehen zu müssen. Sie müssen | |
sich vernetzen, schnell und präzise sein und immer ein paar andere Optionen | |
parat haben für den Fall, dass etwas schiefgeht – und in der Regel geht es | |
schief. | |
Sind die Menschen überhaupt an Frieden interessiert? Frieden ist nicht | |
gerade eine sexy Marketing- oder Storytelling-Strategie. Wir würden | |
vermutlich den stillen Tod vorziehen als ständig dieses Unbehagen, wenn uns | |
die Medien über alle Details des Sterbens informieren. | |
Wirklich problematisch ist die Tatsache, dass viele den Frieden für | |
selbstverständlich halten. „Nein zum Krieg“ ist genauso wenig eine Haltung | |
wie „Alle Leben zählen“ – es ist vielmehr ein schwaches Konzept, das mit | |
verführerisch friedlichen Worten maskiert wird. | |
Kommt hinzu: „Für den Frieden kämpfen“ klingt falsch. Sprache ist ein | |
herzloses Phänomen. | |
Wenn mich meine Freunde und Freundinnen aus dem Ausland danach fragen, | |
versuche ich einerseits die Wahrheit darüber zu erzählen, wie ich und meine | |
Angehörigen leiden, und andererseits niemandem den Tag zu verderben, indem | |
ich emotional und dramatisch bin. Ja, Menschen, die vom Krieg betroffen | |
sind, klingen verbittert. | |
Einmal hatte ich Gelegenheit, einen Vortrag über das Leben junger | |
Freiwilliger in der Ukraine nach dem 24. Februar mit zu veranstalten. Das | |
Publikum, lauter junge Dänen und Däninnen, brauchte eine halbe Stunde, um | |
sich mit Limonaden und Snacks zu versorgen, um es durch meinen Vortrag zu | |
schaffen. Ich brachte es nicht über mich, sie darauf hinzuweisen, dass das | |
unhöflich ist. Ich sah nur, wie die armseligen 45 Minuten, die mir zur | |
Verfügung standen, dahinschmolzen. In diesem Moment war die Frontlinie in | |
meinem schiefen, gezwungen höflichen Lächeln zu sehen. | |
Ich bin keine Maschine. Ich versuche Ruhe zu finden, indem ich meine | |
Mietwohnung einrichte. Während der Stromausfälle wird es noch kälter. Nach | |
16 Stunden Stromausfall sind es gerade noch 7 Grad. Ich versuche es positiv | |
zu sehen – die Schnittblumen welken in der Kälte nicht so schnell. Ich | |
versuche mich zu beruhigen, indem ich abschätze, ob mir der gute Kaffee | |
schon beim nächsten Raketenangriff ausgehen wird. Ich versuche Ruhe zu | |
finden, indem ich mich auf analoge Bücher verlasse, die nicht aufgeladen | |
werden müssen. Und indem ich meine Freunde sehe. | |
Eine meiner Freundinnen, die mich vor Kurzem besuchte, forderte mich auf, | |
zu ihr zu ziehen, weil es in ihrer Wohnung wärmer sei als bei mir: „Ich | |
meine es ernst, du kannst bei mir wohnen, ich bin gerade umgezogen, es ist | |
besser geheizt. Mein Freund kämpft im Osten, also habe ich sowieso | |
niemanden, mit dem ich die Wohnung teilen kann – komm!“ | |
Früher konnte ich beim Wandern in den Bergen immer Ruhe finden. Das tue ich | |
auch jetzt noch, aber der Kontrast der reinen, atemberaubenden Landschaft | |
der Karpaten trifft mich emotional so hart, und ich muss jedes Mal weinen, | |
wenn ich dort bin. Zu meinem Alltag in der Stadt gehört es, dass ich | |
fleißig Nachrichten lese, mich über meine Freunde, die bei den | |
Streitkräften sind, auf dem Laufenden halte, für sie spende und mich | |
ehrenamtlich engagiere – nichts bremst mich. Aber sobald ich die Hügel und | |
Flüsse auf dem Land erblicke, weine ich aus dem Gefühl heraus, dass das, | |
was hier geschieht, ungerecht ist. Eigentlich ist doch alles so freundlich, | |
so sanft. Wir sind doch ein sanftes Volk. | |
„Du bist so sanft“, sagt mein Freund, der seit Beginn der russischen | |
Aggression im Jahr 2014 zweimal aus seiner Heimat fliehen musste. Während | |
wir noch im Bett liegen, hören wir zwei Raketeneinschläge. Wir verdrehen | |
die Augen und stehen auf, um alles aufzuladen, was aufgeladen werden kann, | |
bevor der unvermeidliche Stromausfall eintritt. | |
Einige meiner Freunde planen minutiös, in ein Dorf in der Bergregion zu | |
fahren, für die großen Weihnachtszeremonien der Chöre. So konservativ die | |
Gemeinde in den Bergen auch ist, der Pfarrer der wohl bekanntesten | |
Dorfkirche von Kryvorivnya gehörte zu den Ersten, die einen Beitrag auf | |
Facebook veröffentlichten, in dem es hieß, dass dieses Jahr die | |
[2][Kolyada], die Auftritte der Weihnachtschöre, verlegt würden auf den 25. | |
Dezember, wenn auch der Rest der westlichen Welt Weihnachten feiert. Sie | |
werden nicht Anfang Januar wie beim orthodoxen Weihnachtsfest stattfinden. | |
Wir sind alle gespannt. Es wird wirklich eine historische Kolyada werden in | |
diesem Jahr, denn wir haben mithilfe von Crowdfunding Geld gesammelt, um | |
die Leute zu unterstützen, die eigentlich immer in den Chören gesungen | |
haben, aber jetzt an der Front sind. | |
Die Festtagsperiode im Winter zieht sich normalerweise über zwei Monate und | |
ist eine Zeit voller Zeremonien und Festlichkeiten. Es ist eine Zeit des | |
Backens und Singens. Für mich war das schon immer eine Art Seelentherapie, | |
weil man ständig von Menschen umgeben ist, die alles tun, um die Arbeit | |
beiseitezulegen, um Zeit miteinander zu verbringen, sich gegenseitig zu | |
besuchen und zu singen, zu singen, zu singen. In dieser Zeit habe ich mich | |
immer geliebt und beschützt gefühlt. | |
Keiner weiß, wie es dieses Jahr sein wird. Alle sind zögerlich, an | |
öffentlichen Feiern teilzunehmen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch | |
eine Debatte darüber, dass wir nicht zulassen dürfen, dass die Russen uns | |
unsere Traditionen und unsere Freude stehlen. | |
Jedes traditionelle Weihnachtslied hat diesen Refrain: | |
Lobpreise den Himmel, | |
sei freudig, Erde, | |
lass die guten Menschen sich | |
guter Gesundheit erfreuen. | |
Als ich das letzte Mal in den Himmel geblickt habe, brauchten wir | |
Luftabwehr. Die Erde ist von Artillerie vernarbt und gute Menschen sterben | |
in tragischer Zahl. | |
Wer ist besser geeignet, um ein Bild des Friedens zu zeichnen? Eine Person, | |
die das Vertrauen verloren hat, weil sie merkt, wie sie sich bemühen muss, | |
um die Wahrheit zu vermitteln? Oder eine Person, die genug Zeit hat, | |
philosophische Konzepte über das theoretische Konzept des Friedens zu lesen | |
und zu schreiben? Und was ist, wenn es ein und dieselbe Person ist? | |
Ich habe das Gefühl, dass ich langsamer werde und mehr Zeit brauche, um | |
grundlegende Dinge zu erledigen, je mehr der Dezember seinem Ende zugeht. | |
„Bald ist Neujahr“, höre ich. | |
„Bald ist es ein Jahr“, denke ich. | |
24 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Notizen-aus-dem-Krieg-in-der-Ukraine/!5855536 | |
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Koliada | |
## TAGS | |
Sehnsucht nach Frieden | |
Serie: Notizen aus dem Krieg | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Weihnachten | |
Neujahr | |
Kyjiw | |
GNS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Außenministerin Baerbock in der Ukraine: Zeichen der Solidarität | |
Die Außenministerin ist überraschend nach Charkiw gereist und sagt | |
Unterstützung durch Deutschland zu. Weiteres Kriegsgerät schließt sie nicht | |
aus. | |
Ukraine zur Jahreswende: Kaum Feierlaune, aber stabile Moral | |
Stromausfälle zehren an den Nerven der Menschen in der ukrainischen | |
Hauptstadt Kyjiw. Auf weitere Angriffe über Silvester und Neujahr sind sie | |
gefasst. | |
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Putin verbietet Ölexporte | |
Präsident Selenski warnt vor neuen Luftschlägen gegen die | |
Energieversorgung. Putin will Länder mit Preisdeckeln auf Rohstoffe nicht | |
mehr beliefern. | |
Russlands Krieg gegen die Ukraine: Ukrainische Erfolge im Donbass | |
Während die ukrainische Armee in Bachmut die russischen Truppen | |
zurückdrängt, gibt es in Cherson schwere Angriffe. Russische Soldaten | |
äußern Unmut. | |
Soldaten der russischen Armee: Aus dem Knast an die Front | |
Die russische Armee braucht Soldaten. Bei der Rekrutierung greift sie auf | |
immer verzweifeltere Mittel zurück. | |
Notizen aus dem Krieg: Wir fingen an zu weinen | |
Sie will ein normales Leben. Nur, was ist normal im Krieg? Dass man | |
Zusammenhänge schneller begreift Verantwortung übernimmt? | |
Notizen aus dem Krieg: Die Erde zu meinen Füßen | |
Während er auf seinen Evakuierungseinsatz wartet, beobachtet Georgy Zeykov | |
ein brennendes Feld. Er fragt sich: Was wurde aus dem Mann, dem es gehörte? | |
Notizen aus dem Krieg: Mauerreste bringen Likes | |
Trotz Raketenalarms probt unsere Autorin mit ihrer Theatergruppe. Bei | |
Aufräumarbeiten übermalen Helfer ein Lenin-Porträt blau-gelb. |