| # taz.de -- Stimmen aus der Ukraine: „Frieden klingt so verlockend“ | |
| > Was bedeutet Frieden für Menschen im Krieg? Drei Ukrainer:innen | |
| > erzählen von friedlichen Momenten, von Bitterkeit und einem anderen | |
| > Weihnachtsfest. | |
| Bild: Straßenszene im Regen auf dem Weg zur U-Bahn-Station in Kyjiw | |
| Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem | |
| Informatikstudium. Sie wollte das Fach wechseln und studiert mittlerweile | |
| Soziologie. Polina Fedorenko kommt aus Kyjiw, sie war zwischenzeitlich in | |
| Lwiw, lebt aber jetzt wieder in ihrer Heimatstadt. Sie bestückt im Rahmen | |
| eines Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus | |
| dem Krieg. | |
| Frieden bedeutet Freiheit | |
| Ich werde nie in der Lage sein, in einem Café zu sitzen und Kakao zu | |
| trinken und nicht daran zu denken, dass all das nicht existieren würde, | |
| wenn wir, die Menschen in der Ukraine, nicht zusammenhielten und uns | |
| gegenseitig unterstützen würden – moralisch, physisch, finanziell. | |
| Für mich wird es niemals Frieden geben, wenn wir von Russland eingenommen, | |
| also gefangen genommen würden. In Gefangenschaft könnte ich nicht | |
| existieren: Ohne meine Identität als ukrainische Frau, ohne unsere schönen | |
| Städte, in denen mir alles vertraut ist und alle wissen, wer Taras | |
| Schewtschenko ist, unser Nationaldichter. | |
| Frieden gibt es nicht ohne Freiheit. | |
| Und nicht ohne Erinnerung an die Gefallenen. | |
| Friedliche Momente, an die ich mich erinnere | |
| 2019 war ich mit einer Gruppe von Leuten, mit denen ich damals studierte, | |
| am Ufer des Schwarzen Meeres in der Region Cherson. Wir hatten ein Zelt | |
| dabei, aber im letzten Moment entschieden wir uns, im Schlafsack am Strand | |
| zu übernachten. Das Wasser war etwa einen halben Meter entfernt und wir | |
| vier schliefen beim Rauschen der Meeresbrandung unter dem Sternenhimmel | |
| ein. Am nächsten Morgen wachten wir im Morgengrauen auf und tanzten. Es gab | |
| viele Marienkäfer. Der Sonnenaufgang war unglaublich. | |
| Es gibt noch eine zweite Erinnerung. Sie kommt, glaube ich, aus dem Januar | |
| 2020, kurz vor der Pandemie. Ich wollte gerade von der Uni nach Hause | |
| gehen, die Vorlesungen endeten gegen 18 Uhr und es war schon dunkel, da | |
| entdeckte ich einen Straßenmusiker. Es regnete, die Lichter des Riesenrads | |
| spiegelten sich auf dem nassen Platz. Ich beschloss, zur weiter entfernten | |
| Metrostation zu spazieren, die sich direkt neben der Seilbahn befindet. Die | |
| Lichter der Restaurants glitzerten auf dem Asphalt. Ich hatte das Gefühl, | |
| am richtigen Ort zu sein. | |
| Nachdem bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert worden war, blieb ich sechs | |
| Monate zu Hause und sah meine Freunde nicht. Nach ihrer Operation besuchte | |
| ich für ein paar Tage eine Freundin in Dnipro. Mir ging es emotional sehr | |
| schlecht; ich konnte kaum mein Studium bewältigen, alles war schwierig. | |
| Meine Freundin und ich liefen mit einem Drachen am Strand des Kanals | |
| entlang, die Sonne schien. Olya war in diesem Moment so schön, und | |
| plötzlich konnte ich tiefer atmen und leichter. | |
| Eines Tages, es war schon Krieg, wurde das Licht ausgeschaltet, und Yarik, | |
| mein sechsjähriger Bruder, wurde krank und ging nicht zur Schule. Er lief | |
| in der Wohnung herum und rief: „Mir ist langweilig.“ Ich gab ihm einen | |
| alten analogen Fotoapparat, den mein Vater einst gekauft hatte. | |
| Für Yarik war der Umgang mit der Kamera schwer. Langsam verstand er, wie | |
| der manuelle Fokus funktioniert und wie genau er den Knopf drücken muss. | |
| Ich beobachtete ihn, wie er die Wohnung durch die Linse neu entdeckte, und | |
| lächelte ihn an. Es war dunkel auf der Straße, denn nach dem russischen | |
| Beschuss haben wir oft lange Zeit kein Licht. Aber neben ihm fühlte ich | |
| mich ruhig. | |
| Orte der Ruhe | |
| Meine Wohnung in Lwiw. Mit meinen engen Freunden kuscheln. | |
| Mein Bett in der Wohnung meiner Eltern, wenn Yarik morgens vor dem | |
| Frühstück zu mir kommt und sich zu mir legt. | |
| Und jemandes Hand in meiner Hand zu halten. Sei es die große von Papa, wenn | |
| er beim Autofahren zu schluchzen anfängt und dann sagt, dass es in Ordnung | |
| ist. Sei es die geschwollene Hand meiner Mutter, die ich die ganze Zeit | |
| nicht losgelassen habe, als sie noch im Krankenhaus lag. Sei es die von | |
| Yarik, klein und warm, wir nennen ihn scherzhaft „unser lokales | |
| Heizkraftwerk“. Sei es die von Olya, die mich so festhält, als würde ich | |
| fallen, wenn sie mich loslässt. Oder die von Iryna, die meine Hand so | |
| leicht hält und immer irgendwohin führt. | |
| Auch wenn die Katzen um mich sind, werde ich ruhig. Selbst wenn Cora | |
| Schaden anrichtet und die Vorhänge hochklettert. Es ist unmöglich, in der | |
| Nähe von Sara und Cora nicht ruhig zu sein. | |
| Und die U-Bahn. Immer noch die U-Bahn. Dort bin ich am sichersten. Dort ist | |
| es warm für mich. Dort gibt es immer etwas Neues, ein paar ungewöhnliche | |
| Leute, und es ist interessant, zu raten, wohin sie gehen und wer sie sind. | |
| Dort kann man immer in ein Buch eintauchen, und dann existiert die Welt | |
| nicht mehr. | |
| Weihnachten | |
| Normalerweise geht unsere Familie an Weihnachten zu meiner Großmutter | |
| väterlicherseits. Meine Familie ist nicht religiös, also gibt es bei uns | |
| nicht all die traditionellen Gerichte wie das süße Kutia etwa, aber diese | |
| Zeit des Jahres ist interessant, weil wir alle zusammenkommen. | |
| In guten Jahren, wenn es kein Covid gibt, fliegt meine Tante Katya zu | |
| Weihnachten aus den USA zu uns, und wir verbringen ein paar Tage zusammen | |
| im Haus meiner Großmutter. Letztes Jahr war ich mit einem Studentenprojekt | |
| zu Weihnachten in Odessa, und wir haben Krippen für das Militär gebaut. | |
| Damals habe ich viele neue Weihnachtslieder gelernt. | |
| Dieses Jahr wird Weihnachten anders sein. Erstens, weil meine Mutter im | |
| Dezember gestorben ist und wir sie am Tisch sehr vermissen werden. Zweitens | |
| versucht die Ukraine, vom gregorianischen auf den julianischen Kalender | |
| umzustellen, und deshalb wird Weihnachten dieses Jahr noch vor Silvester | |
| begangen. | |
| Ich denke, dass das diesjährige Weihnachtsfest so aussehen wird: Am 24. | |
| Dezember morgens werden ich, Papa und Yarik unsere Sachen ins Auto packen | |
| und zu Oma fahren. Sonya, meine Schwester, wird sich weigern mitzufahren, | |
| weil sie allein in der Wohnung bleiben will. Sie wird sich um unsere Katzen | |
| kümmern. | |
| Oma wird Yarik und mich küssen, Yarik wird losrennen, um alle Katzen von | |
| Oma zu küssen, und die Katzen werden sich vor ihm verstecken. | |
| Wir werden eine weite Strecke zum Supermarkt zurücklegen und müde | |
| heimkehren. Ich hoffe, dass es an Weihnachten noch schneien wird und die | |
| Russen am Feiertag nicht auf uns schießen. | |
| Später werden Großmutters Schwester und ihr Mann kommen. Papa wird grillen, | |
| Yarik wird sich einen Weihnachtsfilm ansehen, ich werde mit Großmutter und | |
| Großtante Salate zubereiten und mir ihre Lektionen über das Leben anhören. | |
| Wir werden uns an den Tisch setzen. Ein Stuhl wird leer sein, weil Mama | |
| gestorben ist. Diese Erkenntnis wird über uns hängen und uns alle | |
| schmerzen. Ich hoffe, ich kann an diesem Tag stark sein. | |
| *** | |
| Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger | |
| bei der humanitären Organisation Rescue Now UA und hilft bei Evakuierungen | |
| in und um Charkiw, seine Heimatstadt. Georgy Zeykov war vor dem Krieg | |
| Unternehmer, er entwarf Mode und Accessoires. Er beschreibt sich selbst als | |
| „Modefreak“, dem seine äußere Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig | |
| war. | |
| Meine Heimatstadt Charkiw, die Stadt, in der ich 35 Jahre lang gelebt habe, | |
| strahlt nicht. Unbeleuchtete Laternen säumen eine leere Straße. Dazwischen | |
| sind Cafés, die vor dem russischen Überfall ihre Weihnachtsdekoration noch | |
| nicht abgebaut hatten und nach dem [1][24. Februar], dem Tag der Invasion, | |
| nie wieder öffneten. Der Anblick ist mehr als trist. Die Schneeflocken aus | |
| Papier sind von den Schaufenstern gefallen, die Girlanden hängen herunter | |
| oder sind mit Spinnweben bedeckt. Eine dünne Staubschicht überzieht sie. | |
| Es gab eine Zeit, in der Charkiw strahlte. Vor einem Jahr war Charkiw mit | |
| zwei Millionen Einwohner:innen die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Nun | |
| leben noch 800.000 Menschen hier. Als am 12. September 2008 die Band Queen | |
| auf dem Freiheitsplatz in Charkiw spielte, kamen 350.000 Menschen. Heute | |
| bräuchte es noch etwas mehr als zwei mit Menschen gefüllte Freiheitsplätze | |
| für alle Einwohner:innen. Warum hänge ich so sehr an Zahlen? Weil ich | |
| möchte, dass Du meinen Schmerz verstehst. | |
| Eine Stadt ist nicht ein Ensemble aus Kästen aus Beton, eine Stadt lebt von | |
| den Menschen, die dort wohnen. Es sind noch Menschen hier. Aber die Stadt | |
| ist zu groß für sie. Trotz der 800.000 Bewohner:innen erscheint Charkiw | |
| mitunter wie ausgestorben. | |
| Es ist mehr als schwierig an einem Ort zu leben, der nur 26 Kilometer von | |
| der russischen Grenze entfernt ist. Russland, dieses Nachbarland, das jeden | |
| Tag Raketen und iranische Kamikaze-Drohnen abschießt. Ständige | |
| Bombardierungen kritischer Infrastrukturen, Strom-, Internet-, Handy-, | |
| Wasser- und Heizungsausfälle sind für Zivilist:innen mittlerweile zu | |
| einem normalen, aber nicht weniger dramatischen Problem geworden. Aber | |
| selbst in solchen Zeiten gibt es Raum für Neujahrsstimmung. | |
| Am 19. Dezember haben wir in Charkiw den Weihnachtsbaum der Stadt | |
| eingeweiht. Für die Bürger:innen war die Einweihung des Baumes auf dem | |
| Freiheitsplatz seit jeher ein wichtiges Ereignis, denn die Aufstellung | |
| markiert neben aller Symbolik auch den Beginn der Jahresend- und | |
| Neujahrsfeierlichkeiten. In den vergangenen Jahren wurden auf dem | |
| Freiheitsplatz zusätzlich ein kleiner Vergnügungspark, eine Eisbahn und ein | |
| Jahrmarkt eröffnet – ein ganzer Komplex von Unterhaltungsmöglichkeiten. | |
| Dieses Jahr finden die Feierlichkeiten unterirdisch statt. Der | |
| Weihnachtsbaum steht nicht auf dem Freiheitsplatz, sondern unter der Erde, | |
| in der U-Bahn-Station. | |
| Ich stehe auf der letzten Stufe der Treppe, die zum Bahnsteig der U-Bahn | |
| führt. Von dort aus habe ich einen Blick auf ebenjenen unterirdischen | |
| Weihnachtsbaum, der in normalen Zeiten über der Erde stehen würde. Es fällt | |
| mir schwer Worte zu finden für das, was ich sehe. Irgendwo in meinem | |
| Hinterkopf versuche ich mir einzureden, dass ich das hier mag und dass es | |
| keinen anderen Weg gibt. Aber ich kann mir doch nichts vormachen. Man hat | |
| mir und den Menschen in meiner Stadt die Möglichkeit genommen hat, unsere | |
| Traditionen friedlich zu begehen. | |
| Ich sehe mir die weihnachtliche Installation in der U-Bahn immer wieder an. | |
| Sie ist nicht schlecht gemacht. Wer auch immer das konstruiert und | |
| aufgebaut hat, hat sein Bestes versucht. | |
| An den Säulen des Bahnhofs hängen Lichterketten. Metallkonstruktionen | |
| wurden mit kerzenförmigen Glühbirnen dekoriert; zweckentfremdet bilden sie | |
| nun das Gerüst für die Weihnachtsbeleuchtung. Fast könnte man meinen, man | |
| befände sich in einer Gasse. Es gibt auch ein Nikolaushaus und einen | |
| Briefkasten für die Wunschzettel der Kinder. Da wir Weihnachten eigentlich | |
| am 6. Januar feierten, ist der Weihnachtsbaum auch unser Symbol des neuen | |
| Jahres. Er ist mit Girlanden und weißen, perlenartigen Kugeln geschmückt | |
| und sticht mir besonders ins Auge. Er ist ungefähr fünf Meter hoch. Neben | |
| der weihnachtlich geschmückten Tanne steht eine große Uhr, ebenfalls in | |
| Weihnachtsbaumform. Jemand hat eine rote Mütze auf ihre tannenförmige | |
| Spitze gesetzt. Ich lächle traurig. | |
| Früher sind viele Leute zur Einweihung des Weihnachtsbaumes gekommen, heute | |
| ist der Bahnhof kaum besucht. Die meisten von ihnen warten auf ihren Zug. | |
| Ich ertrage die Stimmung in der U-Bahn dann doch nicht. Meine Brust krampft | |
| sich zusammen und meine Beine führen mich zum Ausgang. Nein, es ist keine | |
| Panikattacke. Ich will einfach nur weg. Ich möchte nicht, dass sich das | |
| Bild dieses unterirdischen Weihnachtsbaumes in meine Netzhaut einbrennt und | |
| ich es nicht mehr loswerde. Ich möchte meine Erinnerungen an das | |
| weihnachtliche Charkiw nicht mit der Erinnerung an eine weihnachtliche | |
| U-Bahn überspielen. Es gilt, in meinen Erinnerungen eine Welt zu schützen, | |
| die es nicht mehr geben wird. | |
| Wenn wir gewinnen, wird das alles durch etwas Neues ersetzt. Das Neue wird | |
| auf seine Art vermutlich gut sein und einen Hauch von Freiheit und | |
| Leidenschaft mit sich bringen. Vielleicht bringt es auch Hoffnung. Aber | |
| nicht in diesem Moment. In diesem Moment möchte ich gehen. Ich fühle mich | |
| wie ein Außenseiter bei dieser Feier, mit der Bürde von jemandem, der weiß, | |
| wie es früher war und wie es sein sollte. | |
| Am oberen Ende der Treppe drehe ich mich um und sehe mir den unterirdischen | |
| Weihnachtsbaum ein letztes Mal an. Putin ist zu allem Überfluss der, der | |
| uns Weihnachten stahl. Wenn alles vorbei ist, wird man ihn als den wahren | |
| Dieb auf der Richterbank in Den Haag sehen, und eine Kaskade dessen, was er | |
| den Menschen genommen hat, wird auf ihn niedergehen. Er hat den Frieden, | |
| die Ruhe, das Leben der Menschen und auch den Sinn des Feierns geklaut. | |
| Ich frage mich, was er bei seinem Neujahrsgruß an seine Bürger:innen | |
| sagen wird? Wäre er ein ehrlicher Mensch, würde er sagen: „Ich habe den | |
| Ukrainern die Neujahrsstimmung und dem russischen Volk die Zukunft | |
| gestohlen.“ | |
| *** | |
| Kateryna Smirnowa ist 25 Jahre alt und kommt aus Kyjiw. Sie arbeitet als | |
| freiwillige Helferin in den umliegenden Dörfern und hilft beim Wiederaufbau | |
| der zerstörten Häuser. Neben dieser Freiwilligenarbeit und der Arbeit als | |
| Übersetzerin ist sie Schlagzeugerin in einer Folkband, die traditionelle | |
| ukrainische Lieder spielt und sie für eine Opernaufführung aufbereitet. Für | |
| die Proben reist sie regelmäßig nach Lwiw: | |
| Keine Ahnung, ob ich mir Frieden vorstellen kann. | |
| Frieden, das klingt so verlockend. Schon vor der Krim-Annexion durch | |
| Russland im Jahr 2014 haben wir gewitzelt, dass Ukrainer und Ukrainerinnen | |
| sich nie einfach so hinsetzen und entspannen können. Sie müssen immer auf | |
| der Hut sein. Sie müssen immer damit rechnen, fliehen zu müssen. Sie müssen | |
| sich vernetzen, schnell und präzise sein und immer ein paar andere Optionen | |
| parat haben für den Fall, dass etwas schiefgeht – und in der Regel geht es | |
| schief. | |
| Sind die Menschen überhaupt an Frieden interessiert? Frieden ist nicht | |
| gerade eine sexy Marketing- oder Storytelling-Strategie. Wir würden | |
| vermutlich den stillen Tod vorziehen als ständig dieses Unbehagen, wenn uns | |
| die Medien über alle Details des Sterbens informieren. | |
| Wirklich problematisch ist die Tatsache, dass viele den Frieden für | |
| selbstverständlich halten. „Nein zum Krieg“ ist genauso wenig eine Haltung | |
| wie „Alle Leben zählen“ – es ist vielmehr ein schwaches Konzept, das mit | |
| verführerisch friedlichen Worten maskiert wird. | |
| Kommt hinzu: „Für den Frieden kämpfen“ klingt falsch. Sprache ist ein | |
| herzloses Phänomen. | |
| Wenn mich meine Freunde und Freundinnen aus dem Ausland danach fragen, | |
| versuche ich einerseits die Wahrheit darüber zu erzählen, wie ich und meine | |
| Angehörigen leiden, und andererseits niemandem den Tag zu verderben, indem | |
| ich emotional und dramatisch bin. Ja, Menschen, die vom Krieg betroffen | |
| sind, klingen verbittert. | |
| Einmal hatte ich Gelegenheit, einen Vortrag über das Leben junger | |
| Freiwilliger in der Ukraine nach dem 24. Februar mit zu veranstalten. Das | |
| Publikum, lauter junge Dänen und Däninnen, brauchte eine halbe Stunde, um | |
| sich mit Limonaden und Snacks zu versorgen, um es durch meinen Vortrag zu | |
| schaffen. Ich brachte es nicht über mich, sie darauf hinzuweisen, dass das | |
| unhöflich ist. Ich sah nur, wie die armseligen 45 Minuten, die mir zur | |
| Verfügung standen, dahinschmolzen. In diesem Moment war die Frontlinie in | |
| meinem schiefen, gezwungen höflichen Lächeln zu sehen. | |
| Ich bin keine Maschine. Ich versuche Ruhe zu finden, indem ich meine | |
| Mietwohnung einrichte. Während der Stromausfälle wird es noch kälter. Nach | |
| 16 Stunden Stromausfall sind es gerade noch 7 Grad. Ich versuche es positiv | |
| zu sehen – die Schnittblumen welken in der Kälte nicht so schnell. Ich | |
| versuche mich zu beruhigen, indem ich abschätze, ob mir der gute Kaffee | |
| schon beim nächsten Raketenangriff ausgehen wird. Ich versuche Ruhe zu | |
| finden, indem ich mich auf analoge Bücher verlasse, die nicht aufgeladen | |
| werden müssen. Und indem ich meine Freunde sehe. | |
| Eine meiner Freundinnen, die mich vor Kurzem besuchte, forderte mich auf, | |
| zu ihr zu ziehen, weil es in ihrer Wohnung wärmer sei als bei mir: „Ich | |
| meine es ernst, du kannst bei mir wohnen, ich bin gerade umgezogen, es ist | |
| besser geheizt. Mein Freund kämpft im Osten, also habe ich sowieso | |
| niemanden, mit dem ich die Wohnung teilen kann – komm!“ | |
| Früher konnte ich beim Wandern in den Bergen immer Ruhe finden. Das tue ich | |
| auch jetzt noch, aber der Kontrast der reinen, atemberaubenden Landschaft | |
| der Karpaten trifft mich emotional so hart, und ich muss jedes Mal weinen, | |
| wenn ich dort bin. Zu meinem Alltag in der Stadt gehört es, dass ich | |
| fleißig Nachrichten lese, mich über meine Freunde, die bei den | |
| Streitkräften sind, auf dem Laufenden halte, für sie spende und mich | |
| ehrenamtlich engagiere – nichts bremst mich. Aber sobald ich die Hügel und | |
| Flüsse auf dem Land erblicke, weine ich aus dem Gefühl heraus, dass das, | |
| was hier geschieht, ungerecht ist. Eigentlich ist doch alles so freundlich, | |
| so sanft. Wir sind doch ein sanftes Volk. | |
| „Du bist so sanft“, sagt mein Freund, der seit Beginn der russischen | |
| Aggression im Jahr 2014 zweimal aus seiner Heimat fliehen musste. Während | |
| wir noch im Bett liegen, hören wir zwei Raketeneinschläge. Wir verdrehen | |
| die Augen und stehen auf, um alles aufzuladen, was aufgeladen werden kann, | |
| bevor der unvermeidliche Stromausfall eintritt. | |
| Einige meiner Freunde planen minutiös, in ein Dorf in der Bergregion zu | |
| fahren, für die großen Weihnachtszeremonien der Chöre. So konservativ die | |
| Gemeinde in den Bergen auch ist, der Pfarrer der wohl bekanntesten | |
| Dorfkirche von Kryvorivnya gehörte zu den Ersten, die einen Beitrag auf | |
| Facebook veröffentlichten, in dem es hieß, dass dieses Jahr die | |
| [2][Kolyada], die Auftritte der Weihnachtschöre, verlegt würden auf den 25. | |
| Dezember, wenn auch der Rest der westlichen Welt Weihnachten feiert. Sie | |
| werden nicht Anfang Januar wie beim orthodoxen Weihnachtsfest stattfinden. | |
| Wir sind alle gespannt. Es wird wirklich eine historische Kolyada werden in | |
| diesem Jahr, denn wir haben mithilfe von Crowdfunding Geld gesammelt, um | |
| die Leute zu unterstützen, die eigentlich immer in den Chören gesungen | |
| haben, aber jetzt an der Front sind. | |
| Die Festtagsperiode im Winter zieht sich normalerweise über zwei Monate und | |
| ist eine Zeit voller Zeremonien und Festlichkeiten. Es ist eine Zeit des | |
| Backens und Singens. Für mich war das schon immer eine Art Seelentherapie, | |
| weil man ständig von Menschen umgeben ist, die alles tun, um die Arbeit | |
| beiseitezulegen, um Zeit miteinander zu verbringen, sich gegenseitig zu | |
| besuchen und zu singen, zu singen, zu singen. In dieser Zeit habe ich mich | |
| immer geliebt und beschützt gefühlt. | |
| Keiner weiß, wie es dieses Jahr sein wird. Alle sind zögerlich, an | |
| öffentlichen Feiern teilzunehmen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch | |
| eine Debatte darüber, dass wir nicht zulassen dürfen, dass die Russen uns | |
| unsere Traditionen und unsere Freude stehlen. | |
| Jedes traditionelle Weihnachtslied hat diesen Refrain: | |
| Lobpreise den Himmel, | |
| sei freudig, Erde, | |
| lass die guten Menschen sich | |
| guter Gesundheit erfreuen. | |
| Als ich das letzte Mal in den Himmel geblickt habe, brauchten wir | |
| Luftabwehr. Die Erde ist von Artillerie vernarbt und gute Menschen sterben | |
| in tragischer Zahl. | |
| Wer ist besser geeignet, um ein Bild des Friedens zu zeichnen? Eine Person, | |
| die das Vertrauen verloren hat, weil sie merkt, wie sie sich bemühen muss, | |
| um die Wahrheit zu vermitteln? Oder eine Person, die genug Zeit hat, | |
| philosophische Konzepte über das theoretische Konzept des Friedens zu lesen | |
| und zu schreiben? Und was ist, wenn es ein und dieselbe Person ist? | |
| Ich habe das Gefühl, dass ich langsamer werde und mehr Zeit brauche, um | |
| grundlegende Dinge zu erledigen, je mehr der Dezember seinem Ende zugeht. | |
| „Bald ist Neujahr“, höre ich. | |
| „Bald ist es ein Jahr“, denke ich. | |
| 24 Dec 2022 | |
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