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# taz.de -- Ukraine zur Jahreswende: Kaum Feierlaune, aber stabile Moral
> Stromausfälle zehren an den Nerven der Menschen in der ukrainischen
> Hauptstadt Kyjiw. Auf weitere Angriffe über Silvester und Neujahr sind
> sie gefasst.
Bild: Beim Stromausfall hilft das Handylicht: Einkauf in Kiew
Kyjiw taz | „In der vergangenen Woche hatte ich einen sehr schlechten Tag“,
erzählt Denis, ein junger Mann aus Kyjiw. Aber das ist erst der Anfang
seiner Geschichte. Die Mutter, Großmutter und Schwester des 19-Jährigen
haben wegen des Krieges das Land in Richtung Frankreich und Italien
verlassen, so dass er allein zurückgeblieben ist.
„An jenem Tag kam ich morgens zur Arbeit, aber es gab einen Stromausfall,
weil wir beschossen wurden. Die Schicht wurde beendet, der Chef schickte
die Mitarbeiter nach Hause“, erinnert sich Denis. Er musste zu Fuß nach
Hause gehen, weil die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr
funktionierten.
Als er ein paar Stunden später ankam, beschloss er, in einem nahe gelegenen
Supermarkt Lebensmittel für sein Abendessen zu kaufen. „Ich wusste, dass in
einer halben Stunde das Licht ausgeschaltet würde, also musste ich mich
beeilen“, sagt Denis und lächelt. „Nachdem ich meine Einkäufe erledigt
hatte, ging ich zum Fahrstuhl.
Aber ich hatte mich in der Zeit vertan. Plötzlich ging das Licht aus und
der Aufzug hielt zwischen den Stockwerken. Ich konnte niemanden anrufen,
weil das Handy tot war und ich es den ganzen Tag nirgendwo aufladen konnte
“, sagt Denis. Und mit einem ironischen Unterton fügt er hinzu: „Nachdem
ich vier Stunden im Aufzug verbracht habe, gehe ich jetzt immer zu Fuß.
Wahrscheinlich werden wir nach dem Krieg alle sehr schlank und
durchtrainiert sein.“
## Einkaufen mit Taschenlampe
Bei einem massiven russischen [1][Beschuss kritischer Infrastruktur in
Kyjiw] am 19. Dezember wurden Energieanlagen in drei Bezirken der
ukrainischen Hauptstadt beschädigt. Fast zwei Wochen lang versuchten
Energieingenieure, die Folgen der Angriffe zu beheben.
„Man gewöhnt sich an alles und passt sich den Umständen an“, sagt Anna
Oleksandriwna, eine 71-jährige Rentnerin. „Wenn du den Zeitplan, wann
abgeschaltet wird, kennst, kannst du deinen Tag planen. Aber wenn der Strom
ohne Vorwarnung an- und abgestellt wird, zehrt das an den Kräften“, sagt
die alte Frau. Nach den letzten Angriffen hatte sie drei Tage weder Licht,
noch Wasser und Heizung.
„Vor Kurzem habe ich gesehen, wie die Menschen in einem
Lebensmittelgeschäft in absoluter Dunkelheit Produkte im Licht von
Taschenlampen ihrer Mobiltelefonen ausgesucht haben. Die Mitarbeiter an
der Kassen haben die Namen der verkauften Waren in ein Notizbuch
eingetragen, um kassieren zu können“, erinnert sich die Rentnerin.
Sie sei nicht in Feierlaune. „Ich bereite mich nicht auf das neue Jahr vor.
Wie kannst du dich freuen, wenn du weißt, was in deinem Land passiert, wenn
jeden Tag Menschen in den Städten an der Front sterben?“, fragt Anna
Oleksandriwna. Sie glaubt, dass Russland weitere massive Angriffe auf die
Ukraine am Neujahrstag vorbereite.
## „Die Russen lieben die Symbolik von Jahrestagen“
Damit ist sie nicht allein. In Kyjiw sprechen viele darüber, auch Präsident
Wolodimir Selenski hat davor gewarnt. „Man darf sich nicht auf die
moralischen Qualitäten der Russen verlassen. Sie lieben die Symbolik von
Jahrestagen.
So gesehen können sie direkt am 31. Dezember zuschlagen, damit die
Ukrainer*innen das neue Jahr in völliger Dunkelheit begrüßen. Aber sie
sind nicht in der Lage zu verstehen, dass dies unsere Moral nicht brechen
wird“, sagt Veronika – eine junge Frau, die Kyjiw in den vergangenen zehn
Monaten nicht verlassen hat.
Fliegeralarm ist auch an diesem Tag mehrmals in Kyjiw zu hören – meistens
ein untrügliches Signal für Bomber, die von Flughäfen in Belarus starten.
Viele Menschen in der Ukraine glauben immer noch, dass Berichte über
[2][eine mögliche Offensive aus Belarus] unwahrscheinlich und vor allem
ein Instrument psychologischen Drucks seien.
Auch wenn der weitere Ausgang des Kriegs nur schwer vorherzusagen ist,
bemühen sich die Menschen in Kyjiw, vor der Silvesternacht eine minimal
festliche Atmosphäre zu schaffen. Auf den zentralen Plätzen in
verschiedenen Stadtteilen und zahlreichen großen Einkaufszentren werden
Neujahrsbäume geschmückt – der passende Hintergrund für Eltern, um ihre
Kinder zu fotografieren.
Die Kyjiwer*innen machen sich trotz allem Mühe, Geschenke zu finden.
Nur werden diese in diesem Jahr nach praktischen Erwägungen ausgewählt:
Ladegeräte, batteriebetriebene Lampen und warme Kleidung sind zu
Verkaufsschlagern geworden. „Frohe Weihnachten und ein glückliches neues
Jahr! Auf dass 2023 für uns ein siegreiches Jahr wird!“, wünscht die
Kassiererin einem Mann. Er hat gerade eine batteriebetriebene
Neujahrsgirlande gekauft.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
29 Dec 2022
## LINKS
[1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5903232
[2] /Belarus-im-Ukraine-Krieg/!5903276
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Raketenangriff
Infrastruktur
GNS
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Uganda
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Kolumne Radelnder Reporter
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