| # taz.de -- Europa und die USA: Die Rückkehr des Westens | |
| > Seit dem Ukrainekrieg ist der Westen als politisches Projekt wieder en | |
| > vogue. Vergessen, aber nicht überwunden sind die inneren Widersprüche. | |
| Bild: Wolodymyr Selenskyj erhält einen Fragebogen zu einem möglichen EU-Beitr… | |
| Frei nach Wilhelm Busch könnte man sagen: Drei Jahre war der Westen so | |
| krank – jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank! Die Schwächegefühle, die die | |
| westliche Welt die letzten Jahre beschlichen, sind dank des ukrainischen | |
| Widerstandswillens wie weggeblasen. | |
| Überwunden der Kabul-Schock, als die afghanische Armee nicht im Traum daran | |
| dachte, für „westliche Werte“ zu sterben. Verdrängt der Corona-Schock, als | |
| Sterberaten und Wirtschaftsrückgang in den westlichen Industrieländern (und | |
| nicht zuletzt in ihrer Führungsmacht USA) weit über den Werten Ostasiens, | |
| vor allem des „Systemrivalen“ China lagen. | |
| Und vergessen der Trump-Schock, als nicht nur die transatlantische | |
| [1][Verteidigungsgemeinschaft], sondern auch die vermeintliche gemeinsame | |
| Wertewelt des Westens einem populistischen Stresstest unterzogen wurde. | |
| Die Soldaten und Freiwilligen in der Ukraine zeigen, dass das westliche | |
| Modell immer noch so attraktiv ist, dass Menschen dafür zu sterben bereit | |
| sind. Und der Westen wiederum kann zeigen, dass er zum entschlossenen und | |
| gemeinsamen Handeln fähig ist – schlicht, dass es ihn tatsächlich noch | |
| gibt. | |
| ## Moralische Überlegenheit war angekratzt | |
| Garniert wird die [2][Rückkehr des Westens] mit dem angenehmen Gefühl der | |
| moralischen Überlegenheit – ein Gefühl, das postkoloniale | |
| Identitätsdebatten, die Ahnung, dass der Irak- und der Libyenkrieg | |
| vielleicht doch nicht ganz den Idealen des Völkerrechts entsprochen hatten, | |
| sowie die mit dem Klimawandel verbundenen Selbstvorwürfe in letzter Zeit | |
| doch ein bisschen angekratzt hatten. | |
| Ein Paradox dieser Revitalisierung des Westens besteht darin, dass sie in | |
| mancherlei Hinsicht aus Faktoren erwächst, die mit dem Zeitgeist des | |
| postmodernen Westens wenig zu tun haben. Aus dessen Perspektive ist der | |
| Kampfeswille der Ukrainer ein Atavismus; er basiert auf Vorstellungen, die | |
| in der postheroischen und postnationalistischen Welt des Kosmopolitismus | |
| eigentlich keinen Platz mehr haben. | |
| Es ist faszinierend zu sehen, wie Medien, für die das [3][Adjektiv | |
| „nationalistisch“ normalerweise einen Maximalvorwurf] darstellt, sich für | |
| die Geburt eines (historisch ja auch nicht ganz unproblematischen) | |
| ukrainischen Nationalgefühls begeistern. | |
| Die Zeit zitiert einen polnischen, PiS-nahen Intellektuellen, der spottet: | |
| „Ich würde mal sagen, das mit „metrosexuell“ hat sich vorerst erledigt, | |
| wenn Männer an die Front ziehen und die Frauen bei den Kindern bleiben, | |
| oder?“ | |
| Zudem wird völlig übersehen, dass der Konflikt nicht nur eine | |
| Systemdimension hat – westlich-liberale Staats- und Demokratievorstellungen | |
| vs. oligarchischen Autoritarismus à la Putin –, sondern auch eine | |
| kulturelle. Samuel Huntington wies immer wieder darauf hin, dass die | |
| „Bruchlinie“ zwischen der westeuropäischen Kultur- und Zivilisationssphäre | |
| und der der Orthodoxie mitten durch die Ukraine geht. | |
| Und dennoch bleibt zunächst natürlich der Fakt, dass die Ereignisse in der | |
| Ukraine den „Westen“ sowohl als ideologisches Konstrukt wie als handelnde | |
| Gemeinschaft schlagartig wiederbelebt haben. | |
| Wie lange wird und kann das tragen? Hier ist Skepsis angesagt. Heinrich | |
| August Winkler definiert den Westen als „normatives Projekt“, das | |
| aufklärerische Grundwerte in Institutionen und Normen gegossen hat: | |
| Menschenrechte, säkularisierte Hoheitsgewalt, repräsentative Demokratie, | |
| Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit. | |
| ## Den Menschen in der Ukraine dankbar sein | |
| Das Problem dieses Projekts bestand in den letzten Jahren weniger in den | |
| externen Herausforderungen durch autoritäre Systemalternativen oder dem | |
| Auftauchen neuer, nicht westlicher Akteure auf der Weltbühne. Auch die | |
| Formulierung illiberaler Konzepte von Demokratie durch marginale | |
| konservative Akteure wie Orbán oder Kaczyński war nicht wirklich wichtig. | |
| Das Problem des „Westens“ waren (und sind) seine inneren Widersprüche und | |
| seine wachsenden Probleme, die Errungenschaften einer | |
| säkular-demokratischen Gesellschaft gegen innere Erosionsprozesse zu | |
| verteidigen. | |
| Die Spaltung der Lebenswirklichkeit von Gewinnern und Verlierern von | |
| Internationalisierungsprozessen lässt die Vorstellung einer „normativen | |
| Gemeinschaft“ für viele Menschen immer künstlicher erscheinen. Wie tief | |
| dieser Riss auch in Europa geht, wird die zweite Runde bei den | |
| Präsidentschaftswahlen in Frankreich zwischen Emmanuel Macron und Marine Le | |
| Pen am 24. April wieder zeigen. | |
| Die repräsentative Demokratie verliert an sozialer Repräsentativität und | |
| politischer Gestaltungskraft; die Säkularisierung der westlichen | |
| Gesellschaften, die Gleichheit von Mann und Frau und das Recht auf | |
| individuelle Selbstbestimmung wird in der multikulturellen Wirklichkeit | |
| westlicher Zuwanderungsgesellschaften normativ und praktisch infrage | |
| gestellt; subjektiv gefühlt geraten für viele Menschen Meinungsfreiheit und | |
| bürgerliche Freiheiten unter Druck, während repressive Ideologien und | |
| Dogmen im Aufwind sind. All diese Faktoren sind am 24. Februar nicht | |
| verschwunden. | |
| Wir müssen den Ukrainern dankbar sein, dass sie ihren Kampf gegen eine | |
| autoritäre Kleptokratie kämpfen, für ihr Recht auf ein angstfreies Leben in | |
| einem Land ohne politische Gefangene und Giftanschläge. Wir sollten ihnen | |
| dafür tatsächlich den Weg nach „Westen“ – sprich in die EU – öffnen. | |
| Aber so unangebracht die Abgesänge vor einigen Monaten waren, so künstlich | |
| ist nun das neue Stärkegefühl des „Westens“. Zumal diese Renaissance der | |
| eigenen Gewissheiten einige Aspekte – wie etwa die Irak-Invasion – so | |
| völlig ignoriert. Der Westen wird den geopolitischen Gewaltakteur Russland | |
| erfolgreich einhegen können – seine eigenen Widersprüche, Probleme und | |
| Paradoxien werden aber bleiben. | |
| 14 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Finnland-Schweden-und-die-Allianz/!5848585 | |
| [2] /-Nachrichten-zum-Ukrainekrieg-/!5848678 | |
| [3] /Anti-Kriegs-Demonstration-in-Berlin/!5844994 | |
| ## AUTOREN | |
| Ernst Hillebrand | |
| ## TAGS | |
| IG | |
| Nato | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| GNS | |
| Westen | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Annalena Baerbock | |
| China | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| US- und EU- Geopolitik: Hybris des Westens | |
| Das Rezept „Demokratie gegen Diktatur“ ist global gesehen zu schlicht. Die | |
| USA und Europa müssen sich mit ihrem Bedeutungsverlust auseinandersetzen. | |
| Militäranalysten in Kriegszeiten: Die neuen Virologen | |
| Seit Beginn des Ukrainekrieges sind Militärexperten gefragte | |
| Gesprächspartner. Doch beenden könne einen Krieg nur die Politik, sagt | |
| Franz-Stefan Gady. | |
| +++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Raketenangriffe auf die Region Lwiw | |
| Auch Kiew ist am Samstag erneut beschossen worden, Moskau hat ein | |
| Einreiseverbot für Boris Johnson verhängt, und eine Kriegsbriefmarke wird | |
| zum Sammlerstück. | |
| Joschka Fischer über den Ukrainekrieg: „Das war eine Verkennung der Lage“ | |
| Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer über Kooperationen in der Klimakrise | |
| und die Fehler der deutschen Russland- und Ukrainepolitik. | |
| Chinesische Wirtschaft unter Druck: Die Hoffnung heißt Export | |
| Chinas Binnenkonsum ist aufgrund der flächendeckenden Lockdowns vollkommen | |
| eingebrochen. Wird das Land nun zum Problem für die Weltwirtschaft? | |
| +++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Angriff mit Langstreckenbombern | |
| Das Welternährungsprogramm beklagt die humanitäre Krise in der belagerten | |
| Stadt Mariupol. Laut Augenzeugen graben Soldaten Leichen aus und verbieten | |
| Bestattungen. | |
| +++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Scholz lehnt „Diktat-Frieden“ ab | |
| Bundeskanzler Olaf Scholz will von Russland diktierte Bedingungen für einen | |
| Frieden verhindern. Russland weist den Vorwurf des Völkermords von sich. | |
| Präsident Steinmeier auf Polen-Besuch: Künftig an einem Strang ziehen | |
| Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine sei Einheit wichtiger | |
| denn je. Da sind sich die Präsidenten Deutschlands und Polens einig. | |
| Russlands Außenpolitik: Putins verquere Logik | |
| Mehr Nato-Präsenz in Osteuropa, Nato-Beitritte, Aufrüstung der Ukraine: | |
| Putins zerstörerische und brutale Außenpolitik wendet sich nun gegen | |
| Russland. |