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# taz.de -- Joschka Fischer über den Ukrainekrieg: „Das war eine Verkennung …
> Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer über Kooperationen in der
> Klimakrise und die Fehler der deutschen Russland- und Ukrainepolitik.
Bild: Kritisiert SPD, lobt die Grünen: Ex-Außenminister Joschka Fischer
taz am wochenende: Herr Fischer, müssen die Deutschen sich im Angesicht des
Krieges und der Klimakrise neu erfinden?
Joschka Fischer: Ein Stück weit. Sie sind schon dabei.
Was genau macht Sie optimistisch?
Zu sehen, was heute möglich ist unter dem Druck des Krieges. Und
perspektivisch gilt das auch für die Klimakatastrophe.
Was war der fundamentale Fehler im bundesdeutschen Denken und Handeln, wo
liegen wir falsch?
Was wir gerade erleben, ist das Ende einer langen Nachkriegszeit. Zu
glauben, wir könnten als Konsequenz unserer missratenen Geschichte in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Abschreckung und militärische
Sicherheit verzichten, das war ein Irrtum. So sehr ich mir das wünschen
würde, das geht geopolitisch nicht, dafür sind wir zu groß und zu
exponiert. Aus dem Irrtum ist auch die Illusion in der Beziehung zu
Russland erwachsen, man könne dort durch Austausch langfristig eine
friedliche Systemveränderung erreichen. Jeder, der die politische Elite in
Russland kennt, weiß, dass die das völlig anders sehen. Und wie sie es
sehen, das erleben wir gerade. Diese Illusion hat uns in Abhängigkeiten
geführt, für die wir jetzt einen hohen Preis bezahlen müssen.
Wir Bundesdeutsche sind kulturell-mental überfordert mit Krieg, geprägt von
dem kategorischen Imperativ des „Nie wieder“ und von dem Eindruck, das Wort
„Nachkriegszeit“ habe für uns ewige Gültigkeit, politisch gab es bisher
nicht mal eine Sicherheitsstrategie.
Oh doch, die gab es immer, man redete nur nicht gerne darüber: Nato,
Westbindung, europäische Integration durch die EU. Ich verstehe vollkommen,
dass man nach der katastrophalen ersten Hälfte des Jahrhunderts, zwei
Weltkriegen, zweimal Deutschland als Aggressor, barbarischen Verbrechen,
die Deutsche begangen haben, dass man da nach dem großen Turnaround nie
wieder militärisch gestützte Außenpolitik und nie wieder Großmachtpolitik
machen wollte. Man sagte, das hat die Schutzmacht, die USA, zu übernehmen,
und wir konzentrieren uns auf friedliche Geschäfte. Das war nach 1945
völlig verständlich. Aber nach 1989 zog die Schutzmacht faktisch ab, dann
brach auch schon Jugoslawien auseinander, und es kamen die Balkankriege.
Jetzt ist alles eskaliert, eine nukleare Weltmacht hat unter
fadenscheinigsten Vorwänden ihren Nachbarn überfallen.
Der Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen im Budapester Memorandum 1994
stellt sich heute als schwerer Fehler dar.
Im Rückblick ja, aber damals waren wir alle dafür, auch im Westen, dass es
keine vagabundierenden Nuklearwaffen gibt, das war der Albtraum
schlechthin. Deswegen erschien es besser, sie dem Haupterben der
Sowjetunion in die Hand zu geben, der russischen Föderation. Im Vertrauen,
dass das auch auf der sicherheitstechnischen Ebene durch Russlands
Erfahrung des Kalten Krieges funktionieren wird. Die neue Situation heute
wird schlimme Konsequenzen für die Zukunft haben, denn es ist nun
offensichtlich für jedermann: Nur wenn du Nuklearwaffen hast, dann bist du
wirklich souverän und sicher. Hast du sie nicht, verfügst du nur über eine
eingeschränkte Souveränität. Diese Erfahrung wird zu einer wesentlich
unsichereren Welt führen.
Was bedeutet „Nie wieder Auschwitz“ unter den Bedingungen der Gegenwart?
Man kann hier im Grunde auf die entsprechende Konvention der Vereinten
Nationen zurückgreifen, die noch unter dem Eindruck der völkermordenden
Praxis der Nationalsozialisten verfasst wurde: Eine Kriegsführung, die
darauf hinausläuft, das Existenzrecht von ganzen Völkern oder auch
Minderheiten in Frage zu stellen, darf es nie wieder geben. Das steht in
anderen Worten auch im Grundgesetz. Es ist die Aufgabe aller staatlichen
Gewalt bei uns in Deutschland, dass die Menschenwürde gewahrt bleibt.
Artikel 1 Grundgesetz.
Braucht die EU eigene Atomwaffen?
Die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Ich sehe nicht, wie das
geschehen sollte ohne eine sehr viel vertieftere Integration.
Ihr Weggefährte [1][Daniel Cohn-Bendit] sagte gerade, unsere deutsche
Freiheit werde mit französischen, britischen und amerikanischen Atombomben
verteidigt.
Vor allen Dingen sind es amerikanische.
Einige taz-Leser waren ja empört.
Ich wäre enttäuscht, wenn das anders wäre.
Europa muss sich so verteidigen können, dass es keiner anzugreifen wagt,
auch ohne US-Schutz – das ist jetzt Grundlage jeder emanzipatorischen
Zukunftspolitik?
Hören Sie, ich bin Jahrgang 1948, ich fühle mich derzeit sehr oft erinnert
an meine Kindheitstage, als der Kalte Krieg oft zu eskalieren schien und
man nie sicher sein konnte, dass es wieder losgeht. Nuklear wird Europa
noch lange nicht ohne die US-amerikanische Schutzgarantie auskommen.
Im Vergleich zu Putin scheint aus heutiger Sicht die Sowjetunion ein Hort
der Vernunft gewesen zu sein.
Der Unterschied ist, dass die Sowjetunion spätestens nach der Kuba-Krise am
Erhalt des europäischen Status quo interessiert war. Putins Russland ist
das Gegenteil, eine revisionistische Macht, der es in der Ukraine nicht
wirklich um die Ukraine geht, sondern um eine Revision der europäischen
Ordnung und der Weltordnung.
Wann genau und warum haben Sie den Glauben an die Friedensdividende
verloren, also die Umwandlung von Militärausgaben in gesellschaftlichen
Gewinn nach dem Ende des Kalten Krieges?
Mit dem Abgang von Boris Jelzin und der Machtübernahme durch Putin war
recht früh absehbar, dass dieser eine revisionistische Politik verfolgt,
die mich mehr als misstrauisch machte.
Es geht nicht gegen die Nato, es geht gegen uns, die EU und unsere liberale
Demokratie, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch.
Ja, stellen Sie sich vor, dass sich in der Ukraine mit allen
Schwierigkeiten ein Land entwickelt, das wirtschaftlich erfolgreich ist,
sich zunehmend an europäischen Normen orientiert, eine Erfolgsstory. Dann
wäre doch sofort die Frage der Bevölkerung an Putin und die Oligarchie in
Russland: Warum die und warum nicht wir?
Welchen Fehler hat Deutschland gemacht, was die Ukraine angeht?
Wir haben die Ukraine immer als den weniger ernstzunehmenden kleinen Bruder
Russlands gesehen. Das war eine völlige Verkennung der Lage. Die Ukraine
ist alles andere als klein. Und wie wir jetzt sehen einer der weltweit
größten Agrarexporteure. Ein Ausfall als Getreideproduzent wird eine
weitere globale Krise nach sich ziehen.
Wenn vom Westen im Sinne einer Co-Existenz mit Russland eines Tages eine
amputierte und entmilitarisierte Ukraine akzeptiert werden sollte, geht das
auf Kosten der Leute dort.
Ich glaube, so wird es nicht kommen. Was schwer wiederherzustellen sein
wird, ist ein Minimum an Vertrauen gegenüber Russland. Der zentrale Fehler
von uns allen war, zu glauben, dass wir Russland vertrauen können ohne
innere Demokratisierung. Die sogenannte Machtvertikale …
…die Machtkonzentration jenseits von Institutionen und Verfassung …
… existiert seit Iwan dem Schrecklichen, und genauso existiert immer noch
diese Obsession, Weltmacht sein zu müssen. Das kann nur durch eine
demokratische Revolution in Russland überwunden werden. Das meint nicht ein
zweites 1917, sondern institutionelle Veränderungen.
Außenministerin Baerbock hat am Tag nach dem Einfall der Russen in der
Ukraine gesagt, wir seien „in einer anderen Welt aufgewacht.“ Damit hat sie
ein verbreitetes Gefühl grüner Milieus bedient, aber die Aussage steht doch
auch für unsere Naivität. Wir lebten doch längst in dieser anderen Welt,
wir hatten nur die Augen zu, damit wir sie nicht sehen.
Wen meinen Sie mit „wir“?
Die Bundesdeutschen, die Linksliberalen.
Lassen Sie uns die Dinge benennen. An erster Stelle wollte die russische
Realität von der deutschen Wirtschaft, vorneweg dem „Ostausschuss“, und der
SPD nicht gesehen werden. An zweiter Stelle mit geringem Abstand von der
Union. Machen Sie sich da keine Illusionen. Im Übrigen finde ich die
Aussage von Annalena nicht naiv, sondern zutreffend. Hoffentlich sind wir
aufgewacht.
Sie sprechen im Buch von einer „doppelten Realität“. Die alte Realität der
Machtpolitik bleibt und eine neue Realität der nachhaltigen globalen
Kooperation muss dazukommen, in der das Terrestrische nach dem
französischen Philosophen Bruno Latour nicht mehr als Rahmen, sondern als
Teil menschlichen Handelns verstanden wird.
Wir mussten seit Beginn der Zivilisation nie als Menschheit agieren,
sondern immer nur als eigene Gruppe. Es begann mit Familien, dann kamen
Stämme, Nationen, Imperien, aber das Prinzip war immer die eigene Gruppe.
Entweder machst du, was ich will – oder ich schlag dir den Schädel ein. Das
Konfrontationsprinzip. Aber das funktioniert so nicht mehr. Klimaschutz
setzt Kooperation voraus.
Das sieht Putin anders.
Er lebt im späten 19. und nicht im 21. Jahrhundert. Das unterscheidet China
von Russland. Die Klimakrise ist mit Gewalt nicht zu lösen. Nur mit
Kooperation, also dem Gegenteil der erlernten Kultur. Das wird zu einer
doppelten Realität führen, die gleichzeitig angegangen werden muss. Die
traditionelle Machtpolitik, auf Konfrontation gegründet, und die neuen
planetaren Herausforderungen, die Zusammenarbeit erfordern. Etwa das
Corona-Virus, dem weitere folgen werden. Oder die Klimakrise. Wir können
nicht mal sagen, okay, dann machen wir das halt in Europa. Das führt zu
nichts. Die Klimakrise ist global wie das Virus. Der reiche Norden wird
nicht auf der sicheren Seite sein, wenn der arme Süden vergessen wird. Die
westlichen Industrienationen müssen fossil abrüsten, der Süden muss sich
industrialisieren, um nicht in Hunger und Chaos zu versinken, aber auf
neuen nachhaltigen Pfaden. Und der reiche Norden muss das bezahlen.
Sie reden wie ein Pastor, Herr Fischer. So kenne ich Sie gar nicht.
Ich rede überhaupt nicht wie ein Pastor.
Doch, und in der Kirche nicke ich auch schön planetarisch. Aber dann gehe
ich raus und muss meine eigenen Interessen sichern.
Aber, mein Lieber, der Unterschied ist, dass wir vor der praktischen
Aufgabe stehen, das zusammenzufügen. Mein Parteifreund Robert Habeck steht
vor dieser Aufgabe, Annalena Baerbock genauso. Wir sind stark beeinflusst
durch den Krieg in der Ukraine. Aber die Klimakrise beeindruckt das
überhaupt nicht. Wenn sich das für Sie wieder zu pastoral anhört, tut’s mir
leid.
Nein, das ist Wissenschaft.
Genauso ist es Wissenschaft, dass wir sowohl bei der Virus- als auch der
Klimakrise den globalen Süden nicht vergessen dürfen, eben nicht nur aus
moralischen Gründen.
Mir leuchtet Ihre Analyse völlig ein, nur was sollen die Russen denn
verkaufen, wenn nicht mehr Öl, Gas und Kohle? Die nationalstaatlichen und
die planetarischen Interessen gehen hinten und vorn nicht zusammen.
Die Politik wird es sich nicht so einfach machen können wie Sie und sagen:
Das geht halt nicht.
Das hoffe ich sehr.
Das ist keine Frage der Hoffnung. Das ist ein Zwang. Wir entkommen den
Herausforderungen der Klimakrise nicht. Es gibt keinen zweiten Planeten,
auf den wir auswandern könnten.
Der Klimapakt von Paris ist das zentrale Instrument planetarischer
Verantwortungsübernahme – aber die Emissionen steigen weiter, weil sich
fast keiner daran hält.
Aber ohne das Abkommen von Paris wären wir sehr viel weiter zurück. Damit
ist der Rahmen und das Ziel definiert, das ist ein gewaltiger Schritt nach
vorn. Aber unter einem Gesichtspunkt haben Sie natürlich Recht, das Steuer
herumzureißen, dafür reicht Paris nicht. Auch wenn alle Punkte erfüllt
wären, würde die Erderwärmung erst einmal verlangsamen, aber nicht stoppen.
In Ihrem Buch, das vor dem russischen Angriffskrieg fertig war, schreiben
Sie: Dekarbonisierung ist das Gebot der Stunde. Aber bei einem russischen
Angriff geht es erst einmal um Versorgungssicherheit.
So ist es. Fragen Sie unseren Energieminister. Der erlebt und erleidet das
24 Stunden am Tag.
Teile seiner Milieus sagen: Jetzt buckelt er zum Emir von Katar. So nicht.
Robert Habeck ist doch nicht verantwortlich für die Abhängigkeit, in der
wir sind. Er muss die Abhängigkeit von russischem Öl, Gas und russischer
Kohle schnellstmöglich beenden, in die andere sehenden Auges reinmarschiert
sind. Wenn er mit einem Zauberspruch die nötigen Windräder zum Laufen
bringen könnte, würde er nicht nach Katar fahren. Kann er aber nicht. Er
muss die zweit- oder drittbeste Lösung zum Funktionieren bringen. Priorität
hat, die Abhängigkeit von Russland so schnell wie möglich zu beenden. Katar
ist da eine Antwort. Eine.
Was halten Sie von einem Boykott russischer Energie?
Ich vertraue hier der Bundesregierung, die alle Fakten kennt. Es ist doch
klar, wenn die Chance bestünde, sofort die Energiebeziehungen mit Russland
zu beenden, dann würde Robert Habeck das sofort machen!
Ich habe Zweifel, ob die Grünen die Partei sind, die das zügige
Erwachsenwerden der Deutschen voranbringen wollen.
Wer denn dann?
Ja, das ist die Frage aller Fragen.
Ich habe da eine klare Haltung: Gott sei Dank sind jetzt die Grünen in der
Regierung. Und Gott sei Dank sind die beiden Stärksten der jüngeren
Generation in der Verantwortung, Habeck und Baerbock. Und wir werden noch
erleben wie wichtig das Landwirtschaftsministerium von Cem Özdemir ist bei
der mit Zeitverzögerung eintretenden Welternährungskrise. Und dahinter
steht eine breite Pyramide an Kompetenz.
Nachdem Bundeskanzler Scholz die 100 Milliarden Investition angekündigt
hatte, um die Bundeswehr funktionsfähig zu machen, kamen sofort Grüne und
sagten, das Geld dürfe keinesfalls ausschließlich für Militär ausgegeben
werden.
Das war hauptsächlich die Grüne Jugend, und die darf das.
Geht die Grüne Jugend bis 50 oder 60 Jahre?
Damit ich nicht missverstanden werde: Dass es in unserer Partei Kräfte
gibt, die sich verdammt schwer mit dieser Realität tun, das kritisiere ich
nicht, das verstehe ich. Aber die Partei als Ganzes muss die
Regierungsverantwortung stemmen, und ich bin überzeugt, dass sie das kann
und will.
Über den Bundeskanzler wird gern gemäkelt, er spreche zu wenig, zu
nüchtern, zu schlapp. Wie sehen Sie das?
Ich vergebe keine Haltungsnoten. Ich kann nur sagen: Unterschätzt den Olaf
Scholz nicht. Ich tue das nicht. Ich habe im Buch geschrieben: Auch wenn er
im Wahlkampf-Habitus daherkam wie Angela Merkel, wird er im Gegensatz zu
ihr ein Kanzler der Zumutungen sein müssen. Und seine Zeitenwende-Rede bei
der Sondersitzung im Bundestag war historisch.
Am Ende Ihres Buches analysieren Sie die Regierungsversäumnisse der letzten
17 Jahre. Es wird derzeit viel gesagt, was man alles „hätte“ tun müssen.
Sie waren selbst unmittelbar nach Amtsantritt als Außenminister Getriebener
einer ungeplanten Aktualität, die mit der deutschen Beteiligung am
Nato-Kriegseinsatz im Kosovo begann. Ist Vorsorgepolitik überhaupt noch
realistisch oder auch eine Illusion?
Entschuldigung, aber die Entscheidung für Nord Stream I und II fiel ohne
ein einziges energiewirtschaftliches Argument von russischer Seite. Die
alten Pipelines waren ja da. Es ging nur um Geopolitik, um die Isolierung
der Ukraine. Nord Stream II war vollends absurd, weil man mit der Annektion
der Krim noch klarer sah, was da läuft. Und Angela Merkel sagte immer, das
sei ein privatwirtschaftliches Projekt. Es war aber von Anfang an ein
geopolitisches Projekt der russischen Seite. Ich verstehe die Blindheit
heute noch nicht, mit der man da rein ging.
Die Rolle des rot-grünen [2][Bundeskanzlers Gerhard Schröder] werden Sie
nicht kommentieren?
Nein, ich will darüber nicht reden.
Jedenfalls wurden die Merkel-Jahre gerade noch sehr positiv bewertet, nun
sehen mehr Leute die Versäumnisse, aber die Frage ist, ob und wie das die
notwendige Transformation Deutschlands voranbringt?
Der entscheidende Punkt ist, die gleiche Illusion nicht an anderer Stelle
zu wiederholen. Die Abhängigkeit der deutschen Autoindustrie, der Chemie-
und Kunststoffindustrie von China, das kann uns noch große Probleme
bereiten. Man wird als Exportindustrie immer eine gewisse Abhängigkeit von
bestimmten Märkten haben. Aber Blindheit dürfen wir uns nicht mehr
erlauben.
So profanes Zeug wie Autos nach China verkaufen, das hat doch uns
Linksliberale nie interessiert.
Wer ist denn jetzt wieder „uns Linksliberale“?
Ein relevanter Anteil der gebildeten Mittelschicht, der sich auf Projekte
im emanzipatorisch-individualistischen und sozialpolitischen Bereich
spezialisierte, aber China, Russland, Rückzug der USA, EU, Digitalisierung
und Klimakrise ausblendete.
Ich komme wieder auf meine Interpretation der deutschen Geschichte: Die
Generation vor mir hatte den Ruf, eine furchtbare Krieger-Generation zu
sein, grauenhafte Verbrechen wurden begangen. Dann kam der Turn-around. Und
der bedeutete auch den Abschied von strategischem Denken, definitiv
vollzogen mit dem Wiedererreichen der deutschen Einheit.
Die Idee vom Ende der Geschichte, an dem wir 1989 glücklich angekommen
sind.
Genau. Wir lebten in einer Welt umgeben von Freunden. Wir bedrohten
niemanden mehr, uns bedrohte niemand mehr. Das war eine große Illusion.
Zudem hat der Aufstieg Chinas große Nachfrage nach deutschen
Industrieprodukten, Autos, Maschinen, etcetera gebracht. Das hat uns
vergessen lassen, dass das alte Technologien des 20. Jahrhunderts sind. Wir
haben 30 Jahre eine Illusion gesponnen, und die ist jetzt geplatzt. Breite
Teile der Gesellschaft haben unter dem Pandemieschock gemerkt: Hey, warum
sind wir nicht in der Lage eine minimale digitale Struktur zu entwickeln,
was ist aus den deutschen Unternehmen in diesen Bereichen geworden? Wir
müssen jetzt im Schnellgang erwachsen werden, und dafür werden wir einen
Preis bezahlen. Die historisch bedingte Auszeit ist beendet.
Die Krisen werden immer mehr und potenzieren einander: Was kommt als
Nächstes, Le Pen und die Schwächung der EU? Die Rückkehr von Trump und die
Nato-Frage?
Ich bin kein Prophet. Eine positive Erfahrung ist, dass der
Transatlantismus wieder da ist. Wenn es ernst wird, stellen wir fest, wie
sehr die Demokratien in Europa und Nordamerika voneinander abhängen. Die
nächste große Herausforderung wird die Neujustierung unseres Verhältnisses
mit China. Ich glaube, Xi Jinping macht gerade einen großen Fehler mit dem
Festhalten an der Allianz mit Russland.
Nochmal: Wenn wir so beschäftigt mit Machtpolitik gegeneinander sind, wie
soll die Menschheit gleichzeitig als Menschheit handeln?
Das geschieht unter dem Druck der Verhältnisse. Dieser reale Druck, der zu
einer Spaltung der Realität geführt hat, wird zunehmen und uns zwingen,
beide Ebenen zu bespielen.
16 Apr 2022
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## AUTOREN
Peter Unfried
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