# taz.de -- Alte Gewissheiten neu hinterfragt: Werden Kriege wieder normal? | |
> Wir leben nicht mehr in der Welt, in der wir glauben zu leben. Und in der | |
> neuen wird es wahrscheinlich mehr Gewalt geben. | |
Bild: Neue Normalität? Mädchen auf zerstörtem russischen Panzer, nahe Kiew, … | |
Wir leben nicht in der Welt, in der wir zu leben glaubten, und wir sind | |
jetzt in einer Übergangsphase, in der das alte und das neue Denken | |
aufeinanderprallen. Sowohl was die Klimakrise angeht als auch den | |
russischen Angriffskrieg auf Europa, begegnen viele dieser neuen Welt noch | |
mit der gewohnten Kultur und den eingeübten Gefühlen. Versuche, sich | |
realpolitisch der Klimakrise zu stellen, werden als Freiheitsberaubung und | |
soziale Ungerechtigkeit delegitimiert, Versuche, dem Krieg realpolitisch | |
denkend zu begegnen, kategorisch als „bellizistisch“ und | |
„menschenverachtend“ abzuwehren versucht. Wie man das halt immer so machte. | |
Lassen wir wegen mangelnder Relevanz die historisch Geprägten außen vor, | |
die immer noch die Nato als das Grundproblem sehen. Aber auch die | |
Diskussion zwischen denen, die seit einiger Zeit für Waffenlieferungen sind | |
und denen, die Waffenlieferungen als falsch betrachten, greift zu kurz. | |
Die alte deutsche Logik: Wir machen nicht mit. Weil wir aus unserer | |
Geschichte gelernt haben (und selbst ja gemütlich unter amerikanischem | |
Schutz stehen). Die neue deutsche Logik: Die Ukrainer sollen Waffen | |
kriegen, aber wenn sie am Ende doch verlieren, dann können wir auch nichts | |
machen, denn wir dürfen nicht den Dritten Weltkrieg auslösen. | |
Was ein sehr wichtiger Leitgedanke ist. Genau deshalb plädiere ich für das, | |
was [1][Florence Gaub] in taz FUTURZWEI vorschlägt: „Wir müssen uns | |
Szenarien einer böseren Welt überlegen.“ Heißt: Wir brauchen auch eine | |
Antwort, wenn eine (Teil-)Eroberung der Ukraine erst der Anfang ist, und | |
Putin im Baltikum einmarschiert. Sagen wir dann: Na ja, Baltikum. Und wenn | |
er in Polen einmarschiert? Sei’s drum, das sind ja letztlich auch Slawen. | |
Und wenn Putin Deutschland angriffe? Das ist jetzt echt bedauerlich, aber | |
wir dürfen nicht den Dritten Weltkrieg auslösen, also bemüht euch nicht, | |
Nato, wir geben besser gleich auf? | |
Nein, wir sagen: Wie kann man so etwas auch nur denken! Das wird Putin auf | |
keinen Fall tun, never. Das wissen wir hundertprozentig. Nichts wissen wir. | |
Nichts von dem, wie wir die Welt haben wollen, gilt in Putins Welt. Ja, wir | |
müssen vorsichtig sein, deshalb hat die Nato ja auch beschlossen, die | |
Ukraine zu unterstützen, aber nicht zu intervenieren. Aber wir müssen es | |
gleichzeitig wagen, von jedem möglichen Ende her zu denken, und ein Ende | |
kann eben auch sein, dass wir einen größeren Krieg dadurch auslösen, dass | |
wir immer laut sagen, dass wir ihn nicht auslösen wollen. | |
Eine Antwort auf ein gutes Szenerio sind Friedensverhandlungen, mit deren | |
Ergebnis alle leben können. Eine Antwort auf ein böses Szenario bestünde | |
darin, Putin klarzumachen, dass wir, der Westen, die Nato, militärisch | |
stärker sind – und bereit, ihm das zur Not auch zu beweisen. | |
Für den bulgarischen Historiker [2][Ivan Krastev] geht mit dem Überfall auf | |
die Ukraine eine Epoche zu Ende, in der wir alles in Bezug auf den Zweiten | |
Weltkrieg verstehen wollen und speziell die Deutschen Gewalt stets in | |
„Außergewöhnlichkeits-Diskursen“ verhandeln. „Wir werden sehr | |
wahrscheinlich in eine Welt wechseln, in der es sehr viel mehr Gewalt geben | |
wird“, sagt Krastev. Das böse Szenario, das sich daraus ergibt: Kriege | |
werden wieder normal. Die Gewaltoption ist Voraussetzung einer freien und | |
emanzipatorischen Zukunft. Wir sollten auch das denken können. Auch wenn’s | |
wehtut. | |
3 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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