Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Marxist über die Linke und den Krieg: „Wacht auf!“
> Paul Mason ist Marxist – und verteidigt die Nato. Welche Reformvorschläge
> er hat und was er von der deutschen Linken verlangt: ein Gespräch.
Bild: „Ich lehne es ab, mich Putins Logik zu unterwerfen:“ Russischer Panze…
taz: Herr Mason, Sie haben sich als Linker im Ukrainekrieg von Anfang an
klar für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Wieso waren Sie
da so entschieden?
Paul Mason: Ich bin Marxist und Internationalist. Vier Tage vor der
Invasion war ich in Kiew. Ich habe Leute von unabhängigen Gewerkschaften,
Menschenrechtsgruppen und der antikapitalistischen Linken getroffen. Wir
saßen in einem Gemeindezentrum, aßen Pizza und tranken Limo. Einiger dieser
Menschen kämpfen jetzt an vorderster Front. Und sie kritisieren vehement
jenen Teil der europäischen Linken, der die Ukraine nicht unterstützt. Für
sie, genauso wie für mich, enthält der Marxismus eine Theorie des gerechten
Krieges.
Was bedeutet das?
Wenn ein Land angegriffen wird, wenn es eindeutige Verbrechen gegen die
Menschlichkeit gibt, ist der Fall klar. Und wenn dieses angegriffene Land
Teil eines Systemkonflikts wird, zwischen Demokratien mit Fehlern wie
Großbritannien, Deutschland oder den USA auf der einen Seite und
totalitären Diktaturen auf der anderen Seite, müssen auch marxistische
Linke die Ukraine unterstützen.
Sie verfolgen auch die deutsche Debatte und haben eine [1][Antwort auf
Jürgen Habermas] verfasst, der in einem Essay vor den Gefahren eines
Atomkriegs gewarnt und ein vorsichtiges Vorgehen bei Waffenlieferungen
angemahnt hat.
Das Problem mit Jürgen Habermas, aber auch mit Olaf Scholz und Teilen der
deutschen Linken ist, dass das Umdenken nicht schnell genug geht. Das
treibt mich um, seitdem ich aus Kiew zurückgekehrt bin: Das Systemische
dieses Konflikts verändert unsere Welt völlig.
Was heißt das?
Russland und China, zwei totalitäre Diktaturen, haben Anfang Februar am
Rande der Olympischen Spiele öffentlich erklärt, dass die Regeln der
internationalen Ordnung nicht mehr gelten. Und Putin ließ Taten folgen.
Mein Eindruck ist, dass es vielen Menschen gerade so geht wie Habermas und
Scholz. Sie zögern, sie wollen sich nicht der Tatsache stellen, dass der
Krieg in der Ukraine nicht nur ein Krieg zur Verteidigung der westlichen
Demokratien ist, sondern auch jener globalen Ordnung, die auf der Charta
der Vereinten Nationen beruht.
Die Angst vor einem Atomkrieg spielt bei Habermas und Scholz in der
Argumentation eine große Rolle.
Natürlich sollten wir uns vor einem Atomkrieg fürchten. Deutschland wäre
dann ein Ziel, Großbritannien genauso. Nur, egal ob wir uns fürchten oder
nicht, die Ukraine wird sich nicht ergeben. Ich lehne es ab, mich Putins
Logik zu unterwerfen. Es ist eine Logik, die sagt: Weil Putin entscheidet,
was er als existenzielle Bedrohung wahrnimmt, um einen atomaren Erstschlag
auszulösen, darf man keinen Widerstand leisten oder muss die Unterstützung
so fein kalibrieren, dass dieses Risiko ausgeschlossen ist.
Wenn wir das akzeptieren, lassen wir Putin nicht nur über die Ukraine
bestimmen, sondern auch über uns. Wir dürfen nicht zulassen, dass die
Existenz von Atomwaffen uns Grenzen setzt beim Kampf darum, Demokratie und
Menschenrechte zu verteidigen. Mich beschäftigt da aber auch noch eine
konkrete Frage.
Welche denn?
Was ist, wenn Putin eine taktische Atomwaffe, eine kleinere Bombe in der
Ukraine einsetzt? Wie sollten der Westen und die Nato reagieren? Ich bin
der Meinung, die Nato müsste mit konventioneller Kriegsführung antworten.
Und sie muss diese Entschlossenheit im Voraus signalisieren, um zu
verhindern, dass es so weit kommt. Nach allem, was wir wissen, kalkuliert
Putin noch immer ziemlich rational.
Mit Ihrem Blick von außen: Sind Ihnen Besonderheiten an der deutschen
Debatte aufgefallen?
Einige Stimmen aus der deutschen Linken haben der Ukraine die Kapitulation
nahegelegt. Das habe ich nirgends sonst gehört.
Sie denken aus linker Perspektive auch über die Zukunft der Nato nach. Das
ist eher ungewöhnlich.
Die Nato hat in ihrer Geschichte schwere Fehler gemacht, Afghanistan war
der schlimmste. Und sie hat daraus bisher nicht wirklich gelernt. Es gibt,
so weit ich weiß, keinen Bericht, der sagt: So haben wir es gegen die Wand
gefahren. Aber es gibt nicht wirklich eine Alternative für Europa. Emmanuel
Macron spricht gern über eine strategische Autonomie der EU. Vielleicht ist
das in zehn Jahren eine Option, im Moment nicht. Aber die Nato wird sich
auch verändern. Wir sollten das als Chance sehen.
Wie meinen Sie das?
Der Beitritt von Finnland und Schweden und die deutsche „Zeitenwende“
könnten das Zentrum in der Nato verschieben, hin zu Demokratien mit einem
starken Sozialstaat. Deutschland könnte sagen, wir werden mehr ins
Militär investieren, aber dafür haben wir auch ein paar Ideen, was sich
ändern muss. Ich finde es als Linker besser, an einer demokratischen
Debatte über die Zukunft des Bündnisses teilzunehmen, als am Rand zu stehen
und „Nein zur Nato“ zu rufen. Davon würden nur Russland und China
profitieren.
Was sind Ihre Reformideen?
Ganz oben auf der Liste: Die USA müssten dem Internationalen
Strafgerichtshof beitreten, sich also seiner Gerichtsbarkeit unterwerfen.
Außerdem müsste die Nato einen atomaren Erstschlag ausschließen. Sie sollte
sich komplett von Out-of-Area-Einsätzen verabschieden. Und wir müssen
unsere Armeen demokratisieren. Ich bin ein großer Anhänger des finnischen
Systems, wo man einen professionellen Teil der Armee hat, dann
Wehrpflichtige und eine große Anzahl Reservisten, die breit in der
Gesellschaft verankert sind. So kann man vermeiden, dass das Militär von
Rechten dominiert wird.
Ist das nicht sehr optimistisch gedacht? Wenn man sich etwa die Türkei
anschaut, ist es mit der Demokratie in manchen Nato-Ländern nicht weit her.
Das ist ein Dilemma. Ich würde sagen: Die Türkei steht schon zu 25 bis 50
Prozent außerhalb der Nato. Wenn man sich die Wortmeldungen von
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und seiner Bürokratie anschaut, sieht
man, dass es durchaus ein Bewusstsein für dieses Problem gibt. Ein
Vorschlag wäre: Die Nato könnte eine Demokratie-Rangliste ihrer Mitglieder
mit einem Punktesystem einführen. Damit wäre die Türkei nicht schlagartig
demokratischer. Aber wenn sie für alle sichtbar unten auf der Liste steht,
könnten die anderen Mitglieder Druck ausüben, dass sich etwas ändert.
In Ihrem neuen Buch beschäftigten Sie sich mit den Problemen innerhalb
westlicher Demokratien. Sie warnen vor dem Wiedererstarken des Faschismus.
Was war der Ausgangspunkt dafür?
Während der Brexit-Krise 2019, als Boris Johnson Neuwahlen durchdrückte,
nahm ich an einer großen Pro-Europa-Demo in London teil. Doch dann
marschierten einige Faschisten in unsere Kundgebung hinein. Das erinnerte
mich an die 1970er Jahre, als ich antifaschistischer Aktivist war. Damals
regten diese Leute sich über muslimische Kopftücher auf oder darüber, dass
sie neben jemanden aus Jamaika wohnen mussten. Es war ein naiver
Rassismus.
Bei dieser Demo 2019 umkreisten sie mich und riefen: „Paul Mason, du bist
ein Marxist. Wir haben zu dir recherchiert. Du bist ein Verräter unseres
Landes.“ Das war nicht mehr naiv, das war ein ausgebildeter Faschismus. Sie
reden heute offen über Genozidfantasien. In den 70er Jahren sagten diese
Leute: „Es sind keine 6 Millionen Juden gestorben.“ Heute sagen sie: „6
Millionen sind nicht genug.“
Aber solche Aussagen sind doch zum Glück nicht mehrheitsfähig.
Was es so gefährlich macht, ist das Zusammenspiel zwischen rechten
Populisten und gewalttätigem Faschismus auf der Straße. So wie wir das am
6. Januar 2021 bei dem Sturm auf das Kapitol gesehen haben, der von Trump
angeheizt wurde. Das faschistische Denken beeinflusst rechte Populisten und
konservative Parteien auf eine Weise, auf die uns die Politikwissenschaft
nicht vorbereitet hat.
Was sind die Gründe für dieses Wiedererstarken des Faschismus?
Es sind nicht allein wirtschaftliche Gründe. In den vergangenen Jahren
haben wir fünf Krisen gesehen, die sich teils überlappen und gegenseitig
verstärken. Es gab die Wirtschaftskrise nach 2008, dann den Aufstieg
riesiger Technologiekonzerne, die durch ihre Algorithmen bestimmen, was wir
sehen und hören. Dazu tritt die Krise der Demokratie – viele Menschen haben
den Eindruck, dass sie nicht gehört werden.
Dann noch die Pandemie, und die Klimakrise überlagert alles. Das führt
dazu, dass unsere Vorstellung davon, wie die Welt funktioniert und wie wir
in ihr Einfluss nehmen können, brüchig wird. Wenn wir diese brüchige
Alltagsideologie nicht durch eine progressive Alternative ersetzen
können, kann der Faschismus sich festsetzen.
Was können wir dagegen tun?
Es braucht eine wehrhafte Demokratie mit Gesetzen, die es erlauben,
faschistischen Bestrebungen Grenzen zu setzen. Außerdem brauchen wir eine
neue Version der Volksfront – ein Bündnis zwischen der Mitte und der Linken
ist erfolgversprechender, als wenn diese einzeln kämpfen.
Und es braucht ein antifaschistisches Ethos aller Kräfte. Das ist eine
Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Den Linken, die Olaf Scholz und
Emmanuel Macron als ihre größten Feinde sehen, will ich sagen: Wacht auf!
Der Feind steht schon vor der Tür. Der Feind sind die Leute, die unsere
Demokratie zerstören wollen.
22 May 2022
## LINKS
[1] https://paulmasonnews.medium.com/widerstand-ist-der-weg-zur-freiheit-fadf64…
## AUTOREN
Jan Pfaff
## TAGS
Nato
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
GNS
Marxismus
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
FB-Analysen zum russischen Überfall: Das Schreckliche verstehen
Der italienische Militäranalyst Orio Giorgio Stirpe schreibt auf Facebook
erhellende Post zum Krieg in der Ukraine – und zur Stimmung in Italien.
Krieg in der Ukraine: Rückendeckung von links
Auch die Politik der Ukraine ist streckenweise zu kritisieren. Das Recht
auf Selbstbestimmung und Verteidigung besteht dennoch unbesehen.
Militäranalysten in Kriegszeiten: Die neuen Virologen
Seit Beginn des Ukrainekrieges sind Militärexperten gefragte
Gesprächspartner. Doch beenden könne einen Krieg nur die Politik, sagt
Franz-Stefan Gady.
Linkspartei in der Existenzkrise: Die Linke und Putins Krieg
Vielen in der Linkspartei galt Russland lange als Friedensmacht – trotz
aller Widersprüche. Nun droht sie an der Frage zu zerbrechen.
Linke und der Ukrainekrieg: Die Nato-war-schuld-Linken
Einige Linke stecken noch immer in alten Denkmustern fest. Statt zu Putin
auf Abstand zu gehen, beschuldigen sie weiter die USA und die Nato.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.