| # taz.de -- Wissenschaftsaustausch mit Russland: Im Keller mit dem Zensor | |
| > Als Austauschwissenschaftlerin hat unsere Autorin den sowjetischen | |
| > Universitätsbetrieb erlebt. Nun, im Krieg, sind solche Erfahrungen leider | |
| > kaum mehr möglich. | |
| Bild: Hauptgebäude der Staatlichen Universität St. Petersburg (ehemals Staatl… | |
| Eine Schlange brachte mich auf die Idee, dass der Untergang der UdSSR | |
| bevorstehe. Das war im Jahr 1976, ich weilte als Austauschwissenschaftlerin | |
| der FU Berlin im Rahmen eines Forschungsprojektes über die | |
| Industrialisierung der Sowjetunion an der [1][Leningrader Staatlichen | |
| Universität]. In Moskau genoss ich einmal das Privileg, im ersten Lesesaal | |
| der Lenin-Bibliothek arbeiten zu dürfen. Ich teilte es mit bärtigen | |
| Professoren aus der ganzen Sowjetunion, einige von ihnen internationale | |
| Koryphäen. Die traf ich dann im Keller des Gebäudes wieder, wo sie bis zu | |
| einer halben Stunde anstehen mussten, um die Erlaubnis des Zensors zu | |
| erhalten, die eine oder andere Buchseite zu xerokopieren. Ich dachte: Ein | |
| Land, welches die Verbreitung von Informationen derart behinderte, dessen | |
| Tage mussten einfach gezählt sein. | |
| Zurück in Leningrad saß ich abends mit meinem Wiener Kumpel Josef in seinem | |
| Zimmer unter dem Dach unseres Wohnheims und teilte ihm flüsternd meine | |
| Moskauer Erlebnisse mit. Wir nahmen Rücksicht auf seinen sibirischen | |
| Mitbewohner, der in einer Ecke schnarchte. Nach fast 10 Monaten im Wohnheim | |
| hatten wir uns an Kakerlaken und Schmutz gewöhnt und auch an das Gefühl, | |
| stets abgehört oder bespitzelt zu werden. Den Satz über das bevorstehende | |
| Ende der UdSSR kritzelte ich auf ein Blatt Klopapier. Zu meiner | |
| Überraschung kritzelte Josef dazu: „Ich glaube das auch“. „Wie viele Jah… | |
| noch?“, kritzelte ich. Wir gaben der Sowjetunion noch 20 Jahre und damit | |
| fünf zu viel. | |
| Dieses Wohnheim war trotz allem ein wunderbarer Ort zum Diskutieren und | |
| Feiern mit russischen Kolleginnen aus allen Disziplinen. Die | |
| [2][Helsinki-Konferenz] über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa lag | |
| ein Jahr zurück. Ein russischer Kollege namens Juri, Mitglied des | |
| Jugendverbandes der Kommunistischen Partei, redete stets mit leuchtenden | |
| Augen davon. Er versprach sich von ihrer Schlussakte Verbesserungen auf dem | |
| Gebiet der Menschenrechte und langfristig auch Pressefreiheit. In den | |
| kommenden zehn Jahren steuerte sein Land tatsächlich in die Glasnost-Ära. | |
| Wir wussten es damals noch nicht, aber aus uns rund zwei Dutzend | |
| Austauschwissenschaftler*innen aus der Bundesrepublik und unseren | |
| sowjetischen Kolleg*innen, die derweil unsere Heimat kennenlernten, wurden | |
| mit der Zeit immer mehr Leute. „Wir müssen alles aufschreiben“, sagte meine | |
| kanadische Kollegin Deborah: „Wir sind die einzigen, die so etwas erleben, | |
| und später wird es uns niemand mehr glauben.“ | |
| Zu Beginn diesen Jahres dokumentierte die deutsche | |
| Hochschulrektorenkonferenz noch 887 Austauschprojekte mit [3][Russland]. | |
| Seit Beginn des Ukrainekrieges haben der Deutsche Akademische | |
| Austauschdienst, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die meisten | |
| Universitäten und Hochschulen ihre diesbezüglichen Kontakte mit Russland | |
| ausgesetzt. Ihre Verlautbarungen spiegeln dabei eine gewisse Hilflosigkeit | |
| im Umgang mit den russischen Partnern. Einige beteuern, die Maßnahme richte | |
| sich nicht gegen Partnerorganisationen, Studierende und | |
| Wissenschaftler*innen in Russland, sondern nur gegen die kriegführende | |
| Regierung. So als verfügten die deutschen Forschungseinrichtungen über ein | |
| Jedi-Lichtschwert, welches seine näheren Ziele durchbohrt, unverletzt | |
| zurücklässt und hinter ihnen die eigentlichen Feinde trifft. | |
| ## Die russische Wissenschaft ist gespalten | |
| An den russischen Universitäten herrscht zur Zeit ein beispielloser | |
| Gesinnungsterror. Vor diesem Hintergrund haben über 700 Rektor*innen | |
| russischer Hochschulen einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie ihre | |
| Regierung unterstützen und mit dem Westen sympathisierende Bürger:innen | |
| als „Abschaum“ bezeichnen, der aus Russland entfernt werden müsste. | |
| Zahlreiche Professor*innen haben bereits gekündigt und das Land | |
| verlassen. Maria Rakhmaninova, die an einer Petersburger Hochschule | |
| Sozialwissenschaften und Politologie lehrte, hat auch gekündigt, entschloss | |
| sich aber, vorerst zu bleiben. In der Moscow Times schildert sie, wie sie | |
| ihre Studierenden von Beginn an über den Krieg in der Ukraine informierte | |
| und diese daraufhin aufgefordert wurden, sie zu denunzieren. In ihrer | |
| letzten Lehrveranstaltung gab es Beifall und Tränen. | |
| Die russische Wissenschaft ist zutiefst gespalten. Tausende | |
| Akademiker*innen haben in offenen Briefen gegen den Krieg protestiert. | |
| Dazu gehört ein Löwenmut, da bis zu 15 Jahre Gefängnis drohen. Die unter | |
| anderem von der Uni Bremen herausgegebenen Russland-Analysen berichten, | |
| dass seit der Annexion der Krim 2014 die Förderung der Wissenschaft in | |
| Russland stark zurückgegangen ist. Seit 2019 habe es in Russland bloß noch | |
| 800 ausländische Forscher*innen gegeben, in den USA zum Vergleich | |
| 13.000. Dem Putin-Regime scheint nicht an einem intensiven internationalen | |
| Forschungsaustausch gelegen. Sozialwissenschaftler:innen, die im Land | |
| bleiben, werden auf große Hindernisse stoßen, wenn sie Forschungen nach | |
| internationalen Standards durchführen wollen. | |
| Indem unsere Seite aber die Tür zu den russischen | |
| Wissenschaftsinstitutionen als erste zuschlug, haben wir, ähnlich wie mit | |
| der Erschwerung der Touristenvisa, ein Eigentor geschossen. Zwar ist | |
| verständlich, dass man russische Wissenschaftler*innen etwa von | |
| rüstungsrelevanten Forschungszweigen fernhalten und die Bundesrepublik vor | |
| Wirtschaftsspionage schützen will. Doch die Zeit für Einzelfallprüfungen | |
| hätten sich deutsche Forschungsinstitutionen schon nehmen müssen. | |
| Einige haben dies ausdrücklich getan, acht mit Osteuropa-Forschung befasste | |
| Institute behalten sich vor, auch in Zukunft mit ausgewählten | |
| Kolleg*innen aus Russland und Belarus zu kooperieren. Dies ist ein | |
| vorerst gangbarer Weg: Mit Sicherheit könnten deutsche | |
| Wissenschaftler*innen auch im Umgang mit Kolleg*innen aus Putins | |
| Russland Dinge erleben, die ihnen hinterher niemand mehr glauben mag. | |
| 11 Sep 2022 | |
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| Barbara Kerneck | |
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