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# taz.de -- Krieg im Unterricht: Der Elefant im Klassenraum
> Seit sieben Monaten stehen Schulen vor der Frage, wie sie den Krieg in
> der Ukraine thematisieren. Ein Besuch in einer deutsch-russischen
> Europaschule.
Bild: Die 6-Jährige Yeva aus der Ukraine bei ihrer Einschulung in Berlin-Tempe…
Berlin taz | Zum Jubiläum hat die Lew-Tolstoi-Grundschule groß aufgefahren:
Im Foyer des Neubaus werden die Gäste mit Sekt empfangen, im Schulgarten
dürfen sie russische Spezialitäten kosten. Für die Jüngeren wartet im
Pausenhof eine Hüpfburg mit Palmen.
Als der Bezirksbürgermeister des Berliner Stadtteils [1][Lichtenberg] am
vergangenen Freitag in der Aula seine Glückwünsche überbringt, geht es zwar
auch um das 30-jährige Jubiläum der Schule. Er spricht aber auch von
[2][Krieg und Frieden] und die Verantwortung der Europaschulen:
„Friedliches Zusammensein wird in der Schule gelernt. Es muss im Kleinen
wie auch in der großen Politik gelingen“, mahnt der Kommunalpolitiker der
Linkspartei.
Seit nun fast sieben Monaten, [3][seit Russland die gesamte Ukraine
angegriffen hat], fühlt sich die deutsch-russische Schule in eine
Erklärungsnot gedrängt, die für sie nicht nachvollziehbar ist. „Natürlich
sind wir gegen den Krieg. Wir verfolgen eine Friedensbildung im
Unterricht“, betont Rektorin Helene Hartmann. Die Schule hat schließlich
keine Verbindung zur russischen Regierung, so Hartmann, lediglich die
russische Sprache wird hier gelernt. Die Lew-Tolstoi-Grundschule ist eine
[4][Staatliche Europaschule]. Hier lernen Kinder auf Russisch und auf
Deutsch.
Das Konzept der Europaschulen gibt es seit 30 Jahren. Die
Lew-Tolstoi-Schule gehört von Anfang an dazu. Eltern aus allen Ländern, die
zur ehemaligen Sowjetunion gehörten, schicken ihre Kinder hierher. Aktuell
sind es rund 650 Schüler*innen, in zwölf Klassen wird bilingual
unterrichtet. „Hier lernen schon immer ukrainische, russische, kasachische
Kinder zusammen“, sagt Hartmann. „Erst jetzt werden sie von außen
auseinanderdividiert.“
## Aus Sicherheit lieber nichts sagen
Wenige Tage vor dem Festakt mit Sekt und Hüpfburg hat Hartmann die taz zu
einem Gespräch eingeladen. Keine Selbstverständlichkeit. Die russischen
Europaschulen wollen derzeit nicht unbedingt in die Öffentlichkeit. Die
anderen beiden mit Schwerpunkt Russisch wollen sich nicht zur aktuellen
Situation in der Ukraine äußern.
Selbst der Berliner Senat beantwortet keine Fragen zu Hilfen und möglichen
Konflikten in den Schulen. In ihrem Büro erklärt die Rektorin der
Tolstoi-Grundschule die Zurückhaltung folgendermaßen: „Wir wollen die
Kinder schützen. Die Kinder haben hier oberste Priorität.“ Kurz nachdem
Russland die gesamte Ukraine angriff, hätten Eltern ihren Kindern geraten,
auf dem Schulweg kein Russisch zu sprechen. Ihre Sätze wählt Hartmann mit
Bedacht, das Thema ist aus ihrer Sicht heikel.
Immer wieder ist es in Deutschland zuletzt zu Angriffen gekommen, die im
Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stehen. Erst vor ein paar Wochen
wurde in Leipzig versucht, eine Kita anzuzünden, in der ukrainische Kinder
betreut werden. In Berlin gab es im März einen Brandanschlag auf die
russisch orientierte Lomonossow-Schule. Nach dem Vorfall fuhr vor der
Lew-Tolstoi-Grundschule für einige Wochen eine Polizeistreife.
Laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes haben sich in den
vergangenen sechs Monaten 284 Ratsuchende mit russischen, belarusischen und
ukrainischen Wurzeln an sie gewendet. Die ethnische Herkunft wird
eigentlich nicht abgefragt. Hier gaben die Betroffenen sie freiwillig an.
Ein Sprecher betont aber, dass viele der Anfragen zu nicht selbst erlebter
Diskriminierung erfolgten, sondern zu im Internet geschilderten Fällen.
Diese könnten nicht überprüft werden. Das Bundesinnenministerium meldet
insgesamt rund 4.300 strafrechtlich relevante Ereignisse im Zusammenhang
mit dem Krieg in der Ukraine, darunter über 400 Gewaltdelikte.
## Der Krieg beeinflusst den Unterricht
Der Krieg in der Ukraine hat Einfluss auf das Schulleben in Deutschland. In
vielen Fällen haben Familien mit ukrainischen Wurzeln ihre Verwandten
aufgenommen, die geflohen sind. Andererseits müssen Lehrer*innen
plötzlich Kindern mit russischen Wurzeln erklären, dass sie nicht am Krieg
Schuld haben. Auch an der Tolstoi-Schule gibt es unterschiedliche
Positionen zum Umgang mit dem Krieg. Das sei auf Elternsprechstunden klar
geworden, sagt Klassenlehrerin Claudia Zimmermann. „Die Eltern aus den
Regelklassen wollten mehr, sie wollten sich stark nach außen positionieren
– bis eine Mutter, die aus der Ukraine stammt, anfing zu weinen und meinte,
dass doch die Kinder nicht täglich mit dem Krieg konfrontiert werden
müssen.“
Einmal sei es auch im Unterricht zu einem Vorfall gekommen, erinnert sich
Zimmermann, die in den sechsten Klassen Deutsch und Englisch unterrichtet
und auch Russisch spricht. „Ich weiß nicht, warum der Schüler provozieren
wollte. Er malte Panzer, Kriegsszenen“, erzählt die Lehrerin.
Mitschüler*innen hätten geweint und sich beschwert.
Rektorin Hartmann betont, dass solche Vorfälle nur vereinzelt vorkommen. Im
Kollegium stünden alle hinter der Friedenspolitik der Schule. „Die Schule
ist neutraler Boden. Wenn der Krieg in der Ukraine von den Kindern
thematisiert wird, dann sprechen wir darüber, versuchen zu erklären. Wir
agieren so, wie es den Bedürfnissen und vor allem dem Alter der Kinder
entspricht“, erklärt Hartmann, die in Kasachstan aufgewachsen und mit 16
Jahren nach Deutschland gekommen ist. Nach dem Vorfall in Zimmermanns
Klasse hat die Schule sofort den Dialog mit den Schüler*innen und Eltern
gesucht. Zudem machte die Klasse mit der Schulsozialarbeiterin eine Stunde
zum Thema Krieg und Frieden, um alle daran zu erinnern, dass sie hier in
Frieden zusammenleben und miteinander reden können. Das habe geholfen.
## Direkte Positionierung gegen den Krieg
Ähnliche Erfahrungen im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine machen auch
andere Schulen. Am Berliner Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium, auf das auch
Schüler*innen mit russischem Hintergrund gehen, malte ein Siebtklässler
vor den Sommerferien das Z-Symbol in seine Federtasche. So erzählt es ein
Elternteil der taz. Von diesem konkreten Vorfall hat Direktor Martin Wagner
nach eigener Aussage nichts gehört. Auch gab es, laut ihm, keine
vergleichbaren Fälle am Gymnasium.
Gleich zu Beginn hat sich die Schule klar gegen den Krieg positioniert. Am
Telefon versichert Wagner, dass die Politik- und
Geschichtslehrer*innen von Anfang an über den Krieg aufgeklärt hätten.
„Es ist wichtig, dass die Lehrkräfte den Jugendlichen helfen,
Medienberichterstattung und Informationen aus dem Internet einzuordnen,
sodass die Kinder hier keine Angst haben müssen.“ In den Klassen, in denen
Kinder Eltern aus Ländern haben, die zur ehemaligen Sowjetunion gehörten,
seien sie besonders vorsichtig mit dem Umgang gewesen. Gegen die
Friedensposition am Herder-Gymnasium hätte aber niemand etwas einzuwenden,
sagt Wagner. Von den Eltern sei zurückgekommen, dass sie sich damit
wohlfühlten.
## 30 ukrainische Kinder aufgenommen
Auch in der Lew-Tolstoi-Grundschule muss das Kollegium im Unterricht nur
selten eingreifen. Die Friedenserziehung funktioniert. Die Schule will
keine Symbolpolitik betreiben, sie will wirklich helfen, wo sie kann. Im
April 2022 nahm die Schule freiwillig [5][30 ukrainische Kinder] auf. Sie
lernen in allen sechs Klassenstufen. „Es ergibt ja auch Sinn, dass wir so
viele Kinder aufnehmen. Hier wissen wir, wie Integration funktioniert, das
machen wir schließlich jeden Tag“, erzählt Hartmann, die selbst eine
Familie aus Odessa bei sich aufgenommen hat. Für die neuen ukrainischen
Schulkinder gab es ein kleines Willkommensfest, die Eltern konnten sich
untereinander und mit anderen Eltern vernetzen, Tipps austauschen. Die
Kinder bekamen voll ausgestattete Startersets für die Schule, für die alle
Eltern der Schule großzügig gespendet haben.
Die Konrektorin Evelyn Tonk hat die Materialien persönlich besorgt: „Mein
Mann und ich sind einen Tag lang alle Läden abgefahren.“ Tonk unterrichtet
selbst in den ersten und zweiten Klassen. Bei den ganz kleinen Kindern muss
man sehr sensibel mit dem Thema Krieg umgehen. Als auch in Tonks zweiter
Klasse ein ukrainischer Junge aufgenommen wurde, hat sie ganz vorsichtig
vom Krieg erklärt, die Kinder sanft auf ihren neuen Mitschüler vorbereitet.
Was danach passierte, rührt die Lehrerin auch heute noch fast zu Tränen:
„Als sich der Junge dann vorgestellt hat, ist einer aus der Klasse
vorgegangen, hat ihm die Hand gegeben und ihn auf Russisch willkommen
geheißen.“ In dieser Klasse sprechen die Kinder normalerweise kein
Russisch.
Transparenzhinweis: Die Autorin war von 2005 bis 2011 Schülerin an der
Lew-Tolstoi-Grundschule.
14 Sep 2022
## LINKS
[1] /Krieg-in-der-Ukraine/!5873563
[2] /----/!t5839541
[3] /-Nachrichten-im-Ukrainekrieg-/!5881334
[4] /Archiv-Suche/!1336234&s=staatliche+europaschule&SuchRahmen=Print/
[5] /---/!5860389
## AUTOREN
Anne Frieda Müller
## TAGS
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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