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# taz.de -- Postsowjetische Menschen in Deutschland: Irrwege und Lektionen
> Rund 3,5 Millionen postsowjetische Migrant*innen leben hier. Lange
> waren sie unsichtbar – anders als heute. Wurden ihre Warnungen gehört?
Bild: Mariupol am 22. Februar, zwei Tage vor Beginn des Krieges in der gesamten…
Krieg in der Ukraine – für uns war er schon immer da. Seit acht Jahren, im
Donbass: physisch. Viel länger: psychisch. Die Deutschen haben den Krieg
nicht kommen sehen, aber wir haben ihn kommen gefühlt. Die Angst vor einem
großen Krieg lebt seit Jahren in uns. Die Polen warnten, die Baltinnen, die
Ukrainer, die Georgierinnen, die Söhne und Töchter der Diaspora im Westen.“
Diese Sätze stammen vom Journalisten Artur Weigandt. Aus seinem Artikel,
der vor etwas mehr als einer Woche bei Zeit Online erschien, unter dem
Titel [1][„Russische Invasion: Wir haben es euch gesagt“]. Artur Weigandt
selbst wurde in Kasachstan geboren, sein Vater ist Russlanddeutscher, seine
Mutter Belarussin und Ukrainerin.
Seine Freundin kam als jüdische Kontingentgeflüchtete nach Deutschland.
[2][Aus Mariupol.] Aus der Stadt, die Natascha Wodin 2017 mit ihrem
bewegenden Buch „Sie kam aus Mariupol“ in die deutschsprachige Literatur
einschrieb. Sie begab sich auf die Spuren ihrer Mutter, die von den
deutschen Besatzern als sogenannte „Ostarbeiterin“ ins Deutsche Reich
verschleppt wurde. Mariupol. Eine Stadt, in der ich noch nie war. Und deren
Name ich nach dem 24. Februar nie mehr vergessen werde. Seit Wochen
eingeschlossen von russischen Truppen. Die Menschen trinken das Wasser aus
den Heizungen, sie tauen das Eis auf. Leichen liegen auf den Straßen,
Kadaver für die streunenden Hunde. Die Menschen sterben am Hunger. Und die
fliehenden Menschen werden beschossen. Die schlimmsten Assoziationen des
20. Jahrhunderts verbinde ich mit Mariupol – Srebrenica, Leningrad. Wir
schreiben das Jahr 2022.
Rund 3,5 Millionen postsowjetische Migrant*innen leben in Deutschland.
Die größte migrantische Gruppe der Bundesrepublik. Und lange Zeit eine sehr
unsichtbare Gruppe – aufgrund des geringen Wissens in Deutschland über das
östliche Europa, und weil diese Menschen ein „sowjetisches Gepäck“
mitgebracht haben. Zu diesem Gepäck gehören neben Samowaren, Fotografien
und Urkunden auch die Erfahrungen eines Systems, in dem politische Dinge
nicht in der Öffentlichkeit, sondern am Küchentisch verhandelt wurden.
Zumal wenn es um die Belange einer nicht-russischen Minderheit ging.
„Wir haben es euch gesagt“ – und wir, die nicht-postsowjetische
Mehrheitsgesellschaft, haben nicht zugehört. Katja Petrowskaja, Lena
Gorelik, Dmitrij Kapitelman, Olga Grjasnowa, Gusel Jachina, Andrij Kurkow –
es gibt sie, die postsowjetischen [3][Autor*innen, deren Bücher auch hier
gelesen werden]. Das zumindest ist erfreulich. Wie es auch gut ist, dass
viele andere der jungen Generation jetzt über Zeitungsartikel, Podcasts
und Instagram sicht- und hörbar sind.
## Hier Lebende werden als „Russen“ pauschalisiert
Das Ergebnis ist eine deutlich differenziertere Berichterstattung als noch
2016 beim sogenannten „Fall Lisa“. Damals hatte eine vermeintliche
Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Geflüchtete in Berlin
zu Demonstrationen Russlanddeutscher gegen andere migrantische Gruppen
geführt. Der „Fall“ erwies sich schnell als gezielte Falschnachricht des
russischen Fernsehens. Es folgten jedoch Berichte über den „Rechtsruck in
Klein Moskau“ oder die „Alternative für Russlanddeutsche“. Mit ihnen wur…
alte Wunden wieder aufgerissen. Für das Miteinander in der
postmigrantischen Gegenwart der Bundesrepublik war das alles nicht
hilfreich.
Und auch heute gibt es im Zeichen des Krieges erneut Anfeindungen gegen
hier lebende Menschen. Sie werden pauschal als „Russen“ adressiert und für
Putins Politik in Kollektivhaftung genommen. Sie alle sprechen Russisch, ja
– aber ihre Lebenswege sind so verzweigt wie die von Artur Weigandt und
seiner Freundin, und nicht wenige haben Verwandte in der Ukraine, um deren
Leben sie bangen. Sie erleben gerade existenziell schwierige Zeiten, die
Risse gehen quer durch die Communities und die Familien. Das letzte, was
diese Menschen jetzt brauchen, sind pauschale Anfeindungen von außen oder
die Instrumentalisierung der Vorfälle durch Putins Trolle und das russische
Fernsehen.
Wir haben also vielleicht die Bücher gelesen und die Podcasts gehört – aber
haben wir auch die eindringlichen Warnungen vor dem russischen
Neokolonialismus gehört? Haben wir nicht. Und wenn ich „wir“ sage, dann
meine ich auch mich selbst.
Nach rund drei Jahrzehnten Beschäftigung mit dem östlichen Europa habe ich
bis wenige Tage vor dem russischen Überfall gehofft, dass der gewaltige
russische Truppenaufmarsch eine Drohkulisse ist, die nach Erreichen wie
auch immer gearteter Zugeständnisse des Westens wieder abgebaut wird.
Erst am 21. Februar, als die beiden vermeintlichen Führer der sogenannten
Volksrepubliken Donezk und Luhansk – dieser von Moskau abhängigen
Pseudostaaten im Osten der Ukraine – ihre Erklärungen abgaben, war auch mir
klar, dass es Krieg geben würde. Am selben Tag sprach Putin der Ukraine das
Existenzrecht ab. Es folgte die bis heute andauernde Eskalation. [4][Die
Schockstarre und die Verzweiflung, die mich am 24. Februar befielen],
dauern bis heute an.
## Ukrainer sterben seit acht Jahren für unsere Freiheit
Warum ist das alles so gekommen? Ich habe für meine Habilitation rund ein
Jahr in Sankt Petersburg gelebt – eine großartige, viel beschriebene Stadt,
mit vielen großartigen Menschen und Orten. Und dann kam 2014 die Annexion
der Krim, es begann der Krieg im Osten der Ukraine. 2015 erschien das Buch
„Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ des Historikers Karl
Schlögel. Es heute wieder zur Hand zu nehmen, ist schmerzhaft – es liest
sich wie eine Prophezeiung dessen, was wir jetzt erleben.
Natürlich wusste ich, dass es in der Ukraine de facto Krieg gibt – aber es
musste bis 2019 dauern, als ich zwei Wochen in Dnipro und in Kyjiw war, um
wirklich zu verstehen, zu spüren, was das heißt. Es wurde mir klar, als ich
auf dem Majdan und vor dem St. Michaeliskloster stand und die Wand mit den
Fotos abging, auf der die ukrainischen Soldaten porträtiert sind, die im
Donbass gefallen sind. Viele von ihnen 17, 18, 19 Jahre jung. Mehrere
Hundert Meter ist die Wand lang. Die Menschen in der Ukraine sterben seit
acht Jahren, für ihre Freiheit, für unsere Freiheit.
In Deutschland avancierten währenddessen die Bücher von Gabriele
Krone-Schmalz und Gerhard Schröder zu Bestsellern, [5][Sahra Wagenknecht
saß in Talkshows] und reproduzierte Putins Sicht auf die Welt. Die Ukraine
kommt in diesen Erzählungen nicht vor, ebenso wenig wie Belarus, Polen oder
die baltischen Staaten. In einer Fortführung kolonialer Traditionen wurde
in Deutschland viel zu lange nur über die Interessen Deutschlands und
Russlands gesprochen, als ob es die Staaten dazwischen nicht gäbe. Häufig
unter Verweis auf die deutsche historische Verantwortung – ein ehrenwertes
Motiv, ich war lange genug in Sankt Petersburg, um zu wissen, welch
monströses Verbrechen die Blockade Leningrads ist, der mehr als eine
Million Menschen zum Opfer fielen.
Aber deutsche Vernichtungspolitik fand nicht nur im russischen Teil der
Sowjetunion statt, sondern ebenso in der Ukraine und in Belarus. In der
Reihe der Orte deutscher Verbrechen stehen neben Leningrad auch [6][Babij
Jar in Kyjiw] und Malyj Trostenez in Belarus. Das deutlich zu machen, ist
auch uns, den Osteuropahistoriker*innen, zu lange nicht gelungen. Der
jetzige Krieg wird auch für unser Fach eine Zäsur darstellen.
## Den Menschen zuhören, die wissen, wofür Putin steht
„Eine friedensverwöhnte Generation in Deutschland lernt, dass Krieg nicht
nur eine Fernsehangelegenheit ist.“ Diese Aussage Karl Schlögels, wenige
Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, geht mir
nicht mehr aus dem Kopf. Für mich muss ich sagen, so schmerzhaft es ist:
Ja, das stimmt. Anscheinend bedurfte es erst eines großes Krieges, damit
wir beginnen, unsere Perspektiven zu hinterfragen.
Viel zu viele Reportagen lassen sich in den Archiven deutscher Zeitungen
mit dem Tenor finden, dass Demokratie ein vermeintliches Luxusgut sei, das
nur in Westeuropa funktioniere, die Ukraine war hingegen häufig nur in
Zusammenhang mit Korruption ein Thema. Welch eine Hybris angesichts der
Toten in Grosny, in Georgien, in Moldawien und jetzt in der Ukraine.
Wir stehen in der Schuld der Menschen, deren Sorgen und Warnungen wir nicht
ernst genommen haben. Das Mindeste, was wir jetzt tun können, ist die
Unterstützung der Ukrainer*innen in ihrem Kampf um ihr Leben und gegen
die Vernichtung ihrer Geschichte. Und wir sollten endlich, endlich den
Menschen zuhören, die seit Jahrzehnten hier leben und die wissen, was Krieg
ist und wofür Putin steht.
4 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-03/russland-ukraine-krieg-postsowjeti…
[2] /Zerstoerte-ukrainische-Stadt-Mariupol/!5841651
[3] /Neues-Buch-von-Dmitrij-Kapitelman/!5750705
[4] /Therapeut-ueber-die-aktuellen-Ereignisse/!5836569
[5] /Was-Linke-und-Bundeswehr-verbindet/!5835240
[6] /80-Jahre-Massaker-bei-Kiew/!5800422
## AUTOREN
Hans-Christian Petersen
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Migration
Russland
Ukraine
Wladimir Putin
Interview
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Lesestück Recherche und Reportage
Ukraine
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