# taz.de -- Postsowjetische Ungerechtigkeit: Das Chaos exportieren | |
> Korruption und wirtschaftliche Stagnation schüren den Unmut in | |
> Ex-UdSSR-Staaten. Der Krieg soll Russland vor einer inneren Explosion | |
> bewahren. | |
Bild: 99,99-prozentige Goldbarren in Russland: Die reichsten 10 Prozent haben i… | |
Der [1][Krieg in der Ukraine] wurde nicht durch die geopolitische | |
Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, sondern durch die Struktur | |
der postsowjetischen Gesellschaft selbst unvermeidlich. Die Herrschenden in | |
Russland hatten keinen anderen Ausweg aus der Sackgasse, in die sie geraten | |
waren. Im November 2021 veröffentlichte [2][Wladislaw Surkow], einer der | |
Hauptarchitekten des Putin-Regimes, einen Artikel, in dem er feststellte, | |
dass die einzige Möglichkeit, Russland vor einer inneren Explosion zu | |
bewahren, darin bestehe, das Chaos nach außen zu exportieren. | |
Das postsowjetische Russland hat sich in den 30 Jahren seines Bestehens zu | |
einer Kastengesellschaft entwickelt. Dieser Wandel begann mit der | |
Schocktherapie und der kriminellen Privatisierung in den 1990er Jahren, die | |
den nationalen Reichtum in den Händen einer kleinen [3][Oligarchie] | |
konzentrierte. Unter der Herrschaft Putins wurde die soziale Ungleichheit | |
weiter befestigt. Die unantastbaren Spitzenbeamten geben ihre Macht de | |
facto durch Vererbung weiter. | |
Der Sohn des Chefs des Sicherheitsrats Nikolai Patruschew, Dmitri, ist | |
Landwirtschaftsminister. Der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten und | |
Direktors des Auslandsgeheimdienstes, Michail Fradkow, ist | |
stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung. Es gibt Hunderte solche | |
Beispiele. Soziale Mobilität gibt es kaum noch. Untersuchungen zeigen, dass | |
die reichsten 10 Prozent der russischen Stadtbewohner in 70 Prozent der | |
Fälle ihren Reichtum von ihren Eltern geerbt haben. | |
Eine solche Sozialstruktur macht wirtschaftliches Wachstum unmöglich. Das | |
durchschnittliche BIP-Wachstum betrug in den 2010er Jahren weniger als ein | |
Prozent pro Jahr. Die Einkommen der Bevölkerung sind seit 2014 rückläufig. | |
Dies führte zu wachsendem Unmut, vor allem unter den jungen Menschen, die | |
keine Zukunft in einem Land sehen, das in feudale Archaik verfallen ist. | |
Alle Versuche, eine autoritäre Modernisierung nach chinesischem Vorbild | |
voranzutreiben, scheiterten, weil sie die etablierte Verteilung von Macht | |
und Reichtum, die Kontrolle über die wichtigsten Güter des Landes, | |
untergruben. Der Staatsapparat hatte nur einen Zweck: die Erträge aus der | |
Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen der alternden | |
Oligarchie zu halten. | |
## Teure Bestechung | |
Um diese Aufgabe zu bewältigen, bestach der Kreml systematisch Eliten auf | |
allen Ebenen. Die Korruption verschlang jährlich Summen, die vergleichbar | |
mit dem gesamten russischen Haushalt sind. Das Ausmaß wurde deutlich, als | |
Hunderte Millionen Rubel und zahlreiche Wertgegenstände aus dem Palast des | |
ehemaligen Gouverneurs der Region Pensa, Iwan Belosertsew, entwendet | |
wurden. | |
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski [4][beschrieb], dass Moskau in | |
den Nachbarländern mit den gleichen Methoden um Einfluss ringt. Putins | |
Entourage hat ukrainische Oligarchen, Regionalpolitiker und Vollzugsbeamte | |
korrumpiert. Doch die wirtschaftliche Stagnation schränkte die | |
Möglichkeiten des Kremls ein, sich Loyalität zu erkaufen. Konflikte | |
zwischen Putins engsten Oligarchen und regionalen „Baronen“ traten an die | |
Oberfläche. | |
Die Verhaftung des Gouverneurs von Chabarowsk, Sergei Furgal, löste die | |
[5][Massenproteste im Jahr 2020] aus. Infolge der Pandemie gerieten die | |
regionalen und lokalen Haushalte endgültig aus dem Gleichgewicht. Der | |
drohende Bankrott der Regionen untergrub die Loyalität der lokalen Eliten. | |
Die belarussische Krise 2020 hat gezeigt, dass der Kreml den Wettbewerb um | |
Einfluss in den postsowjetischen Ländern verliert. | |
## Partei des Krieges | |
Viele belarussische Diplomaten und Beamte, darunter einer der Gouverneure, | |
unterstützte daraufhin die Opposition. Um an der Macht zu bleiben, musste | |
[6][Alexander Lukaschenko] mit blankem Terror gegen die Demonstranten | |
vorgehen. Russland stationierte seine Truppen entlang der belarussischen | |
Grenze, um seine Bereitschaft zu demonstrieren, mit Gewalt die Kontrolle | |
über das Land zu behalten. | |
Um die Loyalität der „Vasallen“ im In- und Ausland aufrechtzuerhalten, | |
bediente sich Russland nicht nur der üblichen Korruption, sondern zunehmend | |
auch der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Es bildete sich eine „Partei | |
des Krieges“, die den Ausweg aus der Sackgasse darin sah, den Westen dazu | |
zwingen, den „politischen Markt“ der postsowjetischen Länder zu verlassen. | |
Die nach außen gerichtete Gewalt erschien als das perfekte Mittel, um | |
Unruhen innerhalb Russlands zu verhindern. | |
„Die soziale Entropie ist sehr giftig“, so schrieb Wladislaw Surkow. „Sie | |
muss exportiert und im Ausland entsorgt werden.“ Wenn der Blitzkrieg | |
gelungen wäre, hätte die Putin-Oligarchie ein paar Jahre Friedhofsruhe | |
genießen können. Doch der „Entropieexport“ ist gescheitert. Aber für die | |
„Partei des Krieges“ gibt es keinen Weg zurück. Diese Leute in der Armee, | |
im Geheimdienst und im Propagandaapparat werden alles durch den Frieden | |
verlieren. Und jeder Tag des Gemetzels stärkt ihre Position innerhalb des | |
Machtapparats. | |
Die „Partei des Krieges“ ist keine zufällige Koalition von verrückten | |
Nationalisten. Sie ist das zwangsläufige Produkt einer Gesellschaft der | |
unbeweglichen Ungleichheit. Das wahre Fleisch und Blut des Putinismus sind | |
jene 100.000 reichen Russen mit Vermögen von mehr als 2 Millionen Euro, das | |
sie sicher in Residenzen in Westeuropa verwahren. Sie sind es, die – mit | |
der vollen Unterstützung der westlichen Regierungen – das Putin-Regime | |
geschaffen haben und nun weiterhin das tägliche Funktionieren der Diktatur | |
sicherstellen. | |
Solange Russland zu diesem gesellschaftlichen Monster gehört, wird der | |
Krieg niemals enden. Die herrschende Kaste wird in der Gewalt einen Ausweg | |
aus der Sackgasse suchen. Um diese Bestie ihrer Macht und ihres Reichtums | |
zu berauben, ist auch der Westen gefragt. | |
Aus dem Englischen von Jan Schroeder | |
11 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[2] /Politik-im-Kreml/!5662848 | |
[3] /Russlands-Geldadel/!5838960 | |
[4] https://meduza.io/feature/2022/03/27/eto-ne-prosto-voyna-vse-gorazdo-huzhe | |
[5] /Proteste-im-Fernen-Osten-Russlands/!5699240 | |
[6] /Proteste-in-Belarus/!5710976 | |
## AUTOREN | |
Alexey Sakhnin | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Wladimir Putin | |
Oligarchen | |
soziale Unruhen | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Belarus | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Museum Berlin-Karlshorst am 8. Mai: Zwei Flaggen fehlen | |
NS-Gedenkstätten sind gezwungen, sich mit dem Ukrainekrieg zu beschäftigen. | |
Ein Abend am Ort der deutschen Kapitulation in Berlin. | |
Nachruf auf Staatschef von Belarus: Streiter für ein freies Belarus | |
Der erste Staatschef von Belarus, Stanislaw Schuschkewitsch, ist im Alter | |
von 87 Jahren in Minsk gestorben. Zuvor hatte er Corona. | |
Belarussische Kunst in Polen: Reise nach Białystok | |
An der polnischen Grenze zu Belarus stellen belarussische Künstler aus, was | |
sie in ihrer Heimat nicht mehr zeigen können. Um die Ecke ist der Krieg. | |
Postsowjetische Menschen in Deutschland: Irrwege und Lektionen | |
Rund 3,5 Millionen postsowjetische Migrant*innen leben hier. Lange waren | |
sie unsichtbar – anders als heute. Wurden ihre Warnungen gehört? | |
Zentralasien und der Ukrainekrieg: U-Haft und Proteste | |
In Kirgistan werden Journalisten wegen ihrer Berichterstattung unter Druck | |
gesetzt. In Kasachstan gehen Menschen gegen den Krieg auf die Straße. |