| # taz.de -- Musiker:innen aus der Ukraine: Musik wird zum Auffangnetz | |
| > Unter den Geflüchteten aus der Ukraine befinden sich auch viele | |
| > Musiker:innen. Einblicke in den Alltag dreier Musiker:innen. | |
| Bild: Eine der vorgestellten drei Musiker:innen ist Viktoria Mendzhul. Sie pack… | |
| Als Musiker hast du Kontakte in zahlreiche Metropolen, da hilft dir | |
| eigentlich immer ein Freund von einem Freund weiter – und das ist gerade | |
| jetzt sehr nützlich“ sagt Yuriy Seredin. Der Pianist und Komponist aus Kiew | |
| hat vor einigen Jahren am Jazzinstitut Berlin studiert und immer wieder in | |
| verschiedenen Ländern Europas gejamt und gearbeitet. „Ich hatte also | |
| bereits zahlreiche Kontakte und so ist der Weg in ein fremdes Land und auch | |
| das Neuankommen für mich sehr viel leichter als für andere Leute – ich | |
| fühle mich von der Musikgemeinschaft sehr unterstützt“, so Seredin. | |
| Der 34-Jährige wurde vom Krieg überrascht. Er war gerade im Spanienurlaub, | |
| als der Angriff Russlands auf die Ukraine startete. Nachdem Seredin | |
| realisierte, was da gerade in seiner Heimat passierte, beschloss er, nicht | |
| nach Hause, sondern nach Berlin zu fliegen. Seine ehemalige Professorin, | |
| die aktuell im Ausland lebt, bot ihm sofort ihre Wohnung an, in der auch | |
| ein Flügel vorhanden ist. So kann der Musiker selbst in der Diaspora | |
| weiterarbeiten und seine tägliche Routine am Klavier fortsetzten. | |
| Denn in Kiew hatte sich Yuriy eine Karriere [1][als Musiker und Komponist | |
| aufgebaut]. Er will jetzt nicht nachlassen, hat Aufträge und arbeitet an | |
| Filmsoundtracks. Seine Gedanken sind meist in der Heimat und das Musizieren | |
| fällt ihm oft nicht leicht. „Zu Anfang fühlte ich mich wie ein Roboter und | |
| konnte kaum spielen“, erzählt Seredin leise. | |
| Jetzt könne er zwar wieder musizieren, dennoch falle es ihm oftmals schwer, | |
| sich zu konzentrieren. Durch die Gedankenflut in seinem Kopf sei er | |
| abgelenkt und das Komponieren werde zur Schwerstarbeit, berichtet er | |
| weiter. Russische Musik hat Serdin vorerst aus seinem Repertoire gestrichen | |
| und die Zusammenarbeit mit russischen Künstler:innen abgesagt – auch aus | |
| Respekt vor den Opfern des Kriegs. „Momentan ist es für mich als Musiker | |
| und ukrainischer Bürger unmöglich, mit Russen gemeinsam Musik zu machen – | |
| das geht einfach nicht, während Menschen in der Ukraine sterben“, betont | |
| er. Manchmal plagt ihn auch das schlechte Gewissen, als Mann nicht in | |
| seiner Heimat zu sein. Dort ist es Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren | |
| wegen der Mobilmachung in Kriegszeiten nicht erlaubt, das Land zu | |
| verlassen, um kampfbereit vor Ort zu sein. | |
| Doch Seredin hat das Schießen nie gelernt. „Ich habe nie Militärdienst | |
| geleistet, bin darin nicht geschult. Ich denke, dass ich hier nützlicher | |
| bin, weil ich mit Benefizkonzerten Geld verdiene“, erklärt er. Seine Erlöse | |
| schickt der Musiker an die medizinische Versorgung der ukrainischen Armee. | |
| So unterstützt er seine [2][Landsleute auf seine Art aus der Ferne]. | |
| Yuriy Seredin, Pianist und Komponist, 34 Jahre, aus Kiew | |
| ## Auf Europa – Tour um zu helfen | |
| Auch die Harfenistin Veronika Lemishenko hilft mit erspielten Einnahmen | |
| zahlreichen Ukrainer:innen. Dafür tourt sie durch ganz Europa, um | |
| Musiker:innen, die durch den Krieg heimat- und arbeitslos geworden sind, | |
| mit ihren Konzerterlösen unter die Arme zu greifen. Der Angriffskrieg | |
| Putins hatte für die Harfenistin selbst zunächst schwerwiegende Folgen. Sie | |
| musste ihren Arbeitsplatz verlassen – denn der lag in Russland in der | |
| Industrie- und Universitätsstadt Jekaterinburg. Dort spielte sie in einem | |
| Orchester und unterrichtete an einer Musikhochschule. „Als der Krieg | |
| begann, habe ich natürlich sofort gekündigt, denn es wäre für mich | |
| unmöglich, in einem Land zu arbeiten, welches meine Heimat angreift“, sagt | |
| Lemishenko. Ihre russischen Kolleg:innen reagierten unterschiedlich, | |
| berichtet sie weiter. Einige sagten ihr, dass [3][sie sich schämten, andere | |
| blieben still.] | |
| Auch sie konnte auf ihr weit gespanntes Musiknetzwerk zurückgreifen und | |
| flüchtete nach Maribor in Slowenien. Ein befreundeter Musiker, der dort | |
| arbeitet, hatte ihr eine Unterkunft angeboten. Die Harfenistin nahm an und | |
| startet von Maribor aus zu ihren zahlreichen Benefizkonzerte. Auf diesen | |
| erlebt sie sich als Musikerin von einer neuen Seite, sagt sie. Denn bisher | |
| standen bei Konzerten hauptsächlich ihre eigenen Anliegen im Mittelpunkt, | |
| etwa ob sie einen Wettbewerb gewinnt oder ob das Konzert von den | |
| Kritiker:innen gut aufgenommen wird. „Bei den Benefizkonzerten geht es | |
| nicht mehr um mich, sondern um die Sache an sich“, sagt die Harfenistin. | |
| Dadurch habe sie eine viel intensivere Verbindung zur Musik und zum | |
| Publikum bekommen, denn sie weiß: Alle Leute sind hier vereint, [4][um die | |
| Ukraine zu unterstützen]. So eine Übereinkunft habe sie noch nie zuvor | |
| gespürt, sagt Lemishenko. | |
| Veronika Lemishenko, Harfenistin, 33 Jahre, floh aus Jekaterinburg | |
| ## Als erstes wurde die Violine eingepackt | |
| Die Violinistin Viktoria Mendzhul befindet sich in Kiew, als der | |
| [5][russische Angriffskrieg] beginnt. Für die Musikerin erscheint ihre | |
| Kunst zunächst sinnlos – sie stellt ihre Violine beiseite und macht sich | |
| lieber als Voluntärin in einer Suppenküche nützlich. „Doch dann wurde mir | |
| plötzlich klar, was für eine Kraft Musik besonders in diesen Zeiten hat“, | |
| sagt die 21-Jährige. | |
| Musik transportiert Emotionen, kann einigend wirken und ist in ihrer | |
| einzigartigen Sprache über alle Nationen hinweg verständlich – Mendzhul | |
| will die Menschen durch ihre Musik wachrütteln und spielt heute | |
| hauptsächlich Stücke ukrainischer Komponist:innen, die sie in Videos auf | |
| Social-Media-Kanälen postet oder auf Solidaritätskonzerten spielt. „Ich | |
| möchte die Welt durch meine Musik spüren lassen, wie es um meine Heimat und | |
| um meine Landsleute steht“, betont die Musikerin. | |
| Bis vor ein paar Monaten führte Viktoria Mendzhul ein recht normales Leben. | |
| Sie studierte am Musikkonservatorium in Kiew und war dort Mitglied im | |
| Symphonieorchester. Der Krieg kam für sie nicht unerwartet. So hatte die | |
| Studentin schon Wochen vorher – wie viele Einwohner:innen der Ukraine – | |
| eine Tasche mit wichtigen Dokumenten vorbereitet. „Aber psychisch bist du | |
| niemals auf so etwas vorbereitet“, sagt sie. Mendzhul erinnert sich, wie | |
| sie in ihrem Zimmer stand, um zu entscheiden, was sie auf ihre Flucht | |
| mitnehmen soll. „Meine ganze Welt in einem Koffer – es war einfach | |
| schrecklich“, sagt sie. | |
| Ihre Violine war das Erste, was sie einpackte, lacht sie leise. Die | |
| Studentin zieht zu ihren Eltern nach Ternopil im Westen der Ukraine, wo sie | |
| zunächst in Sicherheit ist. Die Situation verschärft sich – immer mehr | |
| Ziele werden bombardiert. Und so greift auch Mendzhul auf ihr Netzwerk | |
| zurück, das sie in zahlreichen Musikseminaren oder auf Konzerten im Ausland | |
| geknüpft hat. Sie bittet die Musikakademie in Prag um Hilfe, wird dort | |
| aufgenommen und reist mit dem Bus aus der Ukraine in die Tschechische | |
| Republik. Ihre Eltern bleiben in der Ukraine, denn der 55-jährige Vater | |
| darf nicht ausreisen und die Mutter will ihren Mann nicht alleine | |
| zurücklassen. Außerdem wird sie als Krankenschwester im Land gebraucht wie | |
| noch nie. | |
| Im Konservatorium angekommen, kann sie am Unterricht teilnehmen, bekommt | |
| eine Unterkunft im Wohnheim der Hochschule und spielt mit im Orchester | |
| Chezka Sinfonietta. Wie die meisten ukrainischen Musiker:innen hat auch | |
| sie russische Komponisten vorerst aus ihrem Repertoire gestrichen, denn | |
| Musik wird für die Violinistin [6][in Kriegszeiten] zum Politikum. „Kultur, | |
| also auch Musik, ist das Gesicht unserer nationalen Identität – über die | |
| Kultur können wir der Welt zeigen, wer wir sind und uns politisch | |
| positionieren“, sagt sie. | |
| Viktoria Mendzhul, Violinistin, 21 Jahre, floh aus Kiew | |
| 16 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Theodora Mavropoulos | |
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