# taz.de -- Streit um ukrainisches Holodomor-Museum: Erst Stalin, dann Putin | |
> Ein Museum soll an den Genozid an den Ukrainern unter Stalin erinnern. | |
> Vielen erscheint er als Blaupause für das heutige Vorgehen Russlands. | |
Bild: Fürs Erste ist der Weiterbau gestoppt: Bauarbeiten am Holodomor-Museum i… | |
Die Ukraine kämpft gleichzeitig an mehreren Fronten. So bemühen sich | |
Diplomaten hartnäckig darum, dass der Holodomor (die große Hungersnot) in | |
der Ukraine in den Jahren 1932/33 als ein Akt des Völkermords am | |
ukrainischen Volk international anerkannt wird. 21 Staaten sowie die | |
Europäische Union haben das bereits getan – zuletzt verabschiedete der | |
italienische Senat am 27. Juli eine entsprechende Resolution. | |
Präsident Wolodimir Selenski hat nun jedoch sein Veto gegen ein Gesetz | |
eingelegt, das die Bereitstellung von 573 Millionen Hrywna (umgerechnet 15 | |
Millionen Euro) aus der Staatskasse für die Fertigstellung des | |
Holodomor-Museums vorsieht. Die Bauarbeiten in Kyjiw hatten bereits 2008 | |
begonnen. Der Zweck der Schaffung des Museums war, Wissen über den | |
Holodomor in der Ukraine selbst, aber auch weltweit zu verbreiten. | |
2006 erkannte das ukrainische Parlament den Holodomor als Völkermord am | |
ukrainischen Volk an. In der Ukraine vereint das Thema des Holodomor den | |
Osten und den Westen des Landes. Laut einer repräsentativen Meinungsumfrage | |
im Sommer 2023 stuften 91 Prozent der Befragten den Holomodor als Genozid | |
ein. | |
Von einem solchen Konsens noch weit entfernt ist die Betrachtung der | |
Geschichte der UPA – der Ukrainischen Aufständischen Armee. Die meisten | |
Ukrainer*innen glauben, dass die UPA während und nach dem Zweiten | |
Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus und den Bolschewismus gekämpft | |
habe. Nur einige sind der Ansicht, dass die Nationalisten mit den Nazis | |
kollaboriert hätten. | |
## Die Blockade von Dörfern und ganzen Regionen | |
Das Ukrainische Institut für Nationales Gedenken geht davon aus, dass | |
Stalin, um den Völkermord zu organisieren, seinerzeit auf eine vollständige | |
Konfiszierung von Lebensmitteln, eine Blockade und verstärkten Terror | |
zurückgegriffen hatte. | |
„Die Hungersnot von 1932/33 war nicht die Folge einer Naturkatastrophe, | |
einer Dürre oder eines Ernteausfalls. Die Tragödie wurde durch die | |
gewaltsame Beschlagnahme von Nahrungsmitteln, die Blockade von Dörfern und | |
ganzen Regionen, ein Verbot von Ausreisen aus der Ukraine, die | |
Einschränkung des ländlichen Handels und Repressionen verursacht. Die | |
Kommunisten haben für die Ukrainer*innen mit dem Leben unvereinbare | |
Bedingungen geschaffen und dadurch einen Massenmord durch Aushungern | |
begangen“, heißt es in einer Erklärung des Instituts für Nationales | |
Gedenken. | |
Die von Historikern anerkannten demografischen Verluste der Ukraine durch | |
den Holodomor belaufen sich auf 4,5 Millionen Opfer. Die Direktorin des | |
Holodomor-Museums, Lesya Gasidzhak, erinnert daran, [1][dass es bei | |
Völkermord nicht um die Zahl der Opfer geht], sondern um die absichtliche | |
Art und die Methoden der Vernichtung. | |
## Ähnliche Instrumente der Unterdrückung | |
Gasidzhak weist auch darauf hin, dass 90 Jahre nach dem Holodomor erneut | |
mit Methoden des Völkermords gegen Ukrainer*innen vorgegangen werde. | |
Russische Besatzer töteten und deportierten Ukrainer*innen, zerstörten | |
Städte, zündeten ukrainische Bücher an und vernichteten das kulturelle | |
Erbe. | |
„Der Holodomor wurde vom kommunistischen totalitären Regime begangen – | |
einem Vorläufer von Putins Faschismus. Jetzt verfolgt Russland dasselbe | |
Ziel wie 1932/33 und nutzt ähnliche Instrumente der Unterdrückung. Stalin | |
im 20. Jahrhundert und Putin im 21. Jahrhundert haben sich für einen | |
Völkermord entschieden, weil andere Methoden zur Befriedung der | |
Ukrainer*innen nicht funktioniert haben“, sagt Gasidzhak. | |
## Praktiken des historischen Gedächtnisses | |
Mir dem Bau des Holodomor-Museums in Kyjiw wurde während der Amtszeit von | |
Präsident Wiktor Juschtschenko (2005 bis 2010) begonnen. Damals entstanden | |
im Zentrum von Kyjiw, in der Nähe des Monuments für die Opfer des Zweiten | |
Weltkriegs, ein Denkmal eines Mädchens mit einer Kerze sowie ein Gedenksaal | |
mit Informationsständen. Dann änderte sich die Politik: Als Wiktor | |
Janukowitsch von 2010 bis 2014 ukrainischer Staatschef war, wurde die Frage | |
eines angemessenen Respekts gegenüber den Opfern des Holomodor | |
ausgeblendet. Die Bauarbeiten am Museum wurden erst 2017 unter | |
Janukowitschs Nachfolger Petro Poroschenko wieder aufgenommen. | |
Die Museumsdirektorin hält das Projekt der künftigen Institution für | |
einzigartig. Es würden zeitgenössische Ausstellungen und Praktiken des | |
historischen Gedächtnisses gezeigt. Laut Gasidzhak hätten | |
Historiker*innen Exponate über das Leben derjenigen gesammelt, die | |
durch den Völkermord ums Leben kamen, sowie derer, die es schafften zu | |
überleben. Wissenschaftler*innen planen außerdem, Massengräber von | |
Opfern der Hungersnot zu exhumieren und ihre Erkenntnisse Archiven zur | |
Verfügung zu stellen. | |
„Das Holodomor-Museum soll der Welt vermitteln, was wir erlebt haben und | |
wogegen wir jetzt kämpfen. Im Dezember 2022 hat der Deutsche Bundestag | |
beschlossen, [2][den Holodomor als Völkermord an den Ukrainer*innen | |
anzuerkennen]. Mehrere deutsche Fernsehsender haben uns besucht. Aber diese | |
Aufklärungsarbeit müssen wir auch unter den Ukrainer*innen leisten“, | |
sagt Gasidzhak. | |
## Das Veto des Präsidenten | |
Selenski begründet seine Entscheidung, derzeit kein Geld für die | |
Fertigstellung des Museums bereitzustellen, damit, dass Ausgaben für das | |
Museum während des Krieges keine Priorität hätten. Die Hauptaufgabe des | |
Staates bestehe darin, die russische Aggression abzuwehren. | |
Einige Beobachter*innen bezeichneten dieses Vorgehen als populistisch. | |
Sie glauben, dass Selenski dem Druck eines Teils der Gesellschaft | |
nachgegeben und deshalb ein Veto gegen die Mittelvergabe eingelegt habe. | |
Die Entscheidung des Parlaments über die Freigabe von umgerechnet 15 | |
Millionen Euro für das Holodomor-Museum hatte für Empörung bei | |
Social-Media-Nutzer*innen gesorgt, die eine Finanzierung der Armee | |
ebenfalls für wichtiger halten. | |
„Den Menschen wurde nicht erklärt, woher das Geld im Haushalt kommt und wie | |
es ausgegeben wird. Dazu kamen mehrere Skandale, über die in den Medien | |
berichtet wurde. Zum Beispiel über den Kauf von Gegenständen für | |
Luftschutzbunker in Kyjiw. Die Resonanz darauf hat wohl das Veto des | |
Präsidenten provoziert“, sagt der Abgeordnete Wolodimir Tsabal, der im | |
Haushaltsausschuss sitzt. | |
## Kampf für das historische Gedächtnis | |
Der Direktor des Instituts für Nationales Gedächtnis, Anton Drobowitsch, | |
ist davon überzeugt, dass die Gelder, die das Parlament fürs Museum | |
freigegeben habe, nicht der Armee zugutekommen sollten. Alle in der Ukraine | |
erhobenen Steuern gingen an die Armee. Der Rest des Budgets bestehe aus | |
Zahlungen internationaler Geber. Mit der Fertigstellung des Museums könne | |
nicht bis zum Sieg gewartet werden. | |
„Je früher wir das Museum öffnen, desto deutlicher werden wir zeigen, wofür | |
wir heute an der Front kämpfen – vor allem auch für das historische | |
Gedächtnis“, sagt der Wissenschaftler. Er sei bereit, Gespräche mit der | |
Regierung und im Präsidialamt zu führen, um die Hauptarbeiten im Jahr 2023 | |
abzuschließen. Geschehe dies nicht, sei der Bau gefährdet. Es müssten | |
Arbeiten am Dach abgeschlossen und das Gebäude getrocknet werden. | |
Andernfalls würden Regen und Schnee das, was bereits gebaut wurde, | |
zerstören. | |
## Eine Investition in die Zukunft | |
„Natürlich braucht die Armee Drohnen, aber auch das Holodomor-Museum ist | |
wichtig. Es ist eine Investition in die Zukunft. Bei Mitteln, die in die | |
Kultur investiert werden, geht es nicht um gekaufte Tomaten. Solche | |
Investitionen amortisieren sich nach 15 Jahren“, sagt die Museumsleiterin | |
Lesya Gasidzhak. Sie argumentiert so: Wenn sich die Ukraine jetzt nicht | |
mit ihrem historischen Gedächtnis beschäftigt, werden die kommenden | |
Generationen das Gesicht des Aggressors schnell vergessen. | |
„Die Ereignisse des Holodomor sind die Wurzeln der heutigen | |
Widerstandskraft der Ukraine und ihrer Entschlossenheit, für die | |
Unabhängigkeit zu kämpfen. Damals haben wir überlebt, obwohl wir keinen | |
eigenen Staat hatten“, sagt Gasidzhak. | |
Die Journalistin Marina Daniljuk-Jarmolajewa sagt, sie sei als | |
Steuerzahlerin bereit, Mittel für das Museum bereitzustellen, weil es „eine | |
Investition in die zukünftige Grundlage der ukrainischen Geschichte und | |
Staatlichkeit“ sei. „Ein qualitativ hochwertiges Museum des Holodomor | |
erinnert daran, was die Besatzer tun, wenn es ihnen gelingt, die Ukraine zu | |
erobern. Sie töten nicht nur Menschen, sondern löschen auch das historische | |
Gedächtnis aus. Der Holodomor von 1932/33 war eine Blaupause für das | |
russische Imperium“, schreibt die Journalistin. | |
Der Publizist Witali Portnikow erwähnt in diesem Zusammenhang heutige | |
russische Angriffe auf Häfen, bei denen ukrainisches Getreide vernichtet | |
wird. Er erinnert daran, dass Wladimir Putin versuche, eine große | |
Hungersnot in der Welt herbeizuführen und eine neue Migrationskrise in | |
Europa zu provozieren. „Putins Pläne folgen Josef Stalin und anderen | |
russischen Herrschern, die mit Hilfe von Hunger und Armut die politischen | |
Pläne des russischen Imperiums ins Werk gesetzt haben“, sagt Portnikow. | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
13 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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