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# taz.de -- Holodomor, die Hungersnot in Kasachstan: Der Irrsinn des Hungers
> Die Hungersnot von 1932/1933 in Kasachstan hinterließ ein Trauma. In der
> Region sind sich die Menschen einig, ob man sie „Genozid“ nennen soll.
Bild: Gedenken an die Hungerkatastrophe der Jahre 1932-33, den Holodomor, am 26…
Was kann schlimmer sein als Hunger? Stellen Sie sich vor, dass Ihre ganze
Familie von zwei Kühen und zehn Hühnern ernährt wird. Dank dieser Tiere
haben Sie Fleisch, Milch und Eier: Frühstück, Mittagessen und Abendbrot.
Und jetzt stellen Sie sich vor, dass man Ihnen das alles einfach wegnimmt.
Was bedeutet: kein Frühstück mehr, kein Mittagessen und auch kein
Abendbrot.
Der 31. Mai ist in Kasachstan Tag der politischen Massenrepressionen der
Jahre 1932/1933 und der schrecklichen Hungersnot, während der,
unterschiedlichen Angaben zufolge, allein hier zwischen einer und zwei
Millionen Menschen umkamen. Aber unter den Repressionen litten nicht nur
die Menschen in Kasachstan, sondern auch in anderen Republiken des
ehemaligen sowjetischen Blocks, in dem infolge der sowjetischen
Regierungspolitik die Menschen verhungerten – oder ihren gesamten Besitz
verkauften, um auf der Suche nach Nahrung überhaupt fortgehen zu können.
Auch meine Urgroßmutter ist damals gegangen, die Mutter meines Großvaters
mütterlicherseits. Mit ihrer Familie hat sie die Stadt Semei im Osten
Kasachstans verlassen und ist nach Jessik im Süden des Landes gezogen. In
Semei wütete der Hunger, die Menschen aßen einander auf. Also gingen sie –
zu Fuß. 1.350 Kilometer durch Steppen und Flüsse. Sie dachten, im Süden
würde es Getreide geben und Brot. Ihr Brot haben sie dort gefunden. Ihre
Nachkommen leben dort bis heute.
Meine Großmutter väterlicherseits wurde durch den schrecklichen Hunger von
ihrer Familie getrennt. Um zu überleben, gab man sie zu reichen Tataren.
Dort wurde sie großherzig aufgenommen, man gab ihr zu essen und zog sie
auf. Die Nachkommen beider Familien stehen bis heute in freundschaftlichem
Kontakt. In jeder kasachischen Familie gibt es vermutlich solche oder
ähnliche Geschichten. Der Holodomor bzw. der Ascharschylyk, wie die
Hungersnot in Kasachstan genannt wird, ist das psychologische Trauma des
ganzen Volkes, für das bislang niemand die Verantwortung übernommen hat.
Bis heute versuchen viele Menschen, ihren Schmerz künstlerisch zu
verarbeiten.
## Geschichte mündlich von Generation zu Generation erzählt
Für mich ist es schwer, [1][die Geschichte meiner eigenen Familie zu
rekonstruieren]. Wie sie überhaupt überlebt haben auf ihrem Weg durch
Flüsse und Steppen, woran sie dabei dachten, wovon sie träumten. Alle diese
Menschen leben nicht mehr, geblieben sind nur ein paar rudimentäre
Erinnerungen. Aber es gibt auch Familien, die diese Geschichten detailliert
mündlich von Generation zu Generation weitergegeben haben.
Die Geschichte einer solchen Familie hat 2017 die Journalistin Gulnar
Tankajewa erzählt. In der Familie starben nacheinander drei Kinder an
Hunger, das jüngste wurde nur drei Jahre alt. Die Mutter war so geschwächt,
dass sie sich nicht einmal mehr an ihre eigenen Gefühle erinnern konnte.
„Das ist der Irrsinn. Der Irrsinn des Hungers. Er hat meine Oma, die Mutter
meiner Mutter, und ihre Schwestern dazu gebracht, das Kind der Nachbarn zu
essen. Ein kleines Mädchen. Sie haben sie gestohlen. Meine Mama erzählt,
sie sei davon aufgewacht, dass man ihr mit einem Löffel heiße Brühe
einflößte … Ihre Mutter, meine Oma, verlor kurz vor ihrem Tod den Verstand.
Jedes Kleinkind nannte sie … Vielleicht sage ich besser nicht, wie dieses
Mädchen hieß. Allerdings rief meine Oma jedes Mädchen in unserer Familie
bei diesem Namen. Mich übrigens auch“, sagt eine der Protagonistinnen des
Artikels, eine Künstlerin namens Alia.
Die Leute fragen oft: Wem soll man jetzt die Schuld an all dem geben? Die
damaligen politischen Machthaber gibt es schon längst nicht mehr,
Verstorbene holt man nicht zurück. Und wir sind nicht allein mit unserem
Leid. Durch diese organisierten Hungersnöte starben Menschen in der
Ukraine, in Kasachstan, im Kaukasus, in der russischen Schwarzerde-Region,
im Wolgagebiet, in Sibirien und auch in den Teilen Russlands, wo diejenigen
lebten, die die Beschlagnahmung von Vieh und Getreide befohlen hatten.
Das Vieh nahm man manchmal aus Boshaftigkeit mit. Die beschlagnahmten
Rinder wurden sofort getötet, weil man so viele Tiere gar nicht auf einmal
hätte versorgen können. Viele Menschen aber waren auch von der Politik der
Enteignungen, von Beschlagnahmung des Eigentums und von Vertreibungen
betroffen. Auch einige meiner Verwandten wurden ihres Eigentums beraubt und
nach Sibirien deportiert.
## Die Genozid-Frage ist in diesen Ländern längst geklärt
Diskussionen, ob man diese Ereignisse Genozid nennen könne und solle,
reißen nicht ab. In den betroffenen Ländern ist man sich in dieser Frage
längst einig. [2][Viele möchten, dass der Holodomor als Genozid bezeichnet
wird]. Viele Opfer? Eindeutig ja. Millionen tragischer Geschichten? Gibt
es. Schmerz durch ein Gefühl der Ungerechtigkeit: vorhanden. Eine Form von
Anerkennung der riesigen Narbe, die in den Ländern des ehemaligen
Sowjetblocks hinterlassen wurde? Fehlanzeige.
Manche Menschen sagen auch, ein Genozid sei die bewusste Ausrottung einer
bestimmten Nation, während im Holodomor die Machthaber einfach alle
niedermähten. Deshalb schlagen sie einen anderen Begriff vor, der im
Russischen noch nicht weit verbreitet ist. Ich selbst habe ihn erst vor
Kurzem zum ersten Mal gehört: „Soziozid“, die soziale Vernichtung einer
gesellschaftlichen Schicht oder Klasse. Wie dem auch sei, eins ist klar:
Für unsere Gesellschaft ist es wichtig, dass die Verbrechen der
sowjetischen Machthaber an der Bevölkerung der Länder der Ex-Sowjetunion
durch die internationale Gemeinschaft anerkannt werden.
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
15 Jun 2023
## LINKS
[1] /Gebietsansprueche-Russlands-in-Kasachstan/!5914427
[2] /Holodomor-in-der-Sowjetunion/!5895422
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Khadisha Akaeva
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