# taz.de -- NS-Verbrechen in der Ukraine: Auf der Spur der Täter | |
> Viele Deutsche wollen wissen, welche Verbrechen Familienangehörige | |
> während des NS in der Ukraine begangen haben. Ein Historiker hilft dabei. | |
Für seine Kunden fertigt Johannes Spohr oft historische Karten an, aus der | |
Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er trägt Städte und kleinere Orte ein, dazu | |
einzelne Kriegsereignisse und Routen, die Wehrmachtseinheiten oder | |
Einsatzgruppen genommen haben. In den ersten Wochen nach [1][Russlands | |
Überfall auf die Ukraine] sei ihm das aber schwer gefallen, erzählt er in | |
einem Eckcafé in Berlin-Neukölln. „Die ersten zwei Monate habe ich kaum an | |
meinen Aufträgen arbeiten können.“ | |
Viele der Städte und Dörfer, die Johannes Spohr in die Karten eintrug, | |
tauchten plötzlich Tag für Tag in den Nachrichten auf. Wo | |
Wehrmachtssoldaten und SS-Männer vor 80 Jahren abgründige Verbrechen | |
begangen hatten, herrschte jetzt wieder Krieg, wurde wieder getötet, | |
gefoltert, geplündert, vergewaltigt. | |
Johannes Spohr ist Historiker, er bietet einen besonderen Service an. Wer | |
wissen möchte, was seine Großeltern oder Urgroßeltern in der Zeit des | |
Nationalsozialismus gemacht haben, wie sehr die eigenen Vorfahren womöglich | |
in Verbrechen verstrickt waren, kann ihn mit der Suche in Archiven | |
beauftragen. Er durchforstet dann Wehrmachtsakten, Einsatzpläne, | |
Kriegstagebücher, Parteiunterlagen, Entnazifizierungsprotokolle. | |
Spohr, 40 Jahre alt, spricht vorsichtig, abwägend. Oft macht er eine kurze | |
Pause, bevor er antwortet. Er trägt Sneakers und im linken Ohr einen | |
silbernen Ring. Als Ausgangspunkt brauche er Namen und Geburtsdatum der | |
Angehörigen, sagt er. Aber auch alle weiteren Unterlagen aus der Zeit | |
würden helfen. | |
## Spuren vieler Deutschen führen in die Ukraine | |
Die Spuren vieler deutscher Familien aus der Zeit des Nationalsozialismus | |
führen in die Ukraine. 17,3 Millionen Männer dienten im Laufe des Zweiten | |
Weltkriegs in der Wehrmacht, zusammen mit der Waffen-SS waren es 18,2 | |
Millionen Soldaten. Ein großer Teil von ihnen wurde an der Ostfront | |
eingesetzt. Wie viele genau, ist nicht zu sagen, da es viele | |
Truppenverschiebungen gab. | |
In den Erzählungen der Wehrmachtssoldaten waren der Überfall auf die | |
Sowjetunion und der Kampf gegen die Rote Armee aber meist ein Krieg nur | |
gegen „die Russen“. Und dieses Denken wirkte noch weit über 1945 hinaus: | |
Dass in der Roten Armee Menschen aus 15 sowjetischen Teilrepubliken | |
kämpften, dass die größten Verwüstungen auf dem Gebiet der Ukraine und | |
Belarus stattfanden, ging in der deutschen Debatte lange unter. Wenn es in | |
den vergangenen Jahrzehnten um Aussöhnung mit Nationen im Osten ging, stand | |
meist Russland im Zentrum. | |
Wie sehr die ungleiche Wahrnehmung die deutsche Erinnerungskultur prägt, | |
zeigt auch [2][eine Umfrage], die Anfang 2022 kurz vor dem russischen | |
Überfall auf die Ukraine vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und | |
Gewaltforschung der Universität Bielefeld durchgeführt wurde. Auf die | |
Frage, welche drei heutigen europäischen Länder sie am stärksten mit dem | |
Zweiten Weltkrieg verbinden, nannten – nach Frankreich, Polen und | |
Großbritannien – 36,3 Prozent der Befragten Russland. Aber nur 1 Prozent | |
die Ukraine und 0,1 Prozent Belarus. | |
Der neue Krieg könnte diesen Blick verändern. Viele Deutsche beschäftigen | |
sich jetzt das erste Mal intensiver mit der Ukraine, mit ihrer | |
komplizierten Geschichte und der Frage, welche Verantwortung aus deutschen | |
Verbrechen dort erwächst. Sowohl Gegner als auch Befürworter von | |
Waffenlieferungen beziehen sich in den aktuellen Debatten auf die | |
Geschichte. | |
Die einen wollen verhindern, dass durch deutsche Waffen wieder russische | |
Soldaten sterben. Die anderen entgegnen, dass gerade ein Land, das so unter | |
deutschem Terror gelitten hat wie die Ukraine und nun erneut angegriffen | |
wird, mit allem unterstützt werden muss, was es zu seiner Verteidigung | |
braucht. | |
Was bedeutet es aber, wenn die große Geschichtsdebatte auf die eigene | |
Familie heruntergebrochen wird? Wenn es nicht um abstrakte Täter geht, | |
sondern den eigenen Großvater? Welche Verantwortung entsteht daraus? Und | |
wie blicken Menschen, die sich mit ihrer Familiengeschichte in der NS-Zeit | |
beschäftigen, auf die aktuelle Debatte um den Krieg in der Ukraine? | |
## Seine eigene Familiengeschichte führt in die Ukraine | |
Johannes Spohr zeichnet ukrainische Orte nicht nur in historische Karten | |
ein, er kennt viele von ihnen aus eigener Anschauung. [3][Seine | |
Familiengeschichte] hat ihn in die Ukraine geführt. | |
Spohrs Großvater war nach dem Krieg in der norddeutschen Kleinstadt | |
Nordenham eine wichtige Persönlichkeit, 25 Jahre lang Vorsitzender der | |
Goethe-Gesellschaft der Stadt, „Chef des Bildungsbürgertums“. Nach seinem | |
Tod im Jahr 2006 findet sein Enkel in Schreibtischschubladen | |
Schwarzweißfotos aus der Kriegszeit, dazu stapelweise Dokumente, eine | |
Wehrmachtsuniform hängt im Schrank. Spohr fragt sich, wie tief sein | |
Großvater in NS-Verbrechen verstrickt war – und beginnt zu recherchieren. | |
Rudolf Spohr hat in der Wehrmacht schnell Karriere gemacht, er nahm 1940 am | |
Westfeldzug teil, kam dann zum Oberkommando des Heeres. Als | |
Ordonnanzoffizier, einer Art Hilfsoffizier, machte er ab 1942 | |
Inspektionsreisen in die Ukraine, auch auf die Krim, zu einer Zeit, als | |
Deutsche dort Verbrechen verübten. 1943 wurde er als Hauptmann nach Italien | |
versetzt, nahm dort an Kämpfen teil und wurde schließlich in höheren | |
Kommandoebenen eingesetzt. | |
Johannes Spohr findet keinen eindeutigen Nachweis, dass sein Großvater | |
direkt an Kriegsverbrechen beteiligt war. Was er aber herausfindet: Rudolf | |
Spohr war an vielen Orten, etwa der ukrainischen Stadt Winnyzja, als | |
deutsche Kommandos dort mordeten, teils unter Beteiligung der Wehrmacht. | |
Und er hieß das offenbar gut. In einem Reisebericht von der Krim vom | |
September 1942 schreibt er über den Krieg, er werde einen Frieden | |
hervorbringen, „der den Einsatz von diesen Mengen Blut immer und ewig | |
lohnen wird“. Seine Ehefrau freute sich derweil daheim über geraubte | |
Produkte aus den besetzten Gebieten. | |
Seine Verbände, etwa das in Italien aktive 76. Panzerkorps, werden teils | |
mit Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht. „Mein Großvater war Teil einer | |
verbrecherischen Organisation in einem Vernichtungskrieg“, fasst Johannes | |
Spohr seine Ergebnisse zusammen. „Aus den Dokumenten geht teilweise eine | |
rassistische, antikommunistische und slawenfeindliche, teils auch koloniale | |
Gesinnung hervor.“ Seinen Großvater könne man als Opportunisten und | |
Karrieristen charakterisieren. | |
2013 fährt Johannes Spohr das erste Mal in die Ukraine, er besucht die | |
Orte, an denen sein Großvater im Krieg war. Das Land fasziniert ihn. Er | |
beginnt Russisch zu lernen, macht Sprachkurse [4][in Odessa], fährt durch | |
viele Dörfer, hält oft spontan an und kommt mit Menschen ins Gespräch. | |
Immer intensiver beschäftigt er sich auch mit dem deutschen | |
Vernichtungskrieg – nicht nur als Enkel, auch als Historiker. Ein | |
Schwerpunkt werden für ihn die „verbrannten Dörfer“. Als Strafaktionen | |
gegen Partisanen, vor allem aber auch auf ihrem Rückzug zerstörte die | |
Wehrmacht unzählige Dörfer. Die Menschen wurden erschossen, erhängt oder | |
verbrannten in den Häusern, in die sie eingesperrt worden waren. | |
## Eine Doktorarbeit über die Zeit in der Ukraine | |
Über diese Zeit in der Ukraine, den Rückzug der Wehrmacht 1943/44 und ihre | |
Verbrechen, schreibt Spohr seine Doktorarbeit. „Es ging um einen Zeitraum, | |
in dem mein Großvater schon nicht mehr in der Ukraine gewesen war“, sagt | |
er. „Das war wichtig, um einen nüchternen Blick zu bewahren.“ | |
Nach Abschluss der Dissertation überlegt er, was er machen will. Als | |
Historiker an der Universität eine wissenschaftliche Karriere | |
einzuschlagen, erscheint ihm nicht attraktiv. Er mag aber die Arbeit in | |
Archiven, den Geruch alten Papiers und den Sog, den Recherchen entfalten | |
können. „Das mit dem Recherchedienst war dann eine Verbindung meiner | |
Interessen.“ | |
Zusätzlich hält er Vorträge zur Geschichte der Ukraine, schreibt | |
Fachaufsätze und gibt Workshops, in denen er erklärt, wie jeder selbst die | |
Vergangenheit seiner Großeltern oder Urgroßeltern recherchieren kann – | |
etwa, wie man an das Archivmaterial kommt. | |
Durch seine Reisen und seine wissenschaftliche Arbeit hat Spohr viele | |
Kontakte in der Ukraine. Er ist Vorstandsmitglied [5][des Berliner Vereins | |
Kontakte – Kontakty], der sich für den Austausch mit Ländern der ehemaligen | |
Sowjetunion engagiert und ehemalige Kriegsgefangene, Überlebende der | |
verbrannten Dörfer und der Shoah in Armenien, Belarus und der Ukraine | |
unterstützt. | |
Die ersten Wochen des russischen Angriffs treffen ihn auch deshalb hart. | |
Spohr macht sich Sorgen um Freunde und Bekannte. „Im März haben wir dann | |
ein Netzwerk von über 50 Gedenkstätten und Initiativen gegründet, um | |
Überlebenden der NS-Verfolgung in der Ukraine direkt zu helfen.“ Es geht um | |
humanitäre Hilfe für sehr betagte Menschen, Versorgung mit Lebensmitteln | |
und Medikamenten, sichere Unterkünfte, Evakuierungen in den Westteil der | |
Ukraine oder nach Deutschland, aber auch um den Austausch mit Kollegen vor | |
Ort und die Bewahrung der Archive in der Ukraine. Um konkrete | |
organisatorische Fragen. „Das hilft auch ein wenig gegen das Gefühl der | |
Ohnmacht“, sagt Spohr. | |
## Gestiegenes Interesse seit Kriegsbeginn | |
Seit Russlands Angriff bemerkt er ein gestiegenes Interesse an der | |
Geschichte der Ukraine. Buchverlage legen Standardwerke neu auf, die | |
plötzlich ganz andere Verkaufszahlen erreichen, Podcast-Serien mit | |
Osteuropa-Historikern werden gestartet. Auch Spohr wird jetzt öfter um | |
Vorträge zum Thema seiner Dissertation gebeten. Die Nachfrage nach den | |
Recherche-Workshops ist ebenfalls gestiegen. | |
An einem Montag im Januar ist Spohr in Leipzig. Die Landesvereinigung | |
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen hat einen Workshop für junge | |
Menschen zwischen 18 und 25 Jahren organisiert. An Tischen in einem | |
Halbkreis sitzen sieben Teilnehmer um ihn herum. Er wirft mit einem Beamer | |
Formulare an die Wand, zeigt, wie Archivanfragen aussehen, worauf man beim | |
Ausfüllen achten muss. Bundesarchiv, Abteilung Personenbezogene Auskünfte, | |
Zentrale Stelle Ludwigsburg, Militärarchiv Freiburg: Anlaufpunkte gibt es | |
viele. | |
In einer Übung sollen die Teilnehmer sich private Schwarzweißfotos aus der | |
Kriegszeit anschauen und beschreiben, was sich aus ihnen schließen lässt, | |
was aber auch nicht. Ein Bild zeigt eine Person, die durch knöcheltiefes | |
Wasser watet. Auf der Rückseite hat jemand geschrieben: „Die Minenprobe | |
1942“. Bei der Wehrmacht war es eine weit verbreitete Praxis, Zivilisten | |
mit vorgehaltener Waffe dazu zu zwingen, durch möglicherweise vermintes | |
Gebiet zu laufen. Aber ist das Bild authentisch? | |
In einer Diskussion unter Historikern wies ein Kollege auf die Perspektive | |
des Bildes hin, erzählt Spohr: Es wurde von schräg oben aufgenommen, vor | |
allem aber aus einer Nähe, die den Fotografen bei der Detonation einer Mine | |
selbst in Lebensgefahr gebracht hätte. Wahrscheinlich ist es gestellt. Bei | |
der Übung geht es darum, nicht voreilig Schlüsse zu ziehen. Und noch | |
wichtiger: auszuhalten, dass sich manche Fragen gar nicht oder nicht | |
eindeutig beantworten lassen. | |
In Auszügen aus Wehrmachtsakten, die der Beamer an die Wand wirft, tauchen | |
öfter ukrainische Städte auf. Verweise auf den aktuellen Krieg blitzen im | |
Workshop so immer wieder auf, doch es ist nicht die Motivation der | |
Teilnehmer, ihre Familiengeschichten zu erforschen. Sie haben persönliche | |
Gründe, stehen mit der Recherche auch noch ganz am Anfang, wissen nicht, wo | |
sie sie hinführen wird. | |
Ihr Großvater lese an Weihnachten der Familie immer aus dem Kriegstagebuch | |
ihres Urgroßvaters vor, erzählt Pauline, Politik- und Soziologiestudentin, | |
21 Jahre alt, grauer Pullover, schwarze Jeans. „Mein Opa liest aber immer | |
nur die Stellen, in denen er als kleines Kind mit zwei Jahren selbst zum | |
Flüchtling wurde.“ Was der Urgroßvater über die Zeit davor geschrieben | |
habe, was er im Krieg genau gemacht habe, lasse ihr Großvater weg. „Er will | |
es mich partout nicht lesen lassen, obwohl ich ihn schon öfter gefragt | |
habe.“ Sie will jetzt schauen, was sie in Archiven herausfinden kann. | |
Neben ihr sitzt Paula, 18 Jahre, Strickpulli, Jeans-Latzhose. Sie macht | |
gerade ein Jahr Bundesfreiwilligendienst. Ihr Großvater sei zu DDR-Zeiten | |
sehr engagiert in der SED gewesen, erzählt sie. „Er war richtig begeistert | |
dabei. Und ich habe mich immer gefragt, wie das geht: Von einem System | |
einfach so ins nächste zu springen.“ Neben den NS-Unterlagen wolle sie | |
deshalb auch die [6][Stasi-Akten] ihres Großvaters einsehen, sagt Paula. | |
## Der Blickt auf andere Länder kommt oft zu kurz | |
Wie sieht sie die Debatte um eine spezielle Verantwortung für die Ukraine | |
wegen der deutschen Vergangenheit? „Die Aufarbeitung der NS-Zeit wird bei | |
uns als eine deutsche Angelegenheit gesehen, als eine Beschäftigung mit | |
uns“, sagt Paula. Der Blick auf andere Länder komme da oft zu kurz, eben | |
auch der auf die Ukraine. „Aber die Debatte um den Krieg in der Ukraine ist | |
mir zu sehr aufs Militärische verkürzt. Ich finde das nicht richtig. Ein | |
Land, das so viel Leid mit Waffen angerichtet hat wie unseres, sollte sich | |
mit Waffenlieferungen zurückhalten.“ | |
Ortswechsel, eine kleine Erdgeschosswohnung in einem Seniorenstift im | |
Hamburger Schanzenviertel. Hier lebt [7][Barbara Brix, 81 Jahre alt]. Sie | |
bittet ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegt ein blauer Aktenordner, prall | |
mit Dokumenten gefüllt. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit der | |
Geschichte ihres Vaters. Eine Recherche, die auch sie in die Ukraine | |
geführt hat. | |
Brix war sechs Jahre alt, als sie ihren Vater 1947 kennenlernte. „Wir waren | |
Fremde füreinander“, erzählt sie. Er war gerade aus amerikanischer | |
Gefangenschaft entlassen worden. Ein Kriegsinvalide, dem beide Beine | |
amputiert worden waren. Zu zweit fanden sie bei einer Tante im Ruhrgebiet | |
Unterschlupf, ihre Mutter und ihre zwei Geschwister kamen als Vertriebene | |
erst später aus Thüringen nach. | |
„Mein Vater und ich hatten einen schwierigen Start, aber mit der Zeit sind | |
wir ein Herz und eine Seele geworden.“ Der Vater erzählte den Kindern oft | |
Geschichten, die Weltliteratur in Kurzfassung, im Schein der | |
Wohnzimmerlampe las er ihnen Romane von Charles Dickens vor, machte mit | |
ihnen Ausflüge in einem für seine Behinderung umgerüsteten Auto. Als sie | |
älter wurden, diskutierte er ihre Schulaufsätze mit ihnen. „Er hat sehr für | |
unser intellektuelles Bildungsniveau gesorgt. Er war wirklich ein | |
vorbildlicher Vater.“ | |
Mit seinen Holzprothesen konnte ihr Vater nur mit Krücken gehen. Sie habe | |
ihn aber nie gefragt, wieso er keine Beine mehr habe, erzählt Brix. „Ich | |
hatte nur den vagen Gedanken, dass es etwas mit dem Krieg zu tun hat.“ 1980 | |
stirbt ihr Vater mit 68 Jahren. | |
Ihr Blick auf ihn verändert sich 26 Jahre später für immer. 2006 macht sie | |
einen Osterspaziergang mit einem befreundeten Historiker, dessen Familie | |
wie ihr Vater aus Riga stammt. Der Freund beschäftigt sich gerade mit | |
Baltendeutschen in der SS. „Barbara, wusstest du eigentlich, dass dein | |
Vater bei den Einsatzgruppen war?“, fragt er. „Er hat das so beiläufig | |
gesagt“, erzählt Brix. „Für mich war es aber ein Schock. Und zugleich das | |
Gefühl: Ah, das war es also, was durch das Familiennarrativ verdeckt | |
wurde.“ Sie hatte all die Jahre zuvor geglaubt, ihr Vater sei ein Arzt in | |
der Wehrmacht gewesen. | |
## Alle töten, die da nicht reinpassten | |
Die Einsatzgruppen folgten unmittelbar auf die Wehrmacht in den besetzten | |
Gebieten. Sie sollten die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik | |
umsetzen. Das hieß: alle zu töten, die da nicht reinpassten. Die | |
Einsatzgruppen ermordeten mit Hilfe der Wehrmacht Juden, Roma, | |
kommunistische Funktionäre, Partisanen, psychisch Kranke sowie geistig und | |
körperlich Behinderte. Dem „Holocaust durch Kugeln“ fielen anderthalb | |
Millionen Juden zum Opfer. Er fand auf einem Gebiet der Sowjetunion statt, | |
das heute zur Ukraine, Belarus, Litauen und dem westlichen Russland gehört. | |
Allein in der Ukraine gab es Massenerschießungen an 2.000 Orten. | |
„Für mich war klar, ich will alles darüber wissen, ich will nicht | |
wegschauen“, sagt Brix. Sie hatte sich zuvor schon in der Erinnerungsarbeit | |
der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in der Nähe von Hamburg engagiert. Als | |
Lehrerin hatte sie bis zu ihrer Pensionierung Geschichte unterrichtet. | |
„Aber die großen Nazis waren für mich trotzdem ferne Personen gewesen, | |
Hitler, Himmler. Nichts, was direkt mit mir zu tun hatte.“ | |
Sie stürzt sich in die Recherche, fragt die verschiedensten Archive an und | |
findet nach und nach heraus: Ihr Vater gehörte als Arzt dem Stab der | |
Einsatzgruppe C an. Anderthalb Jahre war er in der Ukraine eingesetzt, | |
arbeitete in Kiew im Hygiene-Institut der Waffen-SS und war, nach allem, | |
was Brix weiß, auch bei [8][dem Massaker von Babyn Jar] dabei. „Es gibt den | |
begründeten Verdacht, wenn auch keinen konkreten Beweis“, sagt sie. | |
In der Schlucht von Babyn Jar erschossen Angehörige der Einsatzgruppe C und | |
der Polizei mit Hilfe der Wehrmacht und ukrainischer Helfer im September | |
1941 innerhalb von zwei Tagen mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und | |
Kinder. Es war das größte Einzelmassaker an Juden im Zweiten Weltkrieg. | |
Barbara Brix hat Ermittlungsakten dazu einsehen können, in denen es heißt, | |
der Stab der Einsatzgruppe sei anwesend gewesen. Also auch ihr Vater. | |
Strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn gab es nach dem Krieg nie, als Zeuge | |
wurde er in den 1960er Jahren dreimal von Ermittlern in anderen Verfahren | |
vernommen. | |
Je länger sich Barbara Brix mit der Vergangenheit ihres Vaters beschäftigt, | |
desto mehr verändert sich ihr Ansatz: „Am Anfang dachte ich, ich mache das | |
für mich und meinen Sohn, vielleicht noch für meine Geschwister.“ | |
Dann wagt sie sich mehr und mehr in die Öffentlichkeit. Für einen | |
Sammelband schreibt sie einen Aufsatz über ihre Recherche und nimmt an | |
einer Konferenz teil, auf der Fachhistoriker mit Täter-Nachfahren | |
diskutieren, die ihre Familiengeschichten aufarbeiten. „Da habe ich | |
gemerkt: Es hat auch etwas Politisches, wenn ich öffentlich darüber | |
spreche. Indem ich über meine Nachforschungen, meinen Vater und meine Rolle | |
nachdenke, werden Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt, sowohl bei mir als | |
auch beim Publikum.“ | |
Heute spricht sie öfter vor Hamburger Schulklassen, tritt bei | |
Gedenkveranstaltungen auf. Sie sieht es als Teil ihrer Verantwortung, mit | |
ihrer eigenen Geschichte zu zeigen, dass es keine gesellschaftlichen | |
Randexistenzen waren, sondern auch liebevolle Familienväter aus dem | |
Bildungsbürgertum, die als Täter den Vernichtungskrieg und den Holocaust in | |
die Tat umsetzten. Sie kämpft gegen das, was [9][der Publizist Ralph | |
Giordano] die „zweite Schuld“ nannte, das Schweigen, das die Täter schütz… | |
## Eine Reise auf den Spuren der Einsatzgruppe | |
2016 besucht Brix erstmals die Ukraine, sie organisiert eine Gruppenreise | |
mit Menschen, die in der Erinnerungsarbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme | |
aktiv sind. Es wird eine Reise auf den Spuren der Einsatzgruppe C. „Das hat | |
mich da angesprungen: Diese Orte, die ich bisher nur aus Listen in | |
Ermittlungakten kannte – selbst dort zu sein und sich vorzustellen, wie das | |
damals war, als die Deutschen und mein Vater dort waren“, sagt Brix. | |
Sie und ihre Gruppe interessieren sich nur für die deutschen Verbrechen. | |
Die zwei ukrainischen Reiseleiterinnen zeigen aber auch mehrere Burgen der | |
Kosaken, sie stünden für die demokratische Tradition des Landes. Und sie | |
sprechen viel über den Holodomor, die von Stalin geschaffene Hungersnot, | |
die in der Ukraine bis zu vier Millionen Tote forderte. „Ich habe mich am | |
Anfang richtig dagegen gewehrt, dass die Ukraine in der Gegenwart ganz | |
andere Fragestellungen hat“, erzählt Brix. „Dass das Erinnern an die Opfer | |
der Nazis nicht oberste Priorität ist.“ | |
Durch viele Diskussionen mit den Reiseleiterinnen und Menschen vor Ort | |
verändert sich das. „Wir haben angefangen, den eigenen Hochmut der | |
Gedenkkulturbeflissenen zu reflektieren. Wir klopfen uns ja alle selber auf | |
die Schulter, was für eine gute Gedenkarbeit wir machen. Dass das in | |
anderen Ländern anders gesehen wird, und dass es Gründe in der Geschichte | |
des jeweiligen Landes dafür gibt, mussten wir erst akzeptieren lernen.“ | |
2017 besucht sie Odessa, 2018 ist sie mit derselben Reisegruppe noch einmal | |
in der Westukraine bei Lwiw unterwegs, aber es ist vor allem die erste | |
Reise, die sie tief beeindruckt. | |
Wie blickt sie vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte und dieser | |
besonderen Beziehung zur Ukraine auf den Krieg jetzt? | |
Er sei fürchterlich, sie habe sich das nicht vorstellen können, aber: „Ich | |
halte es für einen verfehlten Weg, immer mehr und immer schwerere Waffen | |
dorthin zu liefern. Vor allem glaube ich nicht, dass man mit militärischen | |
Mitteln einen dauerhaften Frieden schaffen kann.“ Sie trauert der | |
Entspannungspolitik Willy Brandts hinterher, die sie „genial“ fand. Es sei | |
schlimm, dass es für so etwas momentan keinen Raum gebe. | |
Die Ukraine ist aber Opfer eines brutalen Angriffkriegs. Wie soll sie sich | |
verhalten, wenn sie nicht Waffen – auch aus Deutschland – bekommt, um sich | |
zu verteidigen? | |
Brix sieht dieses Dilemma. Aber ihren Pazifismus, der für sie eine Lehre | |
aus den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg ist, kann oder will sie | |
nicht hinter sich lassen. „Das ist eine berechtigte Frage. Ich habe weder | |
das Recht noch die Kompetenz, der Ukraine zu sagen, wie sie sich verhalten | |
soll. Schon gar nicht, ihr wie manche andere zu raten, dass sie um des | |
Waffenstillstands willen eben territoriale Verluste in Kauf nehmen müsse. | |
Das maße ich mir nicht an. Das Recht habe ich nicht.“ | |
Der Historiker Johannes Spohr bewertet Waffenlieferungen anders: „Da bin | |
ich bestimmter geworden, auch aufgrund des massiven Terrors gegen die | |
Zivilbevölkerung, den wir fast täglich erleben.“ Waffenlieferungen seien | |
ein notwendiges Übel, sagt er. „Das hat sich gezeigt. Bestimmte | |
Waffensysteme haben den Menschen in der Ukraine auch dabei geholfen, Leben | |
zu retten.“ | |
## Es geht hier um eine realpolitische Abwägung | |
Nur Verhandlungen zu fordern, ohne genauer zu benennen, worüber und wie | |
diese ohne militärische Stärke der Ukraine funktionieren sollten, hält er | |
für verfehlt. „Man weigert sich da, eine veränderte Realität wahrzunehmen. | |
Letztlich ist das Kriegsapologetik.“ | |
Er sei eigentlich kritisch der Bundeswehr und deutschen Waffen gegenüber. | |
Aber es gehe um eine realpolitische Abwägung, sagt Spohr. „Ich sehe | |
angesichts der erbarmungslosen russischen Kriegsführung keinen | |
überzeugenden Vorschlag ohne Waffen, der keine weitere Katastrophe für die | |
Menschen in der Ukraine bedeutet. Verteidigen tun sie sich derzeit ohnehin | |
selbst.“ | |
Seine Position begründet Spohr aber aus der Gegenwart. Die Ukraine ist das | |
überfallene Land, man sollte es gegen den imperialen Aggressor | |
unterstützen, dafür brauche man keinen Verweis auf die deutsche Geschichte. | |
„Die historischen Bezüge finde ich da häufig schräg. | |
Vor allem, wenn in der Debatte deutsche Intellektuelle ihre Väter oder | |
Großväter rauskramen, um gegen Waffenlieferungen zu argumentieren – oder | |
dafür gar ein ehemaliger Wehrmachtssoldat interviewt wird, wie jüngst im | |
Deutschlandfunk.“ Gegenüber Ukrainern sei es eine überhebliche und | |
geschichtslose Haltung, darauf zu beharren, dass auch Deutsche im Zweiten | |
Weltkrieg gelitten hätten. | |
Und welche Verantwortung leitet er aus seiner eigenen Familiengeschichte | |
ab? „Wir erleben heute, dass einige derjenigen abermals bedroht sind, die | |
der NS-Verfolgung entronnen sind. Sie zu unterstützen ist eine Möglichkeit, | |
Verantwortung zu übernehmen.“ Und vor allem sollte man diesen Menschen mehr | |
zuhören: „Ihre Perspektiven sind relevanter als die von unkritischen | |
Nachfahren derjenigen, die die Ukraine überfallen, ausgeraubt und | |
weitgehend zerstört haben.“ | |
18 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Russlands-Ueberfall-auf-Ukraine/!5908122 | |
[2] https://www.stiftung-evz.de/assets/1_Was_wir_f%C3%B6rdern/Bilden/Bilden_fue… | |
[3] /Familiaere-Aufarbeitung/!5030631 | |
[4] /Alltag-in-Odessa/!5907573 | |
[5] https://kontakte-kontakty.de/ | |
[6] /Aufarbeitung-von-Stasi-Unterlagen/!5654341 | |
[7] /Nazi-Vergangenheit/!5303977 | |
[8] /Gedenken-an-die-Toten-von-Babyn-Jar/!5803898 | |
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