# taz.de -- Aufarbeitung der NS-Zeit: In der Familie des Massenmörders | |
> Lange ist die Großnichte des Kriegsverbrechers Hermann Göring vor ihrer | |
> Familiengeschichte davongelaufen. Nun hat sie ein Buch darüber | |
> geschrieben. | |
Bild: Hermann Göring mit seinem Anwalt Dr. Otto Stahmer während der Nürnberg… | |
Da musste etwas raus, musste etwas geklärt werden. Das machen schon die | |
ersten zwei Sätze von Bettina Görings Autobiografie „Der gute Onkel. Mein | |
verdammtes deutsches Erbe“ klar. „Bettina Göring“ steht da in einer Zeil… | |
Und dann in der nächsten kursiv gestellt „Die.“ Und etwas weiter unten: | |
„Schublade auf. Rein mit ihr.“ | |
Schubladendenken, damit kennt sie sich aus, schreibt die 1956 in Wiesbaden | |
geborene Göring. Sie ist die Großnichte von [1][Hermann Göring.] Engster | |
Vertrauter von Adolf Hitler, mitverantwortlich für die sogenannte | |
„Endlösung“ der Judenfrage und damit für millionenfachen Mord im | |
Nationalsozialismus. Ein Monster, ein Psychopath. | |
Für Bettina Görings Familie ist er: „Der gute Onkel“. Der immer für die | |
Familie da war und sich um alle gekümmert hat. Auch um seine drei | |
vaterlosen Neffen. Einer von ihnen war Bettina Görings Vater, Hermann | |
Görings Patenkind. „Alles Lüge“ giftet dessen Mutter noch 1970, | |
fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende, als eine Holocaust-Dokumentation im | |
Fernsehen gezeigt wird. Vergasungen habe es nie gegeben, und wenn, dann | |
habe Hermann nichts davon gewusst. | |
## Schwarz oder weiß | |
Schwarz oder weiß. Dazwischen gab es für Bettina Göring lange nichts. | |
Deshalb dieses Buch. Deshalb hat Bettina Göring sich nochmals ausführlich | |
ihrer Familiengeschichte gestellt. Auf knapp 400 Seiten. Um das „so | |
verführerische, weil so praktische Schubladendenken“ hinter sich zu lassen, | |
schreibt sie. | |
Für sie ist das – wie so oft bei autobiografischen Büchern – ein wichtiger | |
Prozess. Und nicht nur für sie. Es ist wichtig, dass es dieses Buch gibt. | |
Denn nicht das „Zu-viel-über-die-dunkle-deutsche-Geschichte-Reden“ ist das | |
Problem, sondern das Schweigen darüber. Immer. Vor allem, wenn es um die | |
eigene Familie geht. | |
Immer mehr Nachfahren beschäftigen sich zwar mittlerweile mit den [2][Taten | |
ihrer Vorgänger im Nationalsozialismus]. Die Auseinandersetzung mit der | |
eigenen Familiengeschichte bleibt jedoch meist ein blinder Fleck in der | |
viel gelobten deutschen Erinnerungskultur. | |
Laut einer 2020 veröffentlichten Studie der Universität Bielefeld und der | |
Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft antworteten 68 Prozent der | |
Befragten auf die Frage, ob ihre Vorfahren unter den Tätern während der | |
NS-Zeit gewesen waren mit „Nein“. Die Frage nach Mitläufern unter ihren | |
Vorfahren verneinten immer noch 50 Prozent. | |
Auch Bettina Göring ist vor ihrem „verdammten deutschen Erbe“ lange | |
davongelaufen. Als Jugendliche war ihr Markenzeichen ein abgewetzter | |
Nerzmantel aus dem Nachlass ihrer Großmutter. Dass das ein Geschenk vom | |
„guten Onkel Hermann“ war, ignorierte sie. Zu schick fühlte sie sich in dem | |
originellen Kleidungsstück. Da war für die Schatten aus der Vergangenheit | |
kein Platz. Dachte sie. Und merkte nicht, wie ihre Geschichte sie trotzdem | |
vor sich hertrieb. | |
## Psychatrie und Elektroschocks | |
Mit vierzehn ist sie von zu Hause weggelaufen, hat in Südamerika, in | |
Indien, in England und in den USA gelebt. Ihr heutiger Standort ist | |
Thailand. Zwei Mal wurde sie in psychiatrische Kliniken eingewiesen, einmal | |
mit Elektroschocks behandelt. | |
In Indien schloss sie sich der Bhagwan-Bewegung an. Nach deren Umzug in die | |
USA erlebte sie, wie sich die spirituelle Gemeinschaft in ein autoritäres | |
System verwandelte. Inklusive Wachtürmen und Privatpolizei. Die Angst, ihre | |
Wahlfamilie zu verlieren, ließ sie die Warnsignale lange ignorieren. Bis es | |
zu spät war. Eine Erfahrung, die ihren Blick auf die Nazi-Verstrickungen | |
ihrer Familie verständnisvoller machte. | |
Bettina Görings Buch hat etwas Manisches, Getriebenes. Mithilfe ihrer | |
eigenen Erinnerungen, Archivmaterial und Gesprächen mit Familienmitgliedern | |
versucht sie, ihre eigene und ihre Familiengeschichte bis ins kleinste | |
Detail aufzudröseln. | |
## Zeitliche Sprünge | |
Sie und ihre Co-Autorin Melissa Müller, die auch eine in zwanzig Sprachen | |
übersetzte [3][Anne-Frank]-Biografie verfasst hat, haben sich für viele | |
zeitliche Sprünge entschieden. Bis weit ins 19. Jahrhundert reichen ihre | |
Exkurse zu Görings Familie, die sich mit Ereignissen aus Bettina Görings | |
Leben vermischen. | |
Entwicklungen werden häufig nur kurz angedeutet und erst viele Seiten | |
später ausführlich eingeordnet. Das Zusammenspiel zwischen Gegenwart und | |
Vergangenheit ist so zwar immer präsent, die Lektüre dafür oft fordernd bis | |
zäh. | |
Sie habe ihren Frieden gemacht, schreibt Bettina Göring am Ende des Buches. | |
Dass dies kein einfacher, aber ein wichtiger Prozess war, ist dem Buch | |
anzumerken. | |
8 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Verena Harzer | |
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