# taz.de -- Gedenken an Bombenangriffe auf Dresden: Der Stein des Anstoßes | |
> In Dresden ist das Gedenken an den 13. Februar 1945 und die | |
> Bombenangriffe der Alliierten umkämpft. Davon erzählt auch ein altes | |
> Denkmal. | |
Bild: Der Gedenkobelisk für die Opfer der Bombardierung Dresdens | |
DRESDEN taz | Der Stein, um den es geht, ragt aus ein paar Büschen empor. | |
Seit mehr als hundert Jahren steht er da, auf einem kleinen Platz im | |
Dresdner Stadtteil Nickern. Ein Obelisk, grünlich-grau. In seiner Mitte | |
kann man in schnörkellosen Lettern lesen: „Wir gedenken der Opfer des | |
angloamerikanischen Bombenterrors“. Und dann noch ein Datum: „13. Februar | |
1945“. | |
Es gibt vermutlich niemanden, der die Geschichte dieses Steins besser | |
erzählen kann als Richard Funke. Er sitzt auf der Bank in seinem Garten, es | |
ist Spätsommer 2023. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Ordner mit der | |
Aufschrift: „Denkmal“. Funke ist sowohl Zeitzeuge der Luftangriffe gegen | |
Nazideutschland als auch Chronist und Anwohner in Nickern, einem Ortsteil | |
im Südosten Dresdens. | |
In der Nacht vom 13. Februar 1945 [1][begannen großflächige Bombenangriffe | |
auf Dresden], in insgesamt vier Angriffswellen zerstörten britische und | |
US-amerikanische Bomber weite Teile der Stadt. Der damals zehnjährige | |
Richard Funke überlebte den Angriff, etwa 25.000 Menschen starben. | |
## Verändert, restauriert, mit Farbe übergossen | |
Wenn Funke erzählt, scheint er ganz und gar in diese Zeit zurückzugehen. Er | |
stellt seinen Gehstock vor sich hin, stützt sich mit den Händen darauf ab | |
und schaut ins Grün. Begleitet von seiner Gestik scheint das Haus erneut zu | |
beben. Funke blickt über sein Grundstück, orientiert sich. | |
„Wir hatten noch Glück“, sagt er und deutet auf sein Hausdach. Trotz der | |
Wucht einer Fünfzentnerbombe sei nur ein kleines Loch in das Dach seines | |
Elternhauses gerissen worden: „Dort oben ragte ein kleiner Obstbaum heraus, | |
sonst stand das Haus. Nur die Fenster waren komplett zerstört.“ | |
In dem Haus von damals wohnt Richard Funke noch heute. Er ist mittlerweile | |
88 Jahre alt. Das Dach ist längst repariert, nur seine Worte erinnern noch | |
an den Schrecken von Einschlag, Zerstörung, Panik. | |
Funke greift über den Tisch und zieht den Ordner heran. Akribisch sammelt | |
er Zeitungsartikel, Fotos und Flugblätter über das Denkmal. Es wurde | |
gepflegt, verändert, restauriert, mit Farbe übergossen, gehasst und | |
eingeordnet. Funke hat all das dokumentiert. | |
Aufgestellt im Oktober 1920, erinnerte der Obelisk zunächst an die | |
Gefallenen des Ersten Weltkriegs. 1945 wurde das Denkmal nach den | |
Luftangriffen umgewidmet. Funke hat die Stadtarchive durchsucht, aber bis | |
heute sei nicht ganz klar, wann genau und von wem der Stein umgewidmet | |
wurde. Die Formulierung „angloamerikanischer Bombenterror“ gibt wörtlich | |
die Propaganda der Nationalsozialisten wieder. | |
## Weiterleben des NS-Mythos | |
Die Dresdner sahen sich 1945 als Opfer, kurz nachdem der Krieg mit der | |
bedingungslosen Kapitulation Deutschlands geendet war – ohne die deutsche | |
Schuld zu reflektieren. Richard Funke erklärt sich das mit der | |
geschichtspolitischen Färbung nach „zwölf Jahren Propaganda“. | |
Der „Volksdeutsche“ habe nicht anders zu denken vermocht, sagt er. „Hitler | |
war okay, aber den Krieg hätte er nicht führen sollen“, so beschreibt er | |
die Haltung vieler Bürger. Er kippt manchmal in Formulierungen der NS-Zeit, | |
spricht von Momenten, in denen „die Deutschen die Schmach ertragen mussten, | |
von Urmenschen besiegt worden zu sein“. | |
Solche Sätze wechseln sich mit Passagen des Ortschronisten ab: „Es wurden | |
zivile Ziele zerstört, es ging nicht darum, wichtige Infrastruktur zu | |
treffen.“ Funke ist es wichtig zu betonen, dass das sogenannte moral | |
bombing eine umstrittene Taktik Englands gewesen sei – mit dem Ziel, die | |
Moral der Zivilbevölkerung durch Flächenbombardements zu zerstören. | |
Zur Ideologie der DDR, die 1949 gegründet wurde, passte die antiwestliche | |
Formulierung vom „angloamerikanischen Bombenterror“. So wurde die | |
Propaganda des Bombenterrors umgemünzt und der NS-Mythos von „der sinnlosen | |
Zerstörung der unschuldigen und einzigartigen Kulturhauptstadt Dresden“ | |
nicht aufgearbeitet. | |
Erst seit der Wende gibt es einen Kampf um die Worte und die | |
Deutungshoheit. Wer sind hier die Opfer? Die Deutschen, die ganz Europa mit | |
Krieg überzogen und den Holocaust verbrochen hatten? | |
## Rechtsradikale reden vom „Bombenholocaust“ | |
Manche in Dresden wollen vergessen, andere wollen erinnern. Und manche das | |
Erinnern für ihre Zwecke missbrauchen. In den vergangenen Jahren am 13. | |
Februar legte die NPD manchmal Kränze am Gedenkstein nieder, hielten | |
Rechtsradikale Reden vom „Bombenholocaust“. | |
Als Reaktion verhüllten Linke den Obelisken oder übergossen ihn mit Farbe. | |
Sie argumentierten, die Inschrift verdrehe historische Tatsachen. | |
Schließlich seien die Luftangriffe eine direkte Antwort auf den | |
verbrecherischen Krieg gewesen, den Deutschland geführt hatte. | |
Eine dritte Gruppe hat einen persönlichen Bezug zu den Bombennächten, der | |
ihre Perspektive prägt. | |
2023 hat der 13. Februar etwa 1.000 Neonazis nach Dresden gelockt. Jährlich | |
findet ein sogenannter Trauermarsch der Rechtsextremen statt – und eine | |
Gegendemo. Beide werden regelmäßig von einem Großaufgebot der Polizei | |
begleitet und getrennt. | |
## Ringen mit den „kontroversen Denkmälern“ | |
Die Stadt ringt mit den „kontroversen Denkmälern“, wie sie auf einer | |
Veranstaltung anlässlich des Tags des offenen Denkmals genannt werden. Die | |
Landeshauptstadt lädt im September 2023 in die Blaue Fabrik, einem Ort, der | |
selbst voller Geschichte steckt: Direkt hinter dem Gebäude liegen Gleise | |
des ehemaligen Leipziger Bahnhofs. Von dort wurden Juden und Jüdinnen ab | |
1942 in Konzentrationslager deportiert. Auch Kulturbürgermeisterin | |
Annekatrin Klepsch (Linke) ist anwesend und möchte „unsere Vergangenheit | |
reflektieren, ohne dabei die Zukunftsvision unserer vielfältigen | |
Stadtgesellschaft zu beeinträchtigen“. Wo hört das Erinnern auf, wo fängt | |
der Missbrauch des Gedenkens an? Und wie werden wir dem heutigen | |
Geschichtsverständnis gerecht? | |
2017 beschloss der Dresdner Stadtrat, eine Stele neben dem Obelisken in | |
Nickern zu errichten. Auf einer Texttafel werden die Inschriften dort seit | |
2022 historisch eingeordnet und zu friedlichem Miteinander aufgerufen. | |
Auf dem Heidefriedhof, einem weiteren umstrittenen Gedenkort, steht ein | |
Denkmal für die Opfer der Bombardierung Dresdens inmitten der Steinstelen | |
für die Opfer der nationalsozialistischen Konzentrations- und | |
Vernichtungslager. Kritiker beklagen, dass Dresden so symbolisch die | |
nationalsozialistischen Vernichtungsverbrechen den Bombenangriffen | |
gleichsetze. Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch sagt auf der | |
Veranstaltung in der Blauen Fabrik: „Das kann so nicht bleiben. Wir haben | |
einen Wettbewerb für die kontroversen Gedenkorte ausgeschrieben, nur für | |
den Heidefriedhof ist nichts Gutes dabei gewesen. Da traut sich niemand | |
ran.“ | |
Nach etwa 45 Minuten Vortrag meldet sich eine Frau aus dem Publikum. Sie | |
atmet schwer, redet schnell: „Das ist ja alles interessant“, sagt sie. „I… | |
höre mir das jetzt seit einer Dreiviertelstunde an und ich wollte doch | |
etwas über den Leipziger Bahnhof erfahren.“ Kulturbürgermeisterin Klepsch | |
schlägt die Beine übereinander und tippt mehrmals mit der linken Hand auf | |
ihren Oberschenkel, Stühle rücken im Publikum. Klepsch antwortet: „Das | |
Thema sind kontroverse Denkmäler. Ich hoffe, wir sind uns einig, dass die | |
Deportation von Juden schlecht ist.“ | |
Es bleibt unklar, ob die Frau aus dem Publikum etwas falsch verstanden hat | |
oder ihr das Thema nicht passt. Sie verlässt die Veranstaltung vorzeitig. | |
## Die AfD will keine Kontexttafel | |
Zurück nach Nickern. In der Nähe des Obelisken wohnt Nadja Schwarze. Ihr | |
geht die ganze Debatte „auf den Keks“. Sie sitzt, Brille und gestreiftes | |
T-Shirt, in ihrem Hof auf einem Gartenstuhl. | |
Sie findet die Initiative der Stadt mit der Stele und der historischen | |
Einordnung überflüssig. Schwarze sagt: „Es war ein Bombenterror, das ist | |
Fakt, das war ein Kriegsverbrechen. Der Nationalsozialismus war furchtbar, | |
aber der Angriff auf Dresden auch.“ So wie sie sähen es auch 90 Prozent der | |
Nickerner, sagt Schwarze. | |
Ihr Nachbar, der Zeitzeuge Richard Funke, sieht es anders. Er sagt: „Die | |
Terminologie Bombenterror ist falsch, sie passt nicht mehr in die heutige | |
Zeit. Die historische Einordnung war eine gute Entscheidung.“ 2023 habe es | |
keinen Vandalismus und keine Kundgebungen an dem Obelisken gegeben. | |
Nadja Schwarze sagt, sie sei im Herzen immer noch links. Aber mit dem Alter | |
setze sich der Verstand durch, und der sei rechts. Sie ärgert sich über den | |
deutschen Kurs im Krieg gegen die Ukraine. Sie schimpft auf Corona und die | |
Spritze. „Das macht mir alles Angst.“ Sie greift an die Stuhllehne, schaut | |
nach unten, schweigt. | |
Nadja Schwarze vertraut dem Staat nicht mehr; fühlt sich nicht gesehen, | |
nicht gehört – außer von der Alternative für Deutschland (AfD). | |
Der Stadtbezirksbeirat der AfD, Harald Gilke, teilt Schwarzes Meinung zu | |
dem Denkmal. Er möchte die Stele mit der Tafel wieder abbauen: „Der Obelisk | |
lebt seit vielen Jahren seine Erinnerungskultur, und nur weil eine neue | |
politische Sichtweise kommt, sollte und kann man nicht alles verändern.“ | |
Die AfD gilt in Sachsen wie in Sachsen-Anhalt und Thüringen als gesichert | |
rechtsextrem und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Laut Umfrage des | |
Instituts Insa könnte die Partei bei den Landtagswahlen 2024 in Sachsen, | |
Thüringen und Brandenburg stärkste Kraft werden. | |
Schon kurz nach dem Krieg hätten einige Mutige vorsichtige Kritik an der | |
Rede vom „angloamerikanischen Bombenterror“ und dem Verschweigen deutscher | |
Schuld geäußert, erzählt Richard Funke auf der Bank in seinem Garten. Es | |
gibt nur Gerüchte darüber, wer genau die Hinzufügung um 1947 in eine Seite | |
des Obelisken in Nickern meißelte. Dort steht seitdem ein Satz, der heute | |
wie eine aktuelle Mahnung klingt: „Dass sie nicht sinnlos in den Gräbern | |
ruhen, liegt an unserem Willen, unserem Tun“. | |
10 Feb 2024 | |
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Sean-Elias Ansa | |
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