# taz.de -- Umgang der Bundespräsidenten mit NS-Zeit: Vorredner der Erinnerung… | |
> Eine neue Studie beleuchtet den Umgang von Ex-Bundespräsidenten mit der | |
> Nazi-Vergangenheit. Nur selten waren sie ihrer Zeit voraus. | |
Bild: Theodor Heuss und sein Nachfolger im Präsidentenamt Heinrich Lübke 1959 | |
BERLIN taz | Was wäre anders gelaufen, wenn statt des FDP-Politikers | |
Theodor Heuss 1949 sein Nachfolger Heinrich Lübke (CDU) zum ersten | |
Bundespräsidenten der noch jungen Bundesrepublik gewählt worden wäre? Gar | |
nicht so viel, meint der Historiker Norbert Frei in einem provokativen | |
Gedankenspiel, und rückt damit vor allem das Bild Heinrich Lübkes | |
(1894–1972) zurecht, der ob seiner teils verunglückten Reden zu seiner Zeit | |
viel verspottet wurde. | |
Er rüttelt aber auch am idealisierten Bild von Theodor Heuss (1884–1963), | |
der bis heute gerne als „Glücksfall“ der bundesrepublikanischen | |
Anfangsgeschichte beschrieben wird, weil er in den frühen Jahren seiner | |
Präsidentschaft wie kein anderer Politiker einschlägige Begriffe prägte | |
oder verwarf. Eine „vergangenheitspolitische Prägekraft“ gesteht ihm Frei | |
zu. Die „Logik der Institution“ hätte aber auch sein Wirken geprägt. | |
Am Dienstag stellte Frei im Schloss Bellevue in Berlin seine neue Studie | |
über die ersten sechs Bundespräsidenten vor. Rund 70 Gäste wohnten seinem | |
Vortrag bei, darunter Bundesprominenz wie Gregor Gysi und Dietmar Bartsch, | |
Michel Friedman und Heribert Prantl. [1][Frank-Walter Steinmeier], der | |
aktuelle Amtsinhaber, hatte den Fachmann aus Jena damit beauftragt, [2][das | |
Wirken seiner Vorgänger] mit Blick auf die NS-Geschichte zu untersuchen. | |
Frei ist ein ausgewiesener Kenner der deutschen Vergangenheitspolitik, er | |
hat viel zu Kontinuitäten und NS-Aufarbeitung geforscht und ein viel | |
beachtetes Buch über „Hitlers Eliten nach 1945“ publiziert. In seiner neuen | |
Studie „Im Namen der Deutschen“ zeichnet er ein differenziertes Bild der | |
ersten Amtsinhaber und ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit. | |
## Die Erinnerungskultur massiv geprägt | |
Heuss sei vielen Deutschen zwar voraus gewesen, indem er eine | |
„Kollektivscham“ anmahnte oder bei der Eröffnung der KZ-Gedenkstätte | |
Bergen-Belsen zugab: „Wir haben von den Dingen gewusst.“ Er habe sich aber | |
auch, wie all seine Amtsnachfolger bis 1994, für die Begnadigung | |
verurteilter NS-Kriegsverbrecher eingesetzt, die rhetorisch als | |
„Kriegsverurteilte“ verharmlost wurden. | |
Die Bundespräsidenten hätten die Erinnerungskultur in Deutschland | |
maßgeblich geprägt, urteilt Frei. Ihr Amt sei aber von Beginn an von einem | |
„definierten Aktionsraum“ und „Erwartungen von außen“ geprägt gewesen… | |
seien weder „Tempomacher“ oder „Promoter zeitgeschichtlicher Aufklärung�… | |
noch revisionistische „Bremser“ gewesen, sondern hätten sich lediglich „… | |
unterschiedlichem Maße der Gegenaufklärung verweigert“, so sein Fazit. | |
Heuss sei zwar auch als Bundespräsident der „liberale Selbstdenker“ | |
geblieben, der er schon vorher war, und habe, mehr als jeder andere | |
Bundespräsident, seine Reden selbst geschrieben. Lübke aber sei in seiner | |
Spur geblieben und, ein Jahrzehnt später, „für erinnerungspolitische | |
Überraschungen“ gut gewesen. | |
Lübke, in der Weimarer Zeit in der Zentrumspartei, hatte in den | |
Dreißigerjahren zwanzig Monate lang in Untersuchungshaft gesessen. | |
Womöglich deshalb habe er am wenigsten Nachsicht mit den sogenannten | |
„Ehemaligen“ gezeigt, so Frei, und sich, anders als seine Partei, die CDU, | |
etwa gegen eine Verjährung von NS-Verbrechen gestellt. | |
## Je weiter oben, desto Nazi | |
Überschattet wurde Lübkes Amtszeit aber durch seinen Rücktritt, nachdem er | |
aufgrund gefälschter Dokumente aus der DDR als angeblicher „KZ-Baumeister“ | |
diffamiert worden war. Sein Nachfolger, der SPD-Politiker Gustav Heinemann | |
(von 1969 bis 1974 Präsident), sei zwar als „Aufbruch in eine neue Ära“ | |
wahrgenommen worden. Aber auch Heinemann habe gerne eine „Schonsprache“ | |
gesprochen, wenn es um die NS-Vergangenheit ging – etwa, als er in seiner | |
Antrittsrede 1969 etwas verquast den „Missbrauch des Namens unseres Volkes“ | |
beklagte, mit dem „das Unheil des Zweiten Weltkrieges entfesselt worden“ | |
sei. | |
Sehr unterschiedlich sei in der Öffentlichkeit und den Medien auch bewertet | |
worden, wie Walter Scheel (von 1974 bis 1979 Präsident) und Karl Carstens | |
(von 1979 bis 1984 Präsident) beide einst ihre NSDAP-Mitgliedschaft | |
„kleingeredet“ hätten, so Frei. Schon Scheel habe das Kriegsende am 8. Mai | |
1945 als „Befreiung“ bezeichnet. Doch erst Richard von Weizsäckers Rede zum | |
40. Jahrestag vor dem Bundestag habe so viel Beifall gefunden wie keine | |
andere Rede eines Bundespräsidenten vor oder nach ihm. Dies habe aber an | |
einer erinnerungspolitischen „Konjunktur“ gelegen, in die sich Weizsäcker | |
(von 1984 bis 1994 Präsident) „geschmeidig“ eingefügt habe, so Frei. | |
Wenig bekannt ist auch, dass Weizsäcker in letzter Minute aus seinem | |
Manuskript streichen ließ, dass er sich ursprünglich für eine Begnadigung | |
von Rudolf Heß einsetzen wollte – Hitlers ehemaligem Stellvertreter, der | |
als Gefangener der Alliierten bis zu seinem Tod 1987 in Berlin-Spandau | |
einsaß. | |
Eine so große Resonanz habe Weizsäckers Rede vor allem gefunden, meint | |
Frei, weil der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl kurz zuvor mit dem | |
US-Präsidenten Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besucht hatte, | |
auf dem auch Angehörige der Waffen-SS begraben lagen. Im Kontrast zu diesem | |
Skandal strahlten Weizsäckers Worte um so heller. | |
Im Rückblick relativieren sich die Unterschiede zwischen den einzelnen | |
Bundespräsidenten: In ihrer Amtsführung spiegelten sie vielmehr den | |
jeweiligen Zeitgeist wider. Und trotz ihrer herausgehobenen und | |
repräsentativen Bedeutung war die Villa Hammerschmidt, von 1950 bis 1994 | |
der Dienstsitz aller Bundespräsidenten in Bonn, auch nur eine ganz | |
gewöhnliche Behörde. Denn auch im Bundespräsidialamt kamen, wie in anderen | |
Bonner Ministerien und Behörden, zahlreiche Ex-Mitglieder der NSDAP unter: | |
immerhin 50 unter 132 Beschäftigten im höheren Dienst der Villa | |
Hammerschmidt haben Frei uns sein Team ausfindig gemacht. Und, wie immer: | |
„Je höher der Dienstrang, desto dichter die Reihen der Ex-Parteigenossen.“ | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der das Forschungsprojekt | |
angestoßen hatte, betonte, es sei ihm eine besondere Verpflichtung, sich | |
der Geschichte seines Amtes zu stellen. „Gerade in dieser Zeit, in der | |
unsere Demokratie so sehr angefochten ist, müssen wir uns als Gesellschaft | |
unserer Geschichte bewusst sein. Denn was sich nicht wiederholen soll, das | |
darf nicht vergessen werden“, sagte Steinmeier. | |
Viele Ministerien und Behörden haben ihren Umgang mit der NS-Zeit in den | |
vergangenen Jahren untersuchen lassen, nun auch das Bundespräsidialamt. | |
Norbert Frei hatte bereits der unabhängigen Historikerkommission angehört, | |
welche die Geschichte des Auswärtigen Dienstes im Nationalsozialismus und | |
den Umgang mit dieser Vergangenheit nach 1945 untersucht hatte. Der | |
damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) hatte sie 2005 | |
eingesetzt. Viele weitere Ministerien und Bundesbehörden folgten, darunter | |
auch der Bundesnachrichtendienst (BND). | |
12 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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