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# taz.de -- Rechtsruck in Deutschland: Das Recht auf Verrohung
> Die Normalisierung der AfD bedeutet das Ende des Erschreckens über den
> Nationalsozialismus. Wer das verharmlost, nährt die völkische Welle.
Bild: In Mittelbau-Dora arbeiteten mehr als 60.000 Häftlinge unter Zwang für …
Nordhausen im Harz gilt nun als ermutigendes Beispiel, weil
zivilgesellschaftliche Mobilisierung dort einen AfD-Oberbürgermeister
verhinderte. Es gibt jedoch noch eine andere Lesart: In einer Kleinstadt,
vor deren Toren ein berüchtigtes Konzentrationslager betrieben wurde,
genießt der Kandidat einer Partei, welche den Nationalsozialismus aktiv
verharmlost, 45 Prozent der Wählergunst.
Vom Rathaus sind es zwölf Fahrminuten zur [1][KZ-Gedenkstätte
Mittelbau-Dora]: Raketenproduktion für den Endsieg im unterirdischen
Stollen. 60 000 Häftlinge aus nahezu allen besetzten Ländern, Ausgemergelte
in feuchter Eiseskälte, Tag und Nacht. Jeder Dritte starb.
Die Wiesen um den Stollen sind nicht eingezäunt; neulich sah ich dort
Jogger, die sich vergnügten, wo Tausende verreckten.
Hat es jemals ein wirkliches Erschrecken über den Nationalsozialismus
gegeben? Wenn dem so war, dann ist die Zeit zu Ende. Denn die
Normalisierung der AfD bedeutet genau dies: Das Ende des Erschreckens über
den Nationalsozialismus. Dies gilt es auszusprechen, ohne Umschweife und
Beschönigung, so wie Höcke es eben im bayrischen Wahlkampf tat: Was andere
Erinnerungskultur nennen, ist für ihn „die große Umerziehung“ nach 1945,
„als wir systematisch unserer Kultur entfremdet wurden“. Wer die AfD wählt,
der will genau das: Faschistische Haltungen gehören dazu, werden nicht
geächtet. Allenthalben höre ich Verniedlichung: So was fände ja „nur“
jede/r Vierte wählbar, und „nur“ jede/r Zweite plädiere dafür, mit einer
solchen Kraft im politischen Raum zu kooperieren.
Die Anschläge auf NS-Erinnerungsorte werden häufiger, ebenso wie jene auf
die Unterkünfte Geflüchteter; manche Gedenkstätten befinden sich im
ständigen Kleinkrieg mit Vandalismus. Hören wir also bitte mit der
Verharmlosung auf. Hören wir auf, über das geblümte Einwickelpapier zu
reden. Gewiss, Leute sagen, sie wählen AfD, weil sie „sich nicht gesehen
fühlen“ oder wegen der Heizkosten oder wegen des Genderns oder weil die
Wölfe wildern. Alle sind Opfer, so wie die Mehrheit der heutigen Deutschen
offenbar die eigenen Vorfahren für Opfer des Nationalsozialismus hält.
Opfersein ist wirkmächtige rechte Identitätspolitik – sie rechtfertigt die
eigene Verrohung, mehr noch: sie berechtigt dazu.
Deshalb ist der Begriff „Faschismus der Herzen“ so passend; die
Politikwissenschaftler Volker Heins und Frank Wolff bezeichnen damit die
hassgesättigte Gefühllosigkeit gegenüber Geflüchteten, das Ende aller
Empfänglichkeit für Appelle an Mitmenschlichkeit. Die Abwehr von Mitgefühl
wird belohnt, sie wird in Fug und Recht gesetzt, das kalte Herz
triumphiert.
## Gelegenheits-Völkische der Sorte Merz
Sollte es mich erstaunen, wie leicht, wie ungehindert sich das durch
bürgerliche Milieus zieht? Wie schnell platzt der progressive Lack ab, die
dünn aufgetragene Fortschrittlichkeit – nach dem Mord an George Floyd
überboten sich Medien mit Antirassismus. Nun will niemand beim
Grenzen-Verriegeln der Letzte sein.
Dabei ist so offensichtlich, dass die Geflüchteten nur ein Vehikel sind,
ein Tool, einfach zu handhaben von Gelegenheits-Völkischen der Sorte Merz.
Was die überzeugten Völkischen der Sorte [2][Höcke] mobilisieren, hat
hingegen ein größeres Format: Angegriffen und gehasst wird die Diversität
Deutschlands, wird das veränderte (und noch so vulnerable) Gesicht dieser
Gesellschaft mit neu austarierter Teilhabe, mit Gleichsein in
Verschiedenheit. Denn all dies widerspricht der Ideologie der
Ungleichwertigkeit, diesem dunklen Kern, der Faschismus und Kolonialismus
mit dem heutigen Rechtsextremismus verbindet.
Erwarten wir, um aufzuwachen, aufzuschrecken, lieber keine homogene
Eindeutigkeit der Verhältnisse. In Frankreich rückt gerade der
franko-libanesische Weltbürger Amin Maalouf an die Spitze der Académie
Française, derweil liegt der Rassemblement National in allen Umfragen
vorne. Ganz Europa rückt nach rechts, und weil alle mitrücken, fühlt es
sich nicht nach Ausnahmezustand an.
Vor fünf Jahren mobilisierte das Bündnis „Unteilbar“ hierzulande
Hunderttausende, damit Hilfe für Geflüchtete und soziale Anliegen nicht
gegeneinander ausgespielt werden. Heute gibt es gegen die Politik der
Feindschaft anscheinend keine Vision einer solidarischen Gesellschaft.
[3][Die Völkischen] nähren sich an der größeren Sichtbarkeit von
Verschiedenheit, ob von Queeren oder People of Color, und obwohl jede
einzelne der Bewegungen, die sich aus dem Status der Marginalisierung
heraus Rechte erkämpft haben, in scharfem Gegensatz zur AfD steht, wächst
daraus keine gemeinschaftliche Handlungsmacht.
Dies zu bemerken, heißt nicht, modische Polemiken gegen Wokism zu bedienen,
es ist vielmehr ein Plädoyer dafür, über die partikularen Anliegen hinaus
ein antifaschistisches Wir zu formulieren. Vielen macht dieses Deutschland,
das da heraufzieht, Angst: Es ängstigt Migranten, Schwarze, Feministinnen,
es ängstigt Juden und Jüdinnen. Deren Verunsicherung in Deutschland wächst
zu einem Zeitpunkt, wo Israel keine sichere Zuflucht mehr böte: Viele dort
denken selbst an Ausreise. Ein fatales und nicht zufälliges
Zusammentreffen.
Blick zurück: Als 1945/46 Zehntausende jüdische Überlebende als Heimatlose
in hiesigen Camps für Displaced Persons ausharrten, wurden sie von vielen
Nachkriegsdeutschen als Eindringlinge betrachtet, als Plage, als Herd von
Kriminalität und Krankheiten. Das waren antisemitische Stereotype, doch
schimmern in dieser Gedankenwelt Elemente auf, die uns heute in der Haltung
gegenüber Geflüchteten erneut anblicken: Die Sesshaften, die
Nicht-Entwurzelten und Nicht-Verfolgten sehen sich als Opfer derer, die
Heim und Sicherheit verloren haben. Die Ideologie der Kälte, die Verachtung
fremden, unverstandenen Leids und die auftrumpfende Empathielosigkeit
bedarf des entschiedenen Widerspruchs.
3 Oct 2023
## LINKS
[1] /Stichwahl-um-Oberbuergermeisteramt/!5961936
[2] /Verfassungswidrige-NS-Parole/!5960203
[3] /Der-Fall-Aiwanger/!5955089
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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