| # taz.de -- Historiker über Krieg und Nationalismus: „Je mehr Kriegstote, de… | |
| > In Regionen mit vielen „Gefallenen“ des Ersten Weltkriegs wurde in den | |
| > 1930ern stark nationalistisch gewählt. Das belegen Forschungen aus | |
| > Osnabrück. | |
| Bild: Viele Kriegstote machen nationalistischer: Soldatenfriedhof im französis… | |
| taz: Herr De Juan, machen Kriege nationalistisch? | |
| Alexander De Juan: Das hängt von Merkmalen der Kriege und ihrem politischen | |
| Kontext ab. In unserer Studie haben meine KollegInnen und ich eine | |
| bestimmte Dimension von Kriegen untersucht: die Erfahrung der | |
| Zivilbevölkerung mit Tod und Verlust. Studien aus anderen Kontexten zeigen, | |
| dass diese Konfrontation in unterschiedliche Richtungen ziehen kann: Sie | |
| kann eine stärkere Orientierung auf die eigene nationale Gruppe und eine | |
| stärkere Abgrenzung nach außen befördern. Sie kann aber auch, im Gegenteil, | |
| die Sehnsucht nach Frieden, Stabilität und Versöhnung erzeugen. Das hängt | |
| auch davon ab, wie Krieg und Verlust gesellschaftlich rezipiert werden. | |
| taz: Was haben Sie und Ihr Team nun konkret untersucht? | |
| De Juan: In unserer [1][Studie] haben wir die Wirkung des Ersten Weltkriegs | |
| auf die Unterstützung der deutschen Zivilbevölkerung für die NSDAP und die | |
| DNVP untersucht – die zentralen nationalistischen Parteien der Weimarer | |
| Republik. Dazu haben wir die Wahlen zum Reichstag zwischen 1924 und März | |
| 1933 angeschaut. | |
| taz: Wie sind Sie vorgegangen? | |
| Wir versuchen erstmals den Zusammenhang zwischen Kriegstoten und | |
| Wahlverhalten systematisch flächendeckend zu erfassen. Dazu werten wir aus, | |
| wie sich Kriegstote gemäß ihren Geburtsorten auf das Territorium der | |
| Weimarer Republik verteilen. Daraus können wir ableiten, ob die NSDAP und | |
| DNVP in Landkreisen, aus denen überdurchschnittlich viele „Gefallene“ des | |
| [2][Ersten Weltkriegs] kamen, erfolgreicher war als in Landkreisen mit | |
| weniger getöteten Soldaten. Diese Methode birgt allerdings Risiken. | |
| taz: Welche? | |
| De Juan: Wir wissen nicht, ob sich Landkreise mit besonders hoher Totenzahl | |
| schon vor dem Krieg strukturell von anderen Landkreisen unterschieden. Wenn | |
| zum Beispiel mehr Freiwillige aus besonders nationalistischen Landkreisen | |
| in den Krieg zogen, hatten sie auch mehr Todesopfer. Dann wäre aber nicht | |
| die Zahl der Kriegstoten für die NSDAP-Unterstützung verantwortlich, denn | |
| die war ja schon vorher da. Solche Scheinkorrelationen wollten wir | |
| vermeiden. | |
| taz: Wie genau? | |
| De Juan: Wir haben gesagt: Wir können nicht einfach die absolute Anzahl der | |
| Toten anschauen, denn die ist stark geprägt durch strukturelle Merkmale der | |
| Landkreise schon vor dem Ersten Weltkrieg. Wir brauchen ein anderes Maß, | |
| das unabhängig ist von der schon zuvor bestehenden politischen Ausrichtung | |
| der Landkreise. | |
| taz: Das heißt konkret? | |
| De Juan: Wir schauen uns für jeden Landkreis an, wie viele Kriegstote und | |
| wie viele Kriegsverwundete es gab und berechnen das Verhältnis zwischen | |
| beiden. Wir vergleichen zum Beispiel zwei Landkreise, in denen je 1.000 | |
| Menschen in den Krieg zogen. In dem einen Landkreis sind 800 umgekommen und | |
| 200 verletzt. Im anderen Landkreis sind nur 200 umgekommen und 800 | |
| verletzt. Die Konfrontation mit Tod in den beiden Landkreisen unterscheidet | |
| sich stark, obwohl beide gleich viele Männer in den Krieg geschickt haben. | |
| Dieser Unterschied beruht nicht auf Merkmalen der Landkreise, sondern auf | |
| Dynamiken an der Front, also exogenen Faktoren. | |
| taz: Welche wären das? | |
| De Juan: Wir haben Karten von der Front verarbeitet, aus denen hervorging, | |
| welche militärischen Einheiten wo an der Front stationiert und von | |
| Angriffen der Alliierten besonders stark betroffen waren. Es zeigte sich, | |
| dass die Wahrscheinlichkeit, getötet oder verletzt zu werden, stark davon | |
| abhing, in welchem Frontabschnitt man eingesetzt war. Wir konnten zeigen, | |
| dass das Verhältnis von Toten und Verletzten getrieben ist durch diese | |
| [3][Dynamiken an der Front], ganz unabhängig von strukturellen Merkmalen in | |
| den Landkreisen zu Hause. Wenn wir dann herausfinden, dass die Anzahl der | |
| Toten korreliert mit der Unterstützung für die NSDAP, wird deutlich, dass | |
| es keine Scheinkorrelation ist, sondern dass ein echter kausaler | |
| Zusammenhang besteht. | |
| taz: Und den gibt es? | |
| De Juan: Ja. In der Weimarer Republik wurde in Landkreisen mit mehr | |
| „Gefallenen“ des Ersten Weltkriegs im Durchschnitt häufiger NSDAP gewählt. | |
| Wir können also sagen: Die Konfrontation mit Tod im Kontext | |
| zwischenstaatlicher Kriege beförderte in diesem Fall die Unterstützung für | |
| nationalistische Parteien. Wir haben uns außerdem Beitrittszeitpunkte zur | |
| NSDAP und zur [4][HJ] sowie die Darstellung des Kriegs in Briefen von | |
| NSDAP-Mitgliedern zu ihrer Motivation angeschaut. Alle Quellen deuten in | |
| die gleiche Richtung: dass es vor allem die Gruppe der Zivilisten ist, die | |
| den Krieg nicht direkt vor Ort erlebt haben. Und dass deren Konfrontation | |
| mit dem Verlust von Familie, Freunden, Bekannten die nationalistische | |
| Ausrichtung wesentlich befördert. | |
| taz: Wie haben Sie das im Einzelnen analysiert? | |
| De Juan: Wir haben stichprobenartig in NSDAP-Mitgliederkarteien den | |
| Zeitpunkt des Beitritts angeschaut. Jürgen Falter von der Universität Mainz | |
| hat uns die Daten zur Verfügung gestellt. Ein Beitritt in der Frühphase, | |
| also vor der [5][Machtübergabe an die NSDAP] im März 1933, erfolgte | |
| vermutlich eher aus Überzeugung, während spätere Beitritte stärker | |
| opportunistisch getrieben waren. Außerdem haben wir geschaut: Wie | |
| wahrscheinlich ist es, dass Menschen, die der NSDAP beitraten, selbst an | |
| der Front waren? | |
| taz: Was kam heraus? | |
| De Juan: Alter und Geschlecht der Parteimitglieder zeigen: Viele frühe | |
| NSDAP-Mitglieder waren Frauen sowie Männer, die zu jung waren, um im Ersten | |
| Weltkrieg eingezogen worden zu sein. Zivilisten also. Wir haben | |
| festgestellt, dass gerade diese Zivilisten in stark betroffenen Landkreisen | |
| früh in die NSDAP eingetreten sind. Das sind Menschen, die im Ersten | |
| Weltkrieg zwar Verluste erfahren haben im unmittelbaren Umfeld, die zudem | |
| der [6][Kriegspropaganda der Nationalsozialisten] ausgesetzt waren, den | |
| Krieg aber nicht an der Front erlebt hatten. Außerdem fanden wir heraus, | |
| dass die NSDAP-Unterstützung besonders stark in den Regionen ausfiel, die | |
| schon vorher eine ausgeprägte Kultur des Kriegsgedenkens hatten. Dort, wo | |
| besonders viele nationalistische Kriegsdenkmäler aus dem | |
| deutsch-französischen [7][Krieg von 1870/71] standen, war die | |
| NSDAP-Unterstützung besonders stark. | |
| taz: Wie ist das zu erklären? | |
| De Juan: Unsere Vermutung: Das war die Hochphase des Nationalismus im | |
| Kontext der Reichsgründung. Da sollten die [8][Kriegsdenkmäler] eine | |
| bestimmte Botschaft über den Krieg kommunizieren und eine nationalistische | |
| Erinnerungskultur befördern. Denn es ist ein Unterschied, ob ein Mahnmal an | |
| die Opfer, den menschlichen Verlust erinnert oder an „unsere Helden, die im | |
| mutigen Kampf gegen den Feind gestorben sind“. Diese Botschaft, verstärkt | |
| durch NS-Propaganda, wirkte noch lange nach. | |
| 20 Oct 2024 | |
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| [1] https://www.cambridge.org/core/journals/american-political-science-review/a… | |
| [2] /Schwerpunkt-Erster-Weltkrieg/!t5028182 | |
| [3] /Nachrichten-von-1914--17-August/!5035342 | |
| [4] /Zeitzeuge-ueber-seine-Kindheit-im-NS-Staat/!5392924 | |
| [5] /Als-die-Nazis-an-die-Macht-kamen/!5074240 | |
| [6] /Nazi-Propaganda/!t5354762 | |
| [7] /Buch-ueber-Deutsch-Franzoesischen-Krieg/!5727883 | |
| [8] /Buch-ueber-Deutsch-Franzoesischen-Krieg/!5727883 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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