| # taz.de -- Fachleute über Erinnerungskultur: „Wir müssen Erinnern global d… | |
| > Auf den Demos gegen rechts waren wenige Migranten. Martin Link vom | |
| > Flüchtlingsrat S-H und Heino Schomaker von der LAG Gedenkstätten über | |
| > mögliche Gründe. | |
| Bild: Mehrheitsgesellschaft auf der Straße: Demo gegen rechts am vergangenen W… | |
| taz: Herr Link, Herr Schomaker, an den [1][aktuellen Demos gegen rechts] | |
| nehmen vergleichsweise wenige Menschen mit Fluchterfahrung oder nicht | |
| biodeutsch gelesene Personen teil, auch die Redner*innen stammen | |
| überwiegend aus der Mehrheitsgesellschaft. Ihre These lautet, das läge auch | |
| daran, dass hierzulande eine diverse und plurale Erinnerungskultur fehlt. | |
| Wie könnte die aussehen? | |
| Heino Schomaker: Sicher gibt es viele persönliche Gründe, warum Menschen | |
| demonstrieren oder eben nicht. Aber die Art, wie in Deutschland | |
| Erinnerungskultur praktiziert wird, ist immer noch ein sehr abgeschlossenes | |
| Projekt biodeutscher Akteur*innen, mit Fokus auf der NS-Zeit. Natürlich hat | |
| die nach wie vor eine zentrale Bedeutung, aber eine | |
| Einwanderungsgesellschaft muss die Zugewanderten einbeziehen, ihre | |
| Geschichten und die ihrer Herkunftsländer. | |
| Würde das nicht bedeuten, den Holocaust mit anderen Taten zu vergleichen | |
| und gleichzusetzen? | |
| Martin Link: Die Debatte über die historische Einmaligkeit des | |
| [2][Holocaust] ist sehr deutsch, Eingewanderte können das oft nicht | |
| nachvollziehen. Dass die Mehrheitsgesellschaft versucht, einzelne Gruppen | |
| auszumerzen, ist auch eine Erfahrung in der Geschichte von Einwander*innen. | |
| Sie sind irritiert, wenn wir den Eindruck vermitteln, ihre Historie habe | |
| weniger Gewicht als unsere. Ja, der Holocaust hat mit der industriellen | |
| Vernichtung von Millionen Menschen eine andere Dimension, aber Genozid | |
| bleibt Genozid. Wenn wir zu einem pluralen Erinnern kommen wollen, dürfen | |
| wir in der Einwanderungsgesellschaft die Erfahrungen, die andere | |
| mitbringen, nicht abwerten. | |
| Schomaker: Wir müssen Erinnern global denken. Ich verstehe das „Nie | |
| wieder!“ als universellen Ausdruck für Menschenrechte. Ganz konkret: Ich | |
| trete für den Schutz jüdischen Lebens und das Existenzrecht Israels ein und | |
| kann gleichzeitig die katastrophale Situation der Menschen im Gazastreifen | |
| beklagen und über Kolonialismus und seine Folgen diskutieren. | |
| Wie könnte so eine Haltung entstehen? | |
| Link: Es gibt bis dato kaum politisches Bewusstsein dafür, dass es in einer | |
| diversen Gesellschaft eine gemeinsame Vergewisserung der Geschichte geben | |
| muss. Einwanderung soll einen Bedarf befriedigen, etwa dem Mangel an | |
| Arbeitskräften abhelfen. Aber damit Zugewanderte und Mehrheitsbevölkerung | |
| eine Zukunftsperspektive entwickeln können, kann es helfen, sich auf | |
| gemeinsame historische Wurzeln und Bezüge zu besinnen. Darüber wollen wir | |
| ins Gespräch gehen und hoffen auf Förderung. | |
| Wofür brauchen Sie die? | |
| Schomaker: Ich sage Ihnen ein Beispiel: Der [3][Flüchtlingsrat] und die | |
| [4][Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten] und Erinnerungsorte in | |
| Schleswig-Holstein möchten Migranten-Selbstorganisationen einladen und | |
| gemeinsam überlegen, wie wir die Strukturen und Inhalte der | |
| Erinnerungsarbeit öffnen und Erinnerungskultur weiterentwickeln können. | |
| Dahinter steht keine Kritik an den Akteur*innen der Erinnerungsarbeit | |
| und der historisch-politischen Bildung, die – oft ehrenamtlich – eine sehr | |
| gute Arbeit machen. Aber unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden, und | |
| das muss sich auch in ihrer Erinnerungskultur ausdrücken. | |
| Link: Dafür müssen wir die [5][Gedenkstätten] für Eingewanderte | |
| identifizierbar machen. Heute sind das sehr teutonisch geprägte Orte, | |
| orientiert auf die deutschsprachige Zielgruppe. Daher bilden sich die | |
| Erfahrungen aus anderen Ländern eher weniger in den Gedenkstätten ab. Das | |
| sollte sich im Zuge einer einwanderungsgesellschaftlichen Erinnerungsarbeit | |
| ändern, schließlich reicht die Geschichte des Faschismus über Europa | |
| hinaus. Ich erhoffe mir durch solche Debatten mehr wechselseitigen Respekt | |
| im Zusammenleben und einen gemeinsamen Blick auf die Welt. | |
| Das ist die langfristige Sicht – aber wie gelingt es, dass die aktuellen | |
| Demos mehr Menschen anziehen? | |
| Schomaker: Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie willkommen und | |
| wichtig sind. Bei der Demo in Kiel am vergangenen Samstag gab es Beiträge | |
| von Schwarzen Personen, die neue Perspektiven eröffnet haben. Das ist von | |
| zentraler Bedeutung, das ist Diskursqualität in der | |
| Einwanderungsgesellschaft. | |
| Für große Teile der Mehrheitsgesellschaft scheint [6][das Treffen in | |
| Potsdam] von AfD-Funktionären mit Rechtsextremen, bei dem über die | |
| „Remigration“ großer Bevölkerungsgruppen gesprochen wurde, ein Weckruf | |
| gewesen zu sein. Personen, die nicht biodeutsch gelesen werden, erleben | |
| aber ständig Alltagsrassismus. Nehmen Betroffene der Mehrheitsgesellschaft | |
| ihre Entrüstung nicht ab? | |
| Link: Darüber will ich nicht spekulieren. Aber bei den Demonstrationen | |
| wollen sich in erster Linie Deutsche von dem abgrenzen, was da angeblich in | |
| ihrem Namen im braunen Hinterzimmer vorbereitet wird. Dass Einwandernde, | |
| die regelmäßig [7][Alltagsrassismus], restriktive Politik und eine | |
| [8][ausgrenzende Bürokratie] erfahren, nicht mit wehenden Fahnen auf den | |
| Markt antirassistischer Bekenntnisrituale der Mehrheitsgesellschaft ziehen, | |
| sollte uns nicht überraschen. Solange Integration nur formal abläuft, stets | |
| im Fadenkreuz der Behörden, führt das nicht zu positiver Identifizierung, | |
| sondern nur zu einer defensiven Strategie der Fehlervermeidung. Das Ziel | |
| ist, dass alle hier Lebenden das Land und die Zukunft als kollektives | |
| Projekt verstehen. Das ließe sich über die Brücke der gemeinsamen Aneignung | |
| der Geschichte erreichen. | |
| 1 Feb 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Demos-gegen-Rechtsextremismus/!5989521 | |
| [2] /Holocaust/!t5007706 | |
| [3] https://www.frsh.de/ | |
| [4] https://www.lag-gedenkstaetten-sh.de/ | |
| [5] /Gedenkstaette/!t5011791 | |
| [6] https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigrati… | |
| [7] /Alltagsrassismus/!t5035191 | |
| [8] /Leistungen-fuer-Gefluechtete/!5989524 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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