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# taz.de -- Neue Ausstellungsräume in Gedenkstätte: Das selbst ausgegrabene KZ
> Maren Grimm und Oliver Gemballa begannen Mitte der 90er Jahre ein KZ in
> Schleswig-Holstein auszugraben. Nun gibt es neu konzipierte
> Ausstellungsräume.
Bild: Mit dem für 1.000 D-Mark geliehenen Bagger entdeckten sie das Fundament …
Wenn man Oliver Gemballa fragt, scheint er sich selbst ein bisschen zu
wundern. Hat er wirklich vor knapp 30 Jahren als Student [1][die Reste
eines KZ] ausgegraben, einfach so, ohne Auftrag, Erlaubnis der
Grundeigentümer oder gar Einverständnis von Denkmalschützern? Bevor er
überhaupt anfängt, davon zu erzählen, stellt er klar, dass er das erstens
mit einer Freundin, Maren Grimm, zusammen gemacht habe. Und zweitens hätten
sie nur den Grundstein gelegt und sich nach zwei Jahren, 1998 war das,
völlig aus der Sache herausgezogen. „Die harte Arbeit haben dann andere
erledigt.“
Von dieser jahrzehntelangen Arbeit erzählt die [2][Gedenkstätte des KZ
Kaltenkirchen], deren neu konzipierten Ausstellungsräume am Freitag
eröffnet werden. Sie stehen zwischen Feldern und einem Waldstück an der B4,
40 Kilometer nördlich von Hamburg. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt
auf der Geschichte des KZ nach 1945, wie es erst gründlich vergessen und
dann dank des Engagements von Bürger:innen wieder ins Bewusstsein
gerückt wurde.
In einem Bürocontainer war erstmals vor 23 Jahren zu sehen, was der zwei
Jahre zuvor gegründete „Trägerverein KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen in
Springhirsch“ ehrenamtlich an Dokumentationsmaterial zusammengetragen
hatte. Danach dauerte es noch einmal 14 Jahre, bis das Land
Schleswig-Holstein Geld dafür ausgab. Seitdem ist neu- und angebaut worden
und seit 2019 finanziert die Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische
Gedenkstätten eine halbe Stelle für einen hauptamtlichen Leiter, Marc
Czichy.
Dass der Ort, an dem zwischen August 1944 und April 1945 mehr als 500
Menschen zu Tode kamen, erst Mitte der 90er-Jahre als Gedenkstätte an die
NS-Verbrechen erschlossen wurde, sei typisch für Schleswig-Holstein, sagt
der Historiker Marc Czichy. „Die Aufarbeitung begann hier zehn Jahre später
als in den anderen westdeutschen Bundesländern.“
Das habe damit zu tun, dass in Schleswig-Holstein überdurchschnittlich
viele ehemalige NS-Funktionäre nach dem Krieg Karriere machen konnten, im
Landtag und in der Landesregierung saßen. „Die Erinnerungskultur war
maßgeblich vom Gedenken an die deutschen Kriegsopfer geprägt.“ Zudem war
die NSDAP in Schleswig-Holstein und insbesondere in dessen Süden schon
früher als im Rest des Landes bei Wahlen erfolgreich gewesen – mit höheren
Stimmanteilen.
Und das war in Kaltenkirchen noch lange zu spüren. Oliver Gemballa, geboren
1972, wuchs in einem der vielen Dörfer in der Umgebung Kaltenkirchens auf,
einer [3][Kleinstadt mit damals 13.000 Einwohner:innen]. Er besuchte
wie die Autorin dieses Artikels dort das Gymnasium, aber nur bis zum Ende
der Mittelstufe. Dann wechselte er wie sehr viele andere Schüler:innen
in dieser Zeit an eine andere Schule. Das Klima am Gymnasium Kaltenkirchen
war vergiftet, geprägt von autoritären Strukturen, einem Schulleiter, der
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche tolerierte, offen rechtsextremen
Lehrern.
Einer von ihnen joggte zwischen 1983 und 1988 im Rahmen einer
Schulveranstaltung jährlich mit anderen Lehrern sowie Schüler:innen an
der innerdeutschen Grenze entlang – um West- und „Mitteldeutschland“ wied…
zu vereinigen. In einer Vitrine in der Schule stellte er eine Landkarte von
Deutschland in den Grenzen von 1937 aus.
„Es war absurd, was an dieser Schule los war“, sagt Oliver Gemballa. Er
erinnert sich an ein Treffen von rechten Burschenschaftlern auf dem
Schulhof, darunter Schüler und Lehrer. Ende der 80er-Jahre gründete er in
Kaltenkirchen mit anderen eine Antifa-Gruppe. Die lud den Lokalhistoriker
Gerhard Hoch ein. Er hatte 1980 sein Buch „Zwölf wiedergefundene Jahre:
Kaltenkirchen unter dem Hakenkreuz“ veröffentlicht und galt seitdem einigen
in der Gegend als „Nestbeschmutzer“.
[4][In einem Interview] erzählt der 2015 mit 92 Jahren gestorbene Gerhard
Hoch, wie die CDU-Mehrheit im Kaltenkirchener Stadtrat es ablehnte, den
Druck des Werks mitzufinanzieren – obwohl sich sowohl das Land als auch der
Kreis daran beteiligen wollten.
In dem Buch beschreibt Gerhard Hoch auch die Geschichte des KZ
Kaltenkirchen, in das Häftlinge aus dem KZ Neuengamme verlegt wurden, einem
südöstlich von Hamburg gelegenen Konzentrationslager, dem größten
Nordwestdeutschlands. Im Außenlager Kaltenkirchen mussten sie die Start-
und Landebahn des Militärflughafens verlängern, sie lebten und arbeiteten
unter menschenverachtenden Bedingungen. Auf der Homepage der Gedenkstätte
kann man nachlesen, wie täglich die Toten abtransportiert wurden, die
meisten wurden in Gruppengräbern verscharrt.
Die Baracken auf dem Gelände wurden nach Kriegsende zunächst als
Flüchtlingsunterkünfte genutzt, später für eine Gaststätte. Zwischen 1976
und 1983 wurden alle Gebäude abgerissen, das KZ dem Erdboden gleichgemacht,
was das Vergessen erleichterte. „Da ist totales Gras drüber gewachsen“,
sagt der Leiter der Gedenkstätte, „der Ort musste erst wieder freigelegt
werden.“
Physisch geschah das erst 1996, als Oliver Gemballa und Maren Grimm mit
Unterstützung eines befreundeten Grabungstechnikers anfingen, in dem
Waldstück zu buddeln. Zunächst nur mit einem Metallsuchgerät, Schaufeln und
Spaten, später mit einem Bagger, den sie sich nach einer Spende von 1.000
D-Mark leihen konnten. Dabei entdeckten sie unter anderen Fundamente der
ehemaligen Waschbaracke sowie Reste der Latrinengrube.
Der Lokalhistoriker Gerhard Hoch suchte mittlerweile mit ihnen – obwohl ja
die Erlaubnis fehlte, wie er in dem Interview anmerkt, das er kurz vor
seinem Tod gegeben hat. In einem Schreiben vom 15. Juli 1997 bedankt sich
der damalige Bürgermeister der Stadt Kaltenkirchen für die Unterrichtung
über die Grabungsarbeiten, wünscht viel Erfolg und erinnert daran, dass es
sich um Privatgelände handelt – es gehört bis heute der Flughafen Hamburg
GmbH.
Wie es dazu kam, dass sie sich auf die Suche nach Resten des KZ machten,
weiß Oliver Gemballa nicht mehr. Er muss seiner damaligen Freundin Maren
Grimm davon erzählt haben, die auf archäologischen Stätten gearbeitet
hatte. Er habe einen emotionalen Zugang zum Thema gehabt, sagt er. „Das war
eine Möglichkeit, in diesen Baseballschläger-Jahren konkret etwas zu tun.“
Die Jahre nach dem Mauerfall waren geprägt von Nationalismus und
rechtsextremen Ausschreitungen, die in den Pogromen im August 1992 in
Rostock-Lichtenhagen und im tödlichen Brandanschlag drei Monate später in
Mölln gipfelten.
## Umkehr unmöglich gemacht
Dass sich die beiden Studierenden nach 1998 komplett aus dem Projekt
zurückzogen, lag einerseits daran, dass sie in Hamburg lebten und dort
eingebunden waren. Andererseits fanden sie, dass die geplante
Musealisierung des Ortes eine Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte
verhindern würde. „Verantwortung kann nicht an einen Ort delegiert werden“,
heißt es in einem Film, in dem die beiden ihre Grabungsarbeit
dokumentieren.
Er sei dennoch froh, Teil der Geschichte dieser Gedenkstätte zu sein, sagt
Oliver Gemballa heute. Maren Grimm habe damals eine Visitenkarte mit einem
Karl-Marx-Zitat gehabt, erinnert er sich: „Eine Situation schaffen, die
jede Umkehr unmöglich macht.“ Das sei ihnen wohl gelungen.
2 Feb 2024
## LINKS
[1] /Archaeologie-der-NS-Lager/!5950244
[2] https://www.kz-gedenkstaette-kaltenkirchen.de/
[3] /Ueberleben-im-Herzen-Schleswig-Holsteins/!5848326
[4] https://akens.org/akens/texte/info/56/Hoch_Buttkereit.pdf
## AUTOREN
Eiken Bruhn
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
KZ
Gedenkstätte
Schleswig-Holstein
Lesestück Recherche und Reportage
Erinnerungskultur
Judentum
Gedenkpolitik
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