# taz.de -- Nazi-Verfolgte in der Ukraine: Vom Elend des Krieges eingeholt | |
> Deutsche NS-Gedenkstätten unterstützen die letzten lebenden | |
> Nazi-Verfolgten in der Ukraine. Viele von ihnen leben unter prekären | |
> Bedingungen. | |
Bild: Die 92-jährige Ukrainerin Diana B. erhält wegen des Kriegs in der Ukrai… | |
BERLIN taz | Diana B. ist 92 Jahre alt und lebt von umgerechnet 130 Euro | |
Rente im Monat. Der größte Teil ihres Geldes geht für Medikamente drauf. | |
Die Jüdin wohnt zusammen mit ihrer Tochter Lyudmila in der Stadt Bila | |
Tserkva südlich von Kiew. | |
Diana B. wurde im Februar 1930 in Fastiv südwestlich von Kiew geboren und | |
wuchs als Halbwaise auf, nachdem ihr Vater gestorben war. Ihrer Mutter und | |
den zwei Kindern gelang es während der deutschen Besatzungszeit, ihre | |
jüdische Identität gegenüber der SS zu verbergen. Sie nahmen einen kleinen | |
Jungen auf, dessen Eltern von den Nazis erschossen worden waren, und gaben | |
ihn als einen Verwandten aus. Alle vier Personen überlebten. | |
Nach der Befreiung beendete Diana ihre Schulzeit und begann ein Studium der | |
Literaturwissenschaften in Kiew. Dort machte sie einen Witz über Stalin. | |
Sie wurde von einem Kommilitonen denunziert und erhielt eine zehnjährige | |
Haftstrafe. Fünf Jahre davon musste sie in Sibirien absitzen, bis Stalin | |
gestorben war. Danach studierte sie Ökonomie, heiratete, bekam zwei Töchter | |
und arbeitete in verschiedenen Unternehmen in Bila Tserkva. | |
Die jüdische Gemeinde der Stadt zählt etwa 600 Mitglieder. Ihre Leiterin, | |
die 51-jährige Lehrerin Natella Andruishenko, berichtet am Telefon, welchen | |
Herausforderungen die Gemeinde ausgesetzt sind. Da gebe es die Alten, so | |
wie Diana B., die Unterstützung bekommen müssen. Doch nun seien 20 jüdische | |
Flüchtlingsfamilien aus dem besetzten Osten nach Bila Tserkva gekommen. | |
Arme Menschen, die man zunächst in der jüdischen Schule untergebracht habe. | |
Jetzt versuche man, für diese Menschen Unterkünfte zu finden. Die Gemeinde | |
verteile Medikamente, Essenspakete und kleine Geldsummen. Doch die Mittel | |
sind begrenzt und die grassierende Inflation frisst den Geldwert auf. | |
Neuerdings sind die Sorgen von Natella Andruishenko ein bisschen kleiner | |
geworden. Diana B. erhält Unterstützung. Aus Deutschland, das sie einst | |
umbringen wollte. Möglich gemacht haben das 48 NS-Gedenkstätten, Museen und | |
Initiativen, die sich zusammengeschlossen haben, um den Überlebenden der | |
Nazi-Besatzung in der vom Krieg heimgesuchten Ukraine zu helfen. Das | |
„[1][Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine“,] so | |
der etwas sperrige Name, sammelt Geld für sie und hat ein | |
Patenschaftsprogramm aufgelegt. Ab zehn Euro monatlich sind hilfsbereite | |
Menschen dabei. | |
Geschätzt 42.000 NS-Überlebende, fast ausschließlich sehr alte Menschen, | |
leben noch in der Ukraine. Darunter Juden, Roma, ehemalige | |
Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter. Schon immer war ihre Lage prekär. Die | |
Renten sind, wie in vielen Staaten Europas, ausgesprochen gering. Ein wenig | |
Unterstützung erhielten viele in jüngster Zeit durch die | |
Entschädigungsregelung für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus | |
Deutschland. Doch der aufgezwungene Krieg hat das bisherige Leben vieler | |
zerstört. Ihre Familien sind oft nicht mehr in der Lage beizuspringen, weil | |
sie selbst kaum über die Runden kommen. | |
Bei Ljuba Danylenko steht das Telefon nicht still. Die 47-jährige | |
Germanistin aus Kiew ist im April nach Deutschland geflüchtet. Sie lebt | |
seit drei Monaten in Magdeburg und arbeitet dort als Dolmetscherin. | |
Danylenko ist eine der Freiwilligen, die sich um die praktische Umsetzung | |
der Hilfe kümmert. In Kiew hat sie für eine Stiftung der Überlebenden | |
gearbeitet und kennt deswegen die richtigen Menschen und Adressen. | |
Aber so einfach ist es nicht. „In vielen Fällen wissen wir nichts“, bekennt | |
Danylenko. Verbindungen seien abgerissen, etwa wenn die Menschen eiligst in | |
Zügen evakuiert worden sind. In anderen Fällen seien die Alten geblieben, | |
trotz der Nähe zur Front, ein Teil von ihnen lebt heute auf russisch | |
besetztem Gebiet. „Gut, wenn sie einen Nachbarn haben“, sagt Danylenko. | |
Hilfe für Menschen in den besetzten Gebieten sei kaum mehr möglich. Eine | |
einzige Bank in der Großstadt Cherson nehme noch Überweisungen entgegen, | |
verlange dafür aber horrende Gebühren. | |
Im März ist in Charkiw Boris Romantschenko gestorben. Er war als | |
16-Jähriger zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden. Er | |
schuftete [2][in Peenemünde an der „Wunderwaffe“, der Nazirakete V2], kam | |
nach einem Fluchtversuch in das KZ Buchenwald und wurde in den | |
Konzentrationslagern Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen gequält. Als | |
Jugendlicher von den Nazis verfolgt, wurde Romantschenko dann im Jahr 2022 | |
Opfer des russischen Kriegs. Im Alter von 96 Jahren starb der ukrainische | |
Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora in den Trümmern, | |
die ein russisches Geschoss aus seiner Wohnung gemacht hatte. Im Juli ging | |
eine finanzielle Soforthilfe des Hilfsnetzwerks an die Enkelin des | |
Getöteten. Ob weitere NS-Überlebende Opfer der russischen Aggression | |
geworden sind, ist nicht bekannt. Doch die Gefahr sei sehr groß, sagt | |
Christine Glauning, Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in | |
Berlin. | |
Ljuba Danylenko berichtet von anderen Fällen, wo Verwandte Fotos aus den | |
freien Gebieten schickten, um zu beweisen, dass die Alten noch am Leben | |
sind. Sie hat die Bilder von den Zug-Evakuierungen gesehen und an | |
befreundete Journalisten und Kollegen geschickt. In einigen Fällen konnte | |
so das Schicksal einiger ehemaliger Zwangsarbeiter geklärt werden. „Geld | |
kann ein bisschen was ausgleichen“, sagt Danylenko. „Die Menschen bedanken | |
sich.“ | |
So wie die Enkelin der 1926 geborenen Varvara Dmitrievna B., die als | |
Jugendliche Zwangsarbeit in einem Dorf bei Nürnberg leisten musste und in | |
diesem Jahr in ein Kiewer Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Familie war | |
infolge des Kriegs ohne Einkommen, Medikamente waren unbezahlbar. | |
„Herzlichen Dank für Ihre menschliche und materielle Unterstützung! Wenn | |
die Großmutter bei Bewusstsein ist, dankt sie aufrichtig und betet für die | |
Gesundheit all derer, die sie unterstützt und ihr Mitgefühl bekundet haben, | |
die die letzten überlebenden ‚Ostarbeiter‘ des Zweiten Weltkrieges nicht | |
vergessen haben und an sie denken“, schrieb Enkelin Alexandra B. | |
## Sie können und wollen ihre Heimat nicht verlassen | |
Ragna Vogel koordiniert das Hilfsnetzwerk für NS-Überlebende in der | |
Ukraine. Sie ist die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin, doch ihre Stelle | |
wird nicht aus Spendengeldern finanziert, sondern von der Stiftung | |
Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) bezahlt. Die 37-jährige | |
Osteuropa-Historikerin berichtet, dass einige Gedenkstätten schon lange | |
Kontakte mit Überlebenden und deren Dachorganisationen in der Ukraine | |
gepflegt hätten, darunter die Union der Häftlinge in der Ukraine für | |
ehemalige Zwangsarbeiter, die über viele Filialen im ganzen Land verfügten. | |
Daran ließe sich jetzt anknüpfen. | |
Sachspenden lässt das Hilfsnetzwerk nicht in die Ukraine bringen. Das | |
gesammelte Geld gehe ausschließlich an die Partner in der Ukraine. Die | |
wüssten am besten, was damit gemacht werden müsste – ob man dafür | |
Medikamente kauft, Lebensmittel oder kleine Geldbeträge weitergebe. Vogel | |
versichert, dass einhundert Prozent der Spenden auch bei den Bedürftigen | |
ankämen. Geld vom Staat gebe es bisher nicht. Allerdings habe die | |
Staatsministerin für Kultur und Medien Rettungsaktionen für von den | |
Kriegsauswirkungen bedrohte Archive und Museen finanziert. | |
Die meisten der alten Menschen könnten und wollten ihre Heimat nicht | |
verlassen, sagt Ragna Vogel. Bisher hätten vor allem Mitarbeiter von | |
Gedenkstätten und ihre Bekannten gespendet. Immerhin seien seit dem Start | |
der Initiative im März etwa 117.000 Euro zusammengekommen. Damit habe man | |
768 Menschen unterstützen können, davon 504 Überlebende. Oft gehe es dabei | |
um einmalige Hilfen. | |
Reichen tut das nicht. „Wir betreuen jetzt etwa 30 Menschen“, sagt Ljuba | |
Danylenko. Nötig sei Hilfe für bis zu 2.000 Menschen – und dies betreffe | |
nur die Gruppe der früheren Zwangsarbeiter. Häufig ginge es nicht nur um | |
sie allein, sondern auch um deren Angehörige. In einigen Einzelfällen sei | |
es auch gelungen, die NS-Überlebenden nach Deutschland zu bringen. Die | |
große Mehrheit lebt weiter in der Ukraine. | |
27 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://hilfsnetzwerk-nsverfolgte.de | |
[2] /Schule-nach-Nazi-Raketen-Erfinder-benannt/!5187286 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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