# taz.de -- Historiker über Putins Ukraine-Krieg: „Mit Hitler hat das nichts… | |
> Immer wieder werden Analogien zwischen Putin und den Nazis gezogen. | |
> Historiker Ulrich Herbert sieht das als Versuch einer Entlastung | |
> deutscher Schuld. | |
Bild: Zerstörter Kindergarten bei Kiew nach russischem Raketeneinschlag, Juni … | |
taz: Herr Herbert, führt der russische Präsident Wladimir Putin in der | |
Ukraine einen Vernichtungskrieg? | |
Ulrich Herbert: Nein. Mit diesem Begriff wird der Krieg von Nazideutschland | |
in der Sowjetunion bezeichnet. Das Ziel war es, alle jüdischen Teile der | |
Bevölkerung und größere Teile der slawischen Bevölkerung zu ermorden und | |
das Land zu zerstören. Das ist in unfassbar hohem Maße gelungen, Millionen | |
Menschen sind getötet worden. Das meint der Begriff Vernichtungskrieg. Der | |
Krieg in der Ukraine hat nach Schätzungen bislang etwa 20.000 Ukrainer und | |
mehr als 30.000 Russen das Leben gekostet. Ein schrecklicher Krieg, der | |
enormes Leid über das angegriffene Land und seine Bewohner bringt. Was die | |
Größenordnungen angeht, kann man vielleicht an den zweiten Irakkrieg | |
denken, der 2003 begann und über die Jahre etwa 600.000 Tote kostete. | |
Niemand hat diesen Krieg seinerzeit einen Vernichtungskrieg genannt. Aber | |
sogleich wurde Saddam mit Hitler verglichen. | |
Ist das, wie Schriftsteller Hans Magnus Enzensbergers Vergleich von Saddam | |
mit Hitler 1991, ein Versuch mit NS-Metaphern einen appellativen Raum zu | |
schaffen? | |
Diese Vergleiche sollen mobilisieren und beschämen, vor allem in | |
Deutschland. Allerdings ist der NS-Vergleich eine kleine Münze geworden. | |
Wenn Gaddafi und Saddam, Trump und Putin mit Hitler assoziiert werden | |
können, fragt sich, welchen Erklärungswert das noch hat. | |
Gibt es für Putins Regime und Krieg plausiblere historische Analogien? | |
Ja, etwa Milosevic, Serbien und die postjugoslawischen Kriege. Da gibt es | |
auffällige Parallelen, auf die die Historikerin Marie-Janine Calic | |
hingewiesen hat. Hier wie dort wandelt sich ein zerfallender | |
postkommunistischer Staat nach innen zu einer nationalistischen Autokratie | |
und nach außen zum Aggressor. Milosevic hat einen Bürgerkrieg entfesselt, | |
der etwa 150.000 Opfer gefordert hat. Er hat die großserbische Doktrin | |
verfolgt: wo Serben leben, ist Serbien, mit dem Ziel, große Teile der | |
selbstständig gewordenen Nachbarstaaten zu annektieren. Das ist übertragen | |
auch eine Rechtfertigung für den Angriffskrieg auf die Ukraine. Der extreme | |
Nationalismus des Putinschen Regimes und die Perspektive der | |
Wiedergewinnung der 1990 durch die Auflösung der UdSSR „verlorenen“ Gebiete | |
durch die Schaffung eines großrussischen Reiches sind die entscheidenden | |
Kennzeichen des Regimes. Das Regime in Russland ist nationalistisch, | |
revisionistisch und imperialistisch; es führt einen brutalen Angriffskrieg. | |
Die Faschismus-Vergleiche, die im Umlauf sind, führen nicht weit. | |
Gibt es da nicht doch Analogien? In Russland existiert ein Führerkult, es | |
gibt die Diffamierung des Feindes und ein Freund-Feind-Denken, eine | |
totalitäre Formierung der Gesellschaft und Aggression nach außen. Das sind | |
Kennzeichen von faschistischen Regimen. Kann man keine Linie von Mussolini | |
bis Putin ziehen? | |
Die Kennzeichen, die Sie genannt haben, finden wir in einem Großteil aller | |
Autokratien und Diktaturen weltweit. Faschistische Regime unterscheiden | |
sich von autoritären Diktaturen vor allem durch die Massenbewegung, die den | |
Führer trägt und von ihm getragen wird, die ihn nach vorne peitscht und von | |
ihm genutzt wird. Diese Dynamik ist entscheidend für faschistische Regime. | |
Solches gibt es in Russland nicht. Faschismus ist in Bezug auf Russland ein | |
rhetorischer Kampfbegriff, der das Böse und Gegnerschaft assoziieren soll. | |
Analytisch taugt er nicht. In dieser Logik könnten wir auch China als | |
faschistisch bezeichnen. | |
Aber existiert da nicht doch ein Graubereich zwischen Diktatur und | |
Faschismus? Hatte Pinochets Militärdiktatur in Chile faschistische Züge? | |
Die chilenische Militärdiktatur war ein grausames Regime, das zehntausende | |
Oppositionelle ermorden und verschwinden ließ. Wir haben uns angewöhnt, | |
nahezu alle Rechtsdiktaturen als „faschistisch“ zu bezeichnen und so in die | |
Nähe der Verbrechen des NS-Regimes zu stellen. Das war auch nach dem Putsch | |
Pinochets 1973 so, „Faschismus“ war der zentrale Begriff der Mobilisierung | |
gegen das chilenische Militärregime. Aber in Chile gab es weder einen | |
Führerkult noch eine faschistische Massenbewegung, keine völkische | |
Ideologie, nicht einmal kriegerischen Expansionismus. Es war eine | |
Militärdiktatur, die mithilfe der USA die linke Opposition in dem Land | |
unterdrückte und ausrottete, auch um so eine Linksentwicklung in | |
Lateinamerika zu verhindern. Zudem war Chile unter Pinochet das | |
Versuchslabor des extremen Neoliberalismus. Man sieht, die Vokabel | |
„Faschismus“ verdeckt hier mehr als sie erklärt. Sie dient vor allem dazu, | |
unsere Abscheu zu demonstrieren. Aber das nützt sich ab. | |
Russland begründet den Krieg mit dem „Kampf gegen die Faschisten“ in Kiew … | |
…und seine Aggression gegen die Ukraine sogar mit der Behauptung eines | |
„Genozids“ der Ukraine an russischstämmigen Bürgern. Das besitzt zwar | |
keinerlei faktische Grundlage, dient aber vor allem der Legitimation des | |
Angriffs auf die Ukraine gegenüber der eigenen Bevölkerung, indem eine | |
Verbindung zum Großen Vaterländischen Krieg von 1941/45 gezogen wird: | |
Damals wie heute gegen die Faschisten! Das ist offensichtlich absurd, und | |
zeigt wie schal diese Vergleiche geworden sind. | |
Der Krieg in der Ukraine wird von Historikern und Medien als Völkermord | |
bezeichnet. Weniger wegen der extrem hohen Opferzahlen, sondern weil hier | |
die Identität eines Volkes ausgelöscht werden soll. Putin sieht die | |
Ukrainer ja als „Kleinrussen“ und subalternen Teil seines Imperiums. Ist es | |
sinnvoll, in diesem Sinne von Völkermord zu sprechen? | |
Völkermord und auch Genozid bedeuten die physische Vernichtung einer | |
nationalen oder kulturellen Entität. Die stetige Ausweitung des Begriffs | |
hin zu kulturellem Völkermord ist hoch problematisch. Sie wird ja | |
beispielsweise auch von rechtsradikalen Intellektuellen benutzt, um die | |
Auswirkungen der Massenmigration nach Europa zu diffamieren. Putins Ziel in | |
der Ukraine ist ein anderes – die Auslöschung der nationalen Identität der | |
Ukraine, die in einem völkischen Sinn Russland zugerechnet wird. Das ist | |
ein brutales, ein verbrecherisches Konzept, aber es ist etwas völlig | |
anderes als die physische Vernichtung. | |
Sondern? | |
Ein Eroberungskrieg, ohne Rücksicht auf zivile oder militärische Verluste, | |
aber mit begrenzter Zielsetzung. Kennzeichnend ist hier, dass die russische | |
Führung offenbar davon überzeugt war, die Ukraine durch einen kurzen | |
„Sondereinsatz“ besiegen, die Ostteile annektieren, das Land aus der | |
Verbindung zu Europa und dem Westen lösen und an Russland binden zu können. | |
Ähnlich wie vor zwei Jahren in Weißrussland nach der gefälschten | |
Präsidentenwahl, als Lukaschenko mit russischer Unterstützung die | |
prowestlich orientierte Protestbewegung brutal niederschlug und sein Regime | |
ganz an die russische Macht anlehnte. In der Ukraine aber erwies sich | |
dieses Kalkül wegen des massiven militärischen Widerstands als falsch, und | |
nun setzt Putin auf die systematische Zerstörung der zu erobernden Städte | |
durch Artillerie, ganz wie im zweiten Tschetschenienkrieg nach 1999 mit | |
vermutlich bis zu 80.000 Toten. | |
Der Historiker Timothy Snyder hat der Frankfurter Allgemeinen Zeitung | |
gesagt, dass „die Kolonisierung der Ukraine Hitlers Hauptziel im Zweiten | |
Weltkrieg war“. Kann man das so sehen? | |
Snyder hat in dem Buch „Bloodlands“ einleuchtend gezeigt, dass die | |
stalinistische Aushungerungspolitik, der Holocaust und die | |
Partisanenverfolgung durch die Deutschen vor allem Weißrussland, die | |
Ukraine und die westlichen Gebiete Russlands betrafen. Der Ansatz, von | |
doppelt bestraften Regionen zu sprechen, die von Hitlers und Stalins | |
Gewaltpolitik heimgesucht wurden, ist plausibel. Aber Hitlers Krieg gegen | |
die Sowjetunion richtete sich gegen den Kommunismus und zielte auf die | |
rassistische Unterwerfung der Slawen. Unterscheidungen zwischen den | |
einzelnen Völkern der Sowjetunion spielten dabei keine Rolle, die Ukraine | |
als Staat oder Nation besaß für Hitler überhaupt keine Bedeutung. Dass | |
Snyder nun auch den in Deutschland seit einiger Zeit frisch erwachten | |
Antikolonialismus auf die Ukraine lenkt, um Unterstützung von den Deutschen | |
zu bekommen, ist noch weniger überzeugend. Deutschland war nach 1941 kein | |
Kolonialherr in der Ukraine, sondern eine brutale Besatzungsmacht für drei | |
Jahre. Es gab auch keine spezifische NS-Unterdrückung in der Ukraine, die | |
sich von der im Baltikum, in Weißrussland oder in Westrussland | |
unterschieden hätte. Auch Snyders These, es sei „Hitlers zentrales | |
Kriegsziel“ gewesen, die ukrainische Landwirtschaft zu kontrollieren, ist | |
nicht haltbar. Das zentrale Kriegsziel der Nazis war die Vernichtung der | |
„jüdisch-bolschewistischen Sowjetunion“. Die Gewinnung der | |
„Nahrungsfreiheit“ durch den Zugriff auf die sowjetische Landwirtschaft war | |
ein Ziel neben vielen anderen. Der anerkannte Historiker Snyder hat sich | |
mehr und mehr in einen Aktivisten verwandelt, der sich massiv für die | |
nationalen Interessen vor allem von Polen und der Ukraine einsetzt und dort | |
wie ein Heilsbringer gesehen wird. Diese Rolle hat Vorteile, aber | |
intellektuell eben auch Schattenseiten. | |
Hat die Verknüpfung von Putin mit NS-Vergleichen in Deutschland eine | |
Entlastungsfunktion? Oder spielt das keine Rolle mehr? | |
Es gab kürzlich einen Prozess in der Ukraine gegen einen jungen russischen | |
Kriegsgefangenen, der einen Zivilisten getötet hatte. Er wurde zu | |
lebenslanger Haft verurteilt – ein Urteil, das die russische Seite jetzt | |
mit Todesurteilen gegen aus westlichen Ländern stammende Soldaten der | |
Ukraine beantwortet. In Spiegel online wurde der russische Soldat aber | |
sogleich mit Adolf Eichmann verglichen, dem hauptverantwortlichen | |
Organisator des Holocaust. Die Überschrift lautete nach Hannah Arendts | |
bekanntem Diktum, „Die Banalität des bösen Russen“. Das kann nur einer | |
deutschen Journalistin einfallen. Ein Russe erschießt einen ukrainischen | |
Zivilisten, und in Deutschland assoziiert jemand sofort: Holocaust! Das hat | |
offenbar etwas Entlastendes: Jetzt sind endlich andere so schrecklich wie | |
einst die deutschen Nazis. | |
Ist dies das einzige Motiv, warum so problematische Begriffe so oft | |
verwendet werden? | |
Faschismus, Vernichtungskrieg und Völkermord sind jetzt Reizworte, um die | |
Deutschen bei der Ehre oder der historischen Moral zu packen. Die Botschaft | |
ist: Ihr habt schon mal einen Vernichtungskrieg geführt, jetzt passiert das | |
wieder, ihr dürft euch nicht zurückhalten. Und zugleich richtet es sich an | |
die deutschen Linksliberalen: Ihr bildet euch doch so viel auf eure | |
„Vergangenheitsbewältigung“ ein. Jetzt könnte ihr in der Ukraine mal | |
zeigen, wie ernst ihr es damit meint. Snyder, manche deutsche Politiker und | |
Journalisten hoffen, auf diese Weise die deutsche Öffentlichkeit, die in | |
dieser Frage gespalten ist, zu beeindrucken, um eine stärkere militärische | |
Unterstützung der Ukraine durch Deutschland auszulösen. Die soll den Sieg | |
bringen, während das Zögern Deutschlands den Untergang der Ukraine, wenn | |
nicht Europas bedeuten würde. Das scheint mir eine vollständige | |
Überschätzung der politischen und militärischen Potenziale Deutschlands zu | |
sein. | |
Soll die Bundesregierung ihre Zurückhaltung aufgeben und der Ukraine mehr | |
von den verlangten Waffen lieferte? | |
Das hängt von politischen und militärischen Faktoren ab, die ich weder | |
übersehen noch wirklich beurteilen kann, zumal die Faktengrundlage höchst | |
dünn und widersprüchlich problematisch ist, wie immer in Kriegszeiten. Wenn | |
ich es recht verstehe, sind sich die Militärexperten in dieser Frage nicht | |
einig und eher skeptisch, was den Kriegsausgang betrifft. Die Beantwortung | |
der Frage hängt jedenfalls nicht ab von historischen Analogien oder | |
moralischen Postulaten. In der Ukraine findet ein Aggressionskrieg einer | |
imperialistischen Atommacht statt, und es ist ohne Zweifel richtig, sich | |
dem entgegenzustellen. Die Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß und | |
bis zu welchem Punkt die westliche und zumal die deutsche Politik die | |
Ukraine militärisch unterstützt, hängt davon ab, wie man die militärischen | |
Chancen und die politischen Risiken einschätzt. Mit „Faschismus“ und | |
„Hitler“ hat das nichts zu tun. | |
1 Jul 2022 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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