# taz.de -- Völkerrechtler über Russlands Krieg: „Das ist unsere Doppelmora… | |
> Warum unterstützen viele Länder des Globalen Südens die Sanktionen nicht? | |
> Völkerrechtler Kai Ambos meint, auch wegen Fehler des Westens. | |
Bild: Nicht durch internationales Recht gedeckt: Die Invasion des Irak im Jahr … | |
taz am wochenende: Herr Ambos, in Ihrem neuen Buch vertreten Sie die These: | |
Weil der Westen, angeführt von den USA, in Völkerrechtsfragen nicht | |
glaubwürdig ist, erhält er global wenig Unterstützung für seine | |
Ukrainepolitik. Woran machen Sie das fest? | |
Kai Ambos: Die UN-Generalversammlung hat zwar in dieser Woche eine neue | |
Resolution gegen Russland verabschiedet, aber es haben immer noch 40 | |
Staaten mit Nein gestimmt oder sich enthalten, darunter China, Indien und | |
Südafrika. 143 Länder haben zwar mit Ja gestimmt, aber wenn es konkret | |
wird, tragen davon nur etwa 40 unsere Ukrainepolitik aktiv mit – indem sie | |
sich an Sanktionen, Waffenlieferungen oder Maßnahmen wie der | |
internationalen Strafverfolgung beteiligen. Das ist die Nato plus ein paar | |
andere Länder. Wie kommt das angesichts einer so flagranten | |
Völkerrechtsverletzung, die permanent verschärft wird durch Landraub und | |
jetzt durch massive Luftangriffe? Eine Ursache ist unsere Doppelmoral, die | |
uns unglaubwürdig erscheinen lässt, wenn wir eine regelbasierte | |
Völkerrechtsordnung proklamieren. | |
Warum? | |
Es ist richtig, was der Westen sagt: Die russische Invasion in die Ukraine | |
ist eine gravierende Völkerrechtsverletzung. Aber wenn man den Bruch von | |
Normen beklagt, sogar skandalisiert, sollte man sich selbst an diese Normen | |
halten. [1][Der Westen tut das nicht immer]. | |
An welchen Völkerrechtsbruch denken Sie konkret? | |
Zum einen an Verstöße gegen das Gewaltverbot wie die Invasion im Irak, die | |
völkerrechtswidrig war, weil sie weder auf einer Resolution des | |
UN-Sicherheitsrats beruhte, noch auf das Selbstverteidigungsrecht gestützt | |
werden konnte. Dagegen hat sich Deutschland unter Ex-Kanzler Schröder | |
bekanntlich ausgesprochen, insofern war das nicht der gesamte Westen. | |
Daneben denke ich insbesondere an die extraterritorialen Hinrichtungen im | |
Rahmen des sogenannten Kriegs gegen den Terror, zuletzt die Hinrichtung des | |
Al-Qaida-Führers al-Zawahiri in Kabul durch eine US-Drohne. Gerade diese | |
Hinrichtung, die Parallelen hat zur [2][Exekution eines georgischen | |
Dissidenten im Berliner Tiergarten], die zu einer Verurteilung wegen Mordes | |
durch das Kammergericht Berlin geführt hat, zeigt doch die Doppelmoral. | |
Sowohl Russland als auch die USA nehmen sich das Recht heraus, Menschen zu | |
töten, die sie als Terroristen deklarieren. | |
Diese Völkerrechtsbrüche haben jeweils unterschiedliche Qualitäten. Der | |
Sturz eines Diktators ist ein anderes Motiv als die Annexion ganzer | |
Landesteile. Ein Top-Terrorist der al-Qaida ist etwas anderes als ein | |
ausgedienter Milizenkommandeur wie das Mordopfer im Tiergarten. | |
Sie haben recht, es gibt graduelle Unterschiede und das räume ich auch im | |
Buch ein. Prinzipiell macht es aber keinen Unterschied, sondern es kommt | |
nur auf den Völkerrechtsbruch an sich an. Aus dieser Sicht sind unsere | |
Völkerrechtsbrüche ebenso wenig akzeptabel wie die russischen. | |
Sie haben selbst angesprochen, dass man zwischen den USA und dem Rest des | |
Westens differenzieren muss. Kann in dem Sinne nicht Deutschland für sich | |
in Anspruch nehmen, durchaus glaubwürdig für das Völkerrecht einzutreten? | |
Vor dem 24. Februar 2022 gab es noch Situationen, in denen es zu | |
Diskussionen innerhalb des Bündnisses kam. Neben dem Irakkrieg gab es den | |
Fall Libyen, in dem Guido Westerwelle als Außenminister einen | |
Militäreinsatz abgelehnt hat. Da wurden diese Streitigkeiten, wie man so | |
schön sagt, unter Freunden offen ausgetragen. Jetzt aber sehen wir – und | |
das ist besonders erstaunlich bei einer grünen Außenministerin – totales | |
Schweigen bei flagranten Völkerrechtsverletzungen. Im Gegenteil, in einer | |
Rede vor einer US-amerikanischen Universität lobte Frau Baerbock die USA | |
gerade erst als Vorbild in der Einhaltung des Völkerrechts. Und zur Tötung | |
von Herrn al-Zawahiri haben Sie keinen einzigen Politiker dieser | |
Bundesregierung gehört. Es muss doch möglich sein, dass man zumindest | |
diplomatisch Bedenken äußert! | |
Schweigen bedeutet nicht unbedingt Zustimmung. | |
Dann nehmen wir die gerade genehmigten Rüstungsexporte an die saudische | |
Koalition im Jemenkrieg. Das ist absolut heuchlerisch: Wir liefern diesen | |
Staaten Waffen für einen jahrelangen Krieg, in dem flächendeckend | |
Kriegsverbrechen begangen werden. | |
Was macht Sie sicher, dass der westliche Ukrainekurs gerade wegen solcher | |
Punkte keine uneingeschränkte Unterstützung findet? Denkbar sind auch | |
andere Motive. | |
Natürlich, ein anderes ist die koloniale Vergangenheit. Die Russen spielen | |
extrem elegant mit der Karte, dass die Sowjetunion den antikolonialen | |
Befreiungskampf dieser Länder unterstützt hat, während wir zum Teil als | |
Kolonialmächte die Unabhängigkeitsbestrebungen gebremst haben. | |
Kolonialismus und Völkerrechtsbrüche gab es auch in Russland. | |
Russland ist natürlich eine imperiale Macht wie die USA und war es | |
historisch auch immer. Insofern ist die Betrachtung eines Landes wie | |
Südafrika, das sagt, die Russen haben uns im Kampf gegen die Apartheid | |
unterstützt und deshalb können wir nicht gegen sie stimmen, auch eine | |
nostalgische Verklärung. Umso erstaunlicher ist es, dass sich solche | |
Staaten dem Westen noch nicht mal auf Ebene eines Votums im | |
UN-Sicherheitsrat oder der UN-Generalversammlung anschließen. | |
Könnte das nicht auch an schnöden Gründen wie wirtschaftlichen | |
Abhängigkeiten liegen? | |
Ja, es gibt natürlich noch weitere Faktoren. Es gibt autoritäre Regime, die | |
von Russland unterstützt werden. Nehmen Sie zum Beispiel Venezuela, nehmen | |
Sie gewisse Regime in Afrika wie Eritrea. Trotzdem müssen wir uns | |
überlegen, wieso es nicht gelingt, mehr als 40 Staaten hinter die | |
Sanktionspolitik zu bekommen. Mich stört in diesem Zusammenhang übrigens | |
immer sehr das Narrativ von der internationalen Gemeinschaft, die Russland | |
geschlossen isoliert habe. Das ist eine permanente Beleidigung des Globalen | |
Südens, der eben nicht geschlossen dabei ist. Wir sind weder die Welt noch | |
die internationale Gemeinschaft. | |
Was könnte der Westen tun, um seine Glaubwürdigkeit wieder aufzubauen? Der | |
Irakkrieg lässt sich ja nicht ungeschehen machen. | |
Das ist die Millionenfrage: Können Staaten wie Deutschland doch stärker auf | |
Konsistenz im Völkerrecht drängen? Ein Anfang könnte wie gesagt sein, dass | |
man sich zu den extralegalen Hinrichtungen positioniert. Es könnte für die | |
Bundesregierung zugegebenermaßen realpolitisch schwierig sein, sie zu | |
verurteilen; trotzdem erhöht es unsere Glaubwürdigkeit. Mittel- und | |
langfristig müssen wir als Europäer natürlich eine größere Autonomie | |
gegenüber den USA, auch auf militärischer Ebene, gewinnen. Auch insoweit | |
ist der Ukrainekrieg sicherlich ein Rückschritt. | |
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie für die Unterstützung der Ukraine? | |
Halten Sie die für richtig, auch wenn sich der Westen nicht konsistent | |
verhält? | |
Das ist eine schwierige Frage. Ich bin skeptisch, wenn immer wieder nach | |
mehr Waffen gerufen wird und diese bedingungslos geliefert werden. Erstens | |
wissen wir nicht, in welche Hände diese Waffen einmal geraten werden. | |
Zweitens müssen wir überlegen, ob es an irgendeinem Punkt nicht doch eine | |
moralische Pflicht gibt und es auch politisch sinnvoll sein kann, in | |
Verhandlungen zu treten. Dieser Krieg kann nicht ewig weitergehen. | |
Irgendwann werden die Kosten auch und gerade für die Ukraine in Form von | |
menschlichen Opfern und sonstigen Schäden vielleicht zu groß, und die | |
Eskalationsgefahr ist nicht mehr beherrschbar. Verhandeln heißt ja auch | |
nicht kapitulieren, sondern kann das Ergebnis einer rationalen Abwägung | |
sein. | |
Im Moment sieht es weder nach einem solchen Meinungsumschwung in der | |
Ukraine, noch nach einer solchen militärischen Überlegenheit Russlands aus. | |
Ich bin kein Militärexperte, aber letztendlich ist alles sehr hypothetisch | |
und wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Es ist mir natürlich | |
bewusst, dass eine nukleare Drohung Erpressungspotenzial hat, aber ich | |
denke, man muss eine Gesamtabwägung vornehmen und auch strategisch denken. | |
Wäre das Völkerrecht nicht erst recht beschädigt, wenn Russland in einem | |
Verhandlungsfrieden beispielsweise seinen Zugriff auf die Krim behielte, | |
für seine Völkerrechtsbrüche also noch belohnt wird? | |
Das würde ich auch so sehen. Natürlich darf man einen so massiven Normbruch | |
nicht ex post facto in einem Friedensvertrag legalisieren und legitimieren. | |
Man müsste eventuelle territoriale Konzessionen – die man machen muss, weil | |
sie sich faktisch einfach nicht rückgängig machen lassen – so | |
verklausuliert formulieren, dass sich daraus keine Rechtswirkungen ergeben. | |
In solchen Situationen kommt dann die Kunst des diplomatischen Formulierens | |
zu seiner vollen Geltung. | |
Halten Sie es für möglich, dass sich Wladimir Putin für seine Verbrechen in | |
der Ukraine irgendwann vor einem Gericht verantworten muss? | |
Das Gericht mit der größten Legitimität wäre der Internationale | |
Strafgerichtshof in Den Haag. Wenn dieser eines Tages einen Haftbefehl | |
gegen Herrn Putin ausstellen sollte, stellt sich die Frage, wer ihn | |
effektiv festnehmen kann. Solange er in Russland regiert, wird das kaum | |
möglich sein. Man müsste ihn ja in einer Art Kommandooperation – wie damals | |
Adolf Eichmann durch den Mossad in Argentinien – aus dem Kreml entführen. | |
Das ist nicht realistisch und auch völkerrechtlich nicht unproblematisch. | |
Also bleibt uns nur die Hoffnung auf einen Regime Change. | |
16 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-dem-Abzug-aus-Afghanistan/!5789787 | |
[2] /Mord-an-Georgier-in-Berlin/!5709292 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Völkerrecht | |
Wladimir Putin | |
Irakkrieg | |
GNS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
António Guterres | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Botschafter der Ukraine in Deutschland: Melnyks milder Nachfolger | |
Der Außenpolitik-Experte Oleksij Makejew ist der neue Botschafter der | |
Ukraine in Berlin. Zuvor war er Sonderbeauftragter für Sanktionspolitik. | |
Atomwaffenkonferenz in New York: Wachsende Bedrohung | |
Bei einer Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag warnen Politiker und | |
Diplomaten vor nuklearer Eskalation. Abrüstung scheint in weiter Ferne. | |
Historiker über Putins Ukraine-Krieg: „Mit Hitler hat das nichts zu tun“ | |
Immer wieder werden Analogien zwischen Putin und den Nazis gezogen. | |
Historiker Ulrich Herbert sieht das als Versuch einer Entlastung deutscher | |
Schuld. | |
Geostrategie im Ukrainekrieg: Europa in der Zwickmühle | |
Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen. Zeit, über geostrategische | |
Ziele der westlichen Alliierten zu sprechen – wie auch über | |
Waffenlieferungen. |