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# taz.de -- Geostrategie im Ukrainekrieg: Europa in der Zwickmühle
> Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen. Zeit, über
> geostrategische Ziele der westlichen Alliierten zu sprechen – wie auch
> über Waffenlieferungen.
Bild: Seit' an Seit': Die EU-Repräsentant:innen Michel und Von der Leyen mit J…
Die Beurteilung des sich in die Länge ziehenden Ukrainekriegs scheint
einfach: Der Aggressor Russland greift völkerrechtswidrig nach einem
unabhängigen Staat, um ihn militärisch in die Knie und zur Vasallenschaft
zu zwingen. Dem in die EU und in die Nato strebenden Opfer Ukraine gehört
unsere volle Solidarität. Und unsere Unterstützung nicht nur durch Worte,
sondern auch durch Waffen ist moralische Pflicht. United we stand with
Ukraine!
Dass die Sache nicht so einfach ist und dass es selbst geübten Beobachtern
schwerfällt, sich eindeutig zu positionieren, liegt an den Dilemmata, die
sich aus dem Krieg für uns Nato-Europäer*innen ergeben.
Die Debatte über die [1][Lieferung schwerer Waffen], die sich als
Zwickmühle praktischer Politik zeigt, hat dies verdeutlicht. Die
Befürworter einer vorsichtigen bis zögerlichen Lieferstrategie
argumentieren damit, dass eine Eskalation des Krieges auf jeden Fall zu
vermeiden ist, weil er leicht zu einem großen europäischen, wenn nicht gar
zum nächsten (nuklearen) Weltkrieg ausufern könnte. Das Liefern immer
schwererer Waffen sei also ein Spiel mit dem atomaren Feuer.
Die Befürworter einer schnellen militärischen Maximalunterstützung hingegen
argumentieren aus der historischen Lehre der falschen Appeasement-Politik
gegenüber Hitlerdeutschland heraus mit der Notwendigkeit, den
imperialistischen Bestrebungen Russlands einen Riegel vorzuschieben: Ein
auf Ausdehnung ausgerichteter diktatorischer Angreifer verstehe nur die
realpolitische Sprache der geballten Faust. Das Vertrackte in diesem
Dilemma ist, dass beide Positionen triftige Gründe nennen und jeweils
eigene unabschätzbare Gefahrensituationen erzeugen.
## Bewusste Flunkerei
Die Risiken beider Strategien würden allerdings deutlicher, wenn sie nicht
durch die bewusste Flunkerei, wir seien ja keine Kriegspartei und deswegen
relativ sicher, verharmlost würde. Waffenlieferungen an einen angegriffenen
Staat, der ein Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta
hat, sind zwar in der Tat völkerrechtskonform, aber einen Aggressor, der
das Völkerrecht bereits brutal gebrochen hat, mit dem Hinweis auf
ebendieses belehren zu wollen, dass wir rein rechtlich gar nicht
Kriegspartei seien, ist realitätsfremd. Wir sollten es offen aussprechen:
Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen.
Angesichts unserer möglichen direkten Betroffenheit lässt sich die Sorge
vor einem „Überschwappen“ des Krieges leicht verstehen. Ein übergeordnetes
Dilemma bleibt dabei jedoch im Schatten: Wir Europäer*innen haben gute
Gründe, es einerseits zu keinem scharfen Graben mit der Führungsmacht des
Westens, den USA, kommen zu lassen. Andererseits haben wir ebenfalls gute
Gründe, uns nicht vorschnell in eine Koalition der Willigen einzureihen.
Für die Geschlossenheit der westlichen Alliierten spricht: Jede, auch
innereuropäische, Spaltung wird von der Russischen Föderation als Schwäche
wahrgenommen und geschickt genutzt. Europa ist daher gut beraten, den
Schulterschluss mit allen Nato-Alliierten zu üben – gerade mit den USA.
## US-Produzenten verdienen sich eine goldene Nase
Zugleich aber sind die geostrategischen amerikanischen Interessen in diesem
Krieg nicht identisch mit den europäischen. Dass Russland zu einem
Paria-Staat wird, der in absehbarer Zeit keine fossilen Rohstoffe mehr an
den Westen liefern wird, trifft Europa wirtschaftlich und sozial mit einer
ganz anderen Wucht als die USA. Diese sind autonom und haben es mit ihren
Fracking-Methoden geschafft, vor Saudi-Arabien und Russland zum weltgrößten
Erdölproduzenten aufzusteigen. Amerikanische Erdgasproduzenten verdienen
sich mit dem Verkauf von Flüssiggas nun eine goldene Nase, zusammen mit der
US-Rüstungsindustrie. Zugleich ist die wirtschaftliche Verflechtung der USA
mit Russland bei Weitem nicht so eng wie die zwischen der EU und Russland.
Zudem ist das, offen vom amerikanischen Außenminister erklärte
geostrategische Ziel der USA, Russland so zu schwächen, dass es keinen
Krieg dieser Art mehr führen kann, zwar auch aus europäischer Sicht
nachvollziehbar, aber nicht zwingend im europäischen Interesse. Es erhöht
das Risiko, dass Russland den Krieg gesamteuropäisch ausweitet. Unser
Interesse, ihn schnellstmöglich zu beenden, ist aus existenziellen Gründen
ungleich größer.
Für die USA hingegen käme eine Dauerbeschäftigung des großen Rivalen
Russlands mit der Ukraine, einer Art von Afghanistanfalle, aus der sie
jahrelang nicht herauskommen, nicht ungelegen: Man könnte sich stärker auf
den Hauptrivalen China konzentrieren. Dass dabei die Ukraine Hauptverlierer
ist und der Krieg dauerhaft in [2][Europa] bleiben könnte, wird wohl als
möglicher Kollateralschaden in Kauf genommen.
## Entzug durch schlichtes Ignorieren
Die Unvereinbarkeit zweier dringender Gebote – einerseits dem Aggressor
Russland gegenüber als loyaler Bündnispartner der USA aufzutreten,
andererseits aber amerikanische Interessen nicht bedingungslos zum Maßstab
eigenen Vorgehens zu machen – führt in eine weitere Zwickmühle. Ihr
entziehen wir uns allerdings gegenwärtig durch schlichtes Ignorieren.
Europäische Interessen werden weder breit diskutiert, noch kann von einem
eigenständigen europäischen Handeln auch nur ansatzweise die Rede sein, wie
der [3][G7-Gipfel] aktuell eindrücklich bestätigt.
Erstes Ziel müsste aus europäischer Sicht ein schnellstmögliches Ende der
Kampfhandlungen sein. Damit wäre der Konflikt zwar nur eingefroren, aber
von dort aus ließe sich dann – möglicherweise erst in ferner
Post-Putin-Zukunft – ein Versuch einer gesamteuropäischen
Sicherheitskonferenz starten.
Die Chancen darauf sind allerdings eher gering, zu groß ist die nationale
Zersplitterung und die Machtlosigkeit der EU, auch eine gemeinsame, gut
ausgerüstete europäische Armee ist unabsehbar. Um unsere europäischen
Interessen ernster nehmen zu können, müssen wir aber mittel- und
längerfristig geostrategisch und sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen
stehen.
27 Jun 2022
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## AUTOREN
Helmut Däuble
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Janine Wissler
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