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# taz.de -- G7-Gipfel in Elmau: Im Westen was Neues
> Afghanistan, Afrikas Sahelzone und die Ukraine haben die Selbstsicherheit
> des Westens untergraben – und ihn als Akteur neu zusammengeschweißt.
Bild: Auch diese Motorradstaffel der Polizei ist in Elmau dabei
Als sich die Führer der sieben größten westlichen Industrienationen Mitte
Juni 2021 im englischen Seebad Carbis Bay trafen, herrschte eitel
Sonnenschein. Es war der erste G7-Gipfel seit Corona, dank der neu
entwickelten Impfstoffe sah man sich bereits am Ende der Pandemie. Es war
der erste G7-Gipfel seit fünf Jahren ohne Donald Trump, der Westen trat
endlich mal wieder vereint und gut gelaunt auf. [1][„The West Is Back“],
proklamierten Zeitungskommentare.
First Lady Jill Biden spielte vor den Kameras auf dem weißen Sandstrand mit
Boris Johnsons neuestem Baby Wilfred, die New York Times jubelte über die
[2][„Rückkehr zur Diplomatie von Angesicht zu Angesicht“], Emmanuel Macron
lobte die „Rückkehr zu traditionelleren Arbeitsweisen“, und sogar Angela
Merkel rang sich beim Gruppenfoto ein halbes Lächeln ab. Bei der
Abschlusspressekonferenz versprach Gastgeber Boris Johnson Impfstoff für
alle und eine neue Welt nach Covid-19: „Wir alle müssen die Welt besser
wieder aufbauen in einer Weise, die für alle unsere Menschen und die
Menschen der ganzen Welt funktioniert.“
Zwei Monate später fiel Afghanistan an die Taliban, und das neue westliche
Selbstbewusstsein war wieder dahin.
Wenn sich die Führer der sieben größten westlichen Industrienationen in
dieser letzten Juniwoche 2022 im deutschen [3][Bergressort Elmau] treffen,
stehen die Zeichen eher auf Sturm – nicht zwischen den Teilnehmern, sondern
in der Welt. Statt weißer Strände vor blauem Meer gibt es steile Berge vor
Gewitterwolken. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit seinen
globalen Folgen überlagert alles.
Der Fokus hat sich von Aufbau auf Abwehr verlagert. In seiner
Regierungserklärung zum G7-Gipfel vor dem Bundestag am Mittwoch – und zum
EU-Gipfel davor und dem Nato-Gipfel danach – sprach Gastgeber Olaf Scholz
zunächst von den Ruinen von Irpin in der Ukraine und äußerte schließlich
die Erwartung, „dass die Demokratien der Welt zusammenstehen im Kampf gegen
Putins Imperialismus, aber eben genauso im Kampf gegen Hunger und Armut,
gegen Gesundheitskrisen und den Klimawandel“. Lauter Gegner. Aber wofür ist
man eigentlich?
## Banale deutsche Worte
Der Westen rückt zusammen – das war 2021 die Botschaft von G7, und das wird
auch die Botschaft in diesem Jahr sein. Aber eine positive Botschaft, wie
sie Boris Johnson beim letzten Gipfel zumindest zu formulieren versuchte,
hat Olaf Scholz 2022 bisher nicht.
Denn die Vorzeichen haben sich fundamental verändert. Was das Debakel von
Afghanistan für die USA und Großbritannien war, ist der russische
Ukrainekrieg für Deutschland: der Zusammenbruch eines zentralen Elements
des außenpolitischen Selbstverständnisses. Für die USA und Großbritannien
war das die Gewissheit, dass militärisches Engagement die Welt verbessern
kann.
Für Deutschland ist es die Überzeugung, dass Zusammenarbeit mit Russland
Frieden und Sicherheit in Europa schafft. Ein drittes, ähnlich gelagertes
Debakel hat Frankreich dieses Jahr mit dem Scheitern seines
Antiterrorkrieges in Afrikas Sahelzone und dem faktischen Rauswurf aus Mali
erlebt: Mit Afrikas Abkehr von Frankreich zerfällt die wichtigste Säule des
französischen Großmachtanspruchs.
Unsicherheit statt Selbstsicherheit also – aber vordergründig merkt man das
nicht. Betont wird Kontinuität. Alle G7-Gipfelteilnehmer 2022 waren 2021
schon dabei – außer dem Gastgeber, Olaf Scholz. Die fünf „großen Ziele�…
[4][deutschen G7-Präsidentschaft 2022] sind von grandioser Banalität:
„Starke Allianzen für einen nachhaltigen Planeten“, „Weichenstellungen f…
wirtschaftliche Stabilität und Transformation“, „starke Vorsorge für ein
gesundes Leben“, „nachhaltige Investitionen in eine bessere Zukunft“,
„gemeinsamer Einsatz für ein starkes Miteinander“, alles unter der
zeitlosen Losung „Fortschritt für eine gerechte Welt“.
## Weltregierung? Das ist ein Missverständnis
Ist denn sonst nichts los? „Natürlich befasst sich der G7-Gipfel auch mit
den globalen Folgen des Krieges in der Ukraine“, ergänzt die Website der
deutschen G7-Präsidentschaft lakonisch. Ein Gipfel der Worthülsen – mit
dieser Aussicht geben sich die meisten Kritiker nicht zufrieden. Sie
fordern konkretes Handeln, und zwar vehement. „Hätten die G7 die für 2022
zugesagten Impfstoffspenden bereits 2021 geliefert, könnten fast 600.000
Menschen noch am Leben sein, die an Covid-19 gestorben sind“, schimpft
Oxfam in einer Mitteilung an diesem Freitag und rechnet vor, dass kein
G7-Staat seine Impfstoffzusagen vom Gipfel 2021 auch nur annähernd erfüllt
habe – Spitzenreiter sei Japan mit allerdings nur 64 Prozent, Schlusslicht
Kanada mit 30.
Die Entwicklungsorganisation „One“ weist darauf hin, dass die globale
Lebenserwartung derzeit sinkt – zum ersten Mal seit den 1950er Jahren – und
ruft die G7-Staaten dazu auf, „ärmere Länder finanziell zu unterstützen“.
Das International Rescue Committee, ein Hilfswerk aus den USA, mahnt an:
„Die G7-Staaten müssen sicherstellen, dass das Jahr 2022 eine ‚Zeitenwende…
in den Bemühungen um den Schutz von Zivilist*innen in Konflikten und
die Unterstützung beim Zugang zu der von ihnen benötigten Hilfe in
Konfliktgebieten auf der ganzen Welt markiert.“ Deutschland solle sich als
G7-Gastgeber und Verfechter der multilateralen, regelbasierten Ordnung
dafür einsetzen, die Verpflichtung zum humanitären Völkerrecht in den
Mittelpunkt des G7-Gipfels zu stellen.der G7 ist ein Missverständnis
Diese Erklärungen internationaler Nichtregierungsorganisationen zum
G7-Gipfel stammen aus dem Zeitraum von nur einer Stunde am Freitagmorgen.
All diesen und unzähligen weiteren Forderungskatalogen ist gemein, dass sie
auf einem Missverständnis fußen: die G7 als potenzielle Weltregierung, die
sich nur etwas mehr anstrengen müsse, und alle Probleme der Erde wären
gelöst. Sollte noch irgendjemand an diesen Mythos geglaubt haben: Die
großen Sicherheitskrisen – Afghanistan, Sahel, Ukraine – haben ihn
endgültig zerschlagen.
Dass der „globale Westen“ die Probleme der Welt nicht alleine zu lösen hat,
ist eigentlich keine neue Erkenntnis. Spätestens seit Ende des
Ost-West-Konflikts 1990 gilt das als überholt. 1998 wurde die G7-Runde um
Russland auf G8 erweitert. Damit aus dem „globalen Westen“ dadurch kein
Club der Weißen gegen den „globalen Süden“ wird, entstand 1999 die
G20-Runde, die China, Indien und andere aufstrebende Schwellenländer
einschließt.
Im Zuge der globalen Finanzkrise von 2008/09 verdrängte die G20-Runde die
G7-Runde als Forum zum globalen Austausch. Man darf nicht vergessen, dass
der eigentliche Sinn solcher Gipfeltreffen seit Entstehen der G7 im Jahr
1975 darin besteht, Krisen im globalen Finanzsystem zu entschärfen, indem
auf allerhöchster Ebene politische Rückendeckung für finanzpolitische
Entscheidungen koordiniert wird. Die Grundannahme ist, dass alle dasselbe
wollen und man nur den Weg dahin absprechen muss. Dass dafür ab 2009 G20
wichtiger wurde, zeugte von der Machtverschiebung in der Weltwirtschaft
Richtung China.
## „Der Westen“ ist wieder da
Doch diese neue Ära multilateraler Kooperation im 21. Jahrhundert hat sich
dank der nationalistischen Einigelung Chinas und Russlands unter Xi Jinping
und Wladimir Putin in ihr Gegenteil verkehrt: eine Ära multipolarer
Konfrontation. Es wollen nicht mehr alle dasselbe. Rivalisierende
Machtzentren streiten miteinander um Herrschaft und Einfluss auf dem
Planeten. Mit Russlands erstem Angriff auf die Ukraine 2014 wurde aus G8
wieder G7. Mit Chinas Plattmachen der Demokratiebewegung Hongkongs 2019 und
mit der Abschottungspolitik infolge der Covid-19-Pandemie ab 2020 verliert
auch G20 seinen Sinn. Weder China noch Russland wollen noch in der westlich
geprägten Weltordnung mitspielen, sie basteln an einer eigenen. Auch in den
USA und in Europa spricht man jetzt von Deglobalisierung, von ökonomischer
Entkopplung und von „Souveränität“.
So taucht der „Westen“ plötzlich wieder als Player auf, die G7 rückt wied…
in den Vordergrund. Und so marginal, wie manche denken, ist der Westen gar
nicht. Der Anteil der G7-Staaten am globalen Bruttoinlandsprodukt ist
zwischen 1980 und 2020 lediglich von 51 auf 40 Prozent gesunken, die
Dominanz im internationalen Wirtschaftssystem ist weitgehend intakt, kein
seriöser Akteur der Weltwirtschaft kann ohne Zugang zu den Institutionen
des Westens bestehen.
Doch 90 Prozent der Weltbevölkerung leben außerhalb der G7-Staaten, und von
Lateinamerika über Afrika und die arabische Welt bis Asien ist eine
Abwendung von „westlichen“ Vorbildern und Werten hin zur eigenen Geschichte
und Kultur zu erkennen.
Der G7-Gipfel, ebenso wie der unmittelbar anschließende Nato-Gipfel, kann
da höchstens der westlichen Selbstvergewisserung dienen. In einer
multipolaren Welt der Dauerkonflikte und der zunehmenden gegenseitigen
Verständnislosigkeiten muss eben auch der Westen sein Selbstverständnis
pflegen und erneuern. Die Nato wird auf ihrem Gipfel in Madrid in der
kommenden Woche eine lange überfällige neue Rahmenstrategie beschließen,
die das geltende Dokument aus dem Jahr 2010 – als Russland noch zum Partner
erklärt wurde – ablöst. Der G7-Gipfel im bayerischen Elmau wäre schon ein
Erfolg, wenn er den bestehenden Worthülsen und leeren Versprechungen keine
weiteren hinzufügen würde, sondern einfach die eigene Haltung definiert.
26 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.pressreader.com/usa/the-week-us/20210625/281569473680772
[2] https://www.nytimes.com/live/2021/06/11/world/g7-summit
[3] /G7-Gipfel-in-Elmau/!5859499
[4] /G7-Gipfel-in-Elmau/!5862012
## AUTOREN
Dominic Johnson
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