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# taz.de -- Georgische Autorin über Sowjetunion: „Eine patriarchale, gewaltt…
> Russland werde unter Putin seine Geschichte nie aufarbeiten können, sagt
> die aus Georgien stammende Theaterregisseurin und Autorin Nino
> Haratischwili.
Bild: Die Siegerparade in Moskau am 09. Mai 2022
taz: Frau Haratischwili, seit einem Jahr sprechen die Waffen in der
Ukraine. Wie sieht Ihre Bilanz aus?
Es war ein schreckliches Jahr und zugleich ein Jahr der Wende. 2022 hat
viele Paradigmen verändert. Das Echo dieses Krieges ist fast überall in
Europa, aber auch im postsowjetischen Raum zu hören. Europa ist solidarisch
mit der Ukraine, weil die Europäer die Gefahr existenziell spüren, weil die
Ukraine so nah liegt.
In Ihrem monumentalen historischen Roman „Das achte Leben“ haben Sie sich
ausführlich mit der sowjetischen Vergangenheit, vor allem Georgiens, aber
auch Russlands beschäftigt. Sie schreiben über das Zarenreich, die
Revolution, über Terror im Stalinismus, über Repressionen, Perestroika und
den zunehmenden Nationalismus. Wo sehen Sie Lücken im Westen bei der
Aufarbeitung der Geschichte der Sowjetunion?
Leider wird die Sowjetunion nach wir vor nur mit Russland gleichgesetzt,
und eine Aufarbeitung findet weder im Westen noch im postsowjetischen Raum
statt. Die Menschen haben graue Bilder von Städten in den ehemaligen
Sowjetrepubliken vor Augen, wo alle Russisch sprechen und Wodka trinken.
Das ist zum Teil ein Klischee geblieben – noch heute. Doch nach der
Annexion der Krim und besonders nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 hat
sich nach und nach die Vorstellung von Osteuropa geändert.
Woran liegt das?
Das Problem ist immer noch, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts meist
aus westlicher Perspektive erzählt wird. Alles, was in der Literatur, im
Film passiert, ist aus westlicher Sicht. Es gibt weniger Autor:innen aus
dem Osten, die bekannt sind, etwa der russische Schriftsteller Alexander
Solschenizyn. Es bleibt unausgeglichen. Deswegen kann Osteuropa – besser
gesagt der postsowjetische Raum – nicht auf Augenhöhe mitreden. Ich finde
es gerade für Deutschland erstaunlich, wo es doch wegen der DDR mehr Wissen
darüber geben müsste. Und das ist nicht nur die Schuld des Westens, das ist
auch unsere Schuld. Weil wir als Stimmen aus dem Osten diese Aufgabe auf
globaler Ebene nicht geleistet haben. Man scheitert schon bei der Debatte
über den Zweiten Weltkrieg.
Was meinen Sie damit?
Mich stört [1][in Deutschland] die linke Debatte. Jedes Kind weiß
hierzulande, dass Hitler das Böse war. Stalin war genauso ein Diktator wie
Hitler und hat Millionen Menschen umgebracht. Das erklärt vieles, warum der
Westen Russland zumindest in den letzten 20 Jahren so falsch eingeschätzt
hat oder einschätzen wollte. Man muss über den Sowjetsozialismus genau so
kritisch reden wie über den Nationalsozialismus.
Gibt es einen Wandel in der Medienberichterstattung?
Ich merke, dass während des Krieges gegen die Ukraine mehr
Ukrainer:innen zu Wort gekommen sind. Vor allem zu Beginn des Krieges
gab es ein Bedürfnis der deutschen Medien, Menschen aus dem
postsowjetischen Raum zu Wort kommen zu lassen. Szczepan Twardoch, einer
der bekanntesten Autoren in der polnischen Literaturszene, hat in der
schweizerischen NZZ appelliert, mit dem sogenannten Westsplaining
aufzuhören. Abgeleitet vom feministischen Begriff „Mansplaining“ beschreibt
dieser Begriff das Problem, dass der Westen uns erklärt und belehrt, wie
wir unsere Geschichte zu sehen haben. Ich schließe mich seinem Appell an.
Er spricht mir aus dem Herzen. Hört auf die Stimmen aus den Ländern, die
bereits bittere Erfahrungen mit Russland gemacht haben.
Was bedeutet es, wenn ein Land, eine Regierung die Aufarbeitung
historischer Großverbrechen verweigert so wie das postsowjetische Russland?
Wenn ich von der Aufarbeitung im Osten spreche, kann ich Russland leider
nicht dazuzählen. Da gibt es für mich keine Zäsur. Es gab eine Zeit unter
Boris Jelzin, wo sich die Geschichte anders hätte entwickeln können, es
aber nicht getan hat. Aber sonst gab es seit 23 Jahren, seit dem
Machtantritt des russischen Präsidenten Wladimir Putin, nie eine andere
Form der Entwicklung. Man hat einfach konsequent die Gewaltgeschichte
ausgeblendet. Es gab keinen Bruch, wie es in der Ukraine oder in Georgien
nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums der Fall war. Russland ist in
der Form einer Diktatur geblieben.
Das Erbe der Sowjetunion …
Ich habe überhaupt keine Hoffnung, dass Russland unter Putins Führung seine
Geschichte aufarbeiten wird. Wenn ich die Ausschnitte von der Siegesparade
am 9. Mai sehe, die Ästhetik, die Rhetorik, das Narrativ, das könnte
genauso von Breschnew oder Berija, Chruschtschow oder sogar von Stalin
sein. Nichts hat sich geändert.
Zum Beispiel?
Die omnipräsente Angst, die die Sowjetunion auszeichnete. Das einzelne
Leben ist nichts wert, für den Kreml ist das eigene Volk nur eine Masse,
die in Kriegszeiten als Kanonenfutter verwendet wird. Dazu kommt noch die
Verfolgung und Vertreibung kritischer Stimmen. Jegliche Repression und die
Einschränkung der Pressefreiheit sind das Erbe der Sowjetunion. Es ist ein
mutiertes System, das sich noch ein bisschen mit dem Kapitalismus gepaart
hat.
Was bedeutet es für die russländische Gesellschaft, wenn vor allem Medien-
und Kulturschaffende Russland verlassen?
Es ist einige Jahre her, als ich das letzte Mal Russland besuchte. Früher
argumentierte ich, dass wir in einer globalen Welt leben. Das habe ich
überschätzt. Die russische, oder besser gesagt die russländische
Gesellschaft lebt heute in einem Informationsvakuum. Die Propaganda hat
alles nur noch schlimmer gemacht. Jede Form der kritischen Meinungsäußerung
durch Intellektuelle, ob Journalist:innen oder Kulturschaffende, wurde
abgewürgt. Das ist ein großer Verlust.
Wird in Deutschland nicht die 70-jährige Geschichte der UdSSR zu sehr nach
aktuellen ukrainischen Bedürfnissen umgedeutet, wenn Verbrechen der
fraglichen Periode (Stalinismus) „ethnisiert“ beziehungsweise
„nationalisiert“ wurden, wie es die Ukraine mit dem Holodomor macht, den
sie nur auf die ukrainischen Opfer herunterbricht und in einen genozidalen
statt in einen politisch-historischen Kontext rückt, oder die ukrainischen
Opfer des Holodomor zu Opfern eines russischen Genozids erhebt. Und tut der
deutsche Bundestag der Ukraine wirklich einen Gefallen, wenn er diesem
Narrativ folgt?
Das ist eine komplexe Frage. Zu den Hungersnöten kam es während der
Kollektivierung, und es ist wichtig zu verstehen, dass das in der ganzen
Sowjetunion geschah. Der Bundestag erkennt den Holodomor als Genozid an und
das ist meiner Meinung auch richtig. Aber es gab in Nordkasachstan und
diversen russischen Regionen ebenfalls mehrerer Millionen Opfer. Die Opfer
Stalins wurden historisch nicht auf der gleichen Ebene wahrgenommen wie
beispielsweise die Opfer des Holocausts. Ich sehe es kritisch, wenn
Verbrechen aus der Zeit des Stalinismus in Bezug auf ihre Nationalität
betrachtet werden. Aber besser dieses eine Verbrechen, als gar keines
anerkennen.
Im Januar 2023 wurde Ihnen für Ihre Verdienste um die deutsche Sprache die
Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz verliehen, wozu ich
Ihnen herzlich gratuliere. Sie beschreiben oft brutale Szenen in Ihren
Romanen und Theaterstücken wie zum Beispiel in dem Stück: „Herbst der
Untertanen“: „Sie haben ihm alle Zähne ausgeschlagen. Sie haben ihm die
Fingernägel gezogen. Sie haben ihn unter eiskaltes Wasser gestellt und dann
mit brühend heißem Wasser übergossen. Sie haben ihm den Kopf geschoren und
ihm mit glühenden Eisenzangen die Haut durchbohrt. Sie haben ihm die Rippen
gebrochen. Die Nase. Die Arme. Aber ihn haben sie nicht brechen können. Sie
haben ihm solche Schläge verpasst, dass er sich davon nicht mehr hat
erholen können.“ Diese Bilder kennen viele auch heute wieder – aus der
Ukraine, aus Russland und Belarus.
Ich will das Publikum nicht schockieren. Das gehört einfach zum Thema. Aber
es ist immer davon abhängig, was ich gerade schreibe und beschreibe. Mir
geht es da nicht um irgendeinen Effekt. [2][Manchmal braucht der Text zarte
Töne, manchmal muss man ins Volle gehen.] Mir ist es wichtig, dass die
Leser:innen sich mit den Figuren identifizieren können. Im Vergleich zur
Medienberichterstattung schafft Literatur ein empathisches Bild, das
größere Brücken schlägt. In den Romanen bleibt man bei den Figuren
tagelang, sogar wochenlang.
Brauchen wir mehr politische Romane oder soll mehr Politik auf die Bühne
gebracht werden?
Das Theater muss nicht mit den Medien konkurrieren und tagesaktuelle Stücke
über den Krieg anbieten. Im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise wurden
auch viele Projekte zum Thema entwickelt, in denen Flüchtlinge auf der
Bühne standen. Ich halte das für eine Anbiederei. Kunst braucht mehr Zeit
und Abstand. Ich bin die Letzte, die zensieren möchte, doch man sollte
keine Romane schreiben, nur weil sich bestimmte Themen gerade gut
verkaufen.
Sowohl ukrainische als auch viele russische Journalist:innen im Exil
greifen auf den Vergleich mit dem Nationalsozialismus zurück, wenn sie über
den Angriffskrieg in der Ukraine erzählen. Auch Sie stellen Ihre
Protagonistin „Kitty“ aus „Das achte Leben“ das Stalinopfer und den
Holocaustüberlebenden Fred Lieblich gegenüber.
Die Figur der „Kitty“ ist traumatisiert, kaputt, weil sie viel erleiden
musste. Diese Frau könnte sich nur jemandem öffnen, die oder der genauso
gebrochen ist. Nur darüber kann Kontakt und Empathie entstehen. Anders wäre
es nicht denkbar. Aber generell. Ja, ich würde es mir wünschen, dass
parallel zum Nationalsozialismus die Verbrechen, die auf der östlichen
Hemisphäre geschehen sind, als genauso schlimm und unmenschlich betrachtet
worden wären. Vor allem von russischer Seite wurde die Geschichte
manipuliert: Stalin wurde als Sieger präsentiert, nur weil er über den
Faschismus gesiegt hatte. Eine gleichberechtigte Anerkennung dieses Terrors
ist wichtig für eine zukünftige Annäherung zwischen Osten und Westen.
Ihr letzter Roman, „Das Mangelnde Licht“, der zur Zeit des Zerfalls der
Sowjetunion spielt, ist zwei Tagen nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine
erschienen.
Das Buch steht in engem Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine.
Das konnte ich natürlich nicht vorhersehen. Aber es ist traurig, dass das
Buch so eine Art Aktualität bekommt. In diesem Buch wollte ich meine
Kindheit und Jugend in einem [3][von Russland abhängigen Georgien
verarbeiten]. Es ist nicht autobiografisch, sondern Fiktion. Ich wollte
eine sehr patriarchale, brutale, hasserfüllte und gewalttätige Zeit aus
einer Frauenperspektive erzählen, weil das Land in den Abgrund gerissen
wurde und wir nur dank der Frauen diese Zeiten überlebt haben. Während der
Lesetour hat man mich ständig darum gebeten, Parallelen zu ziehen. „Warum
haben wir nicht alles kommen sehen?“, wurde ich gefragt.
Und was war die Antwort?
Unter anderem aus all diesen Gründen, über die wir vorhin sprachen.
Ein weiteres Thema für Sie bleibt die Migration und Flucht. In einem Ihrer
Theaterstücke schreiben Sie: „Ein Flüchtling bleibt ein Flüchtling in
diesem gottlosen Land – und zwar für immer.“ Würden Sie sagen, dass dieser
Satz auch für Deutschland aktuell ist?
Es ist ein provokanter Satz, der auch viele Migrant:innen betrifft. Wir
sehen auch, dass gegenüber den Syrern und Afghan:innen die Stimmung in
Deutschland anders ist als bei den Ukrainer:innen. Außerdem gibt es auch
unter Migrant:innen und Geflüchteten Rassismus, Ablenkung und
Widerstand. Das ist erschreckend und wir dürfen nicht wegschauen.
Werden wir in der Zukunft über dieses Thema von Ihnen, Frau Haratischwili,
lesen dürfen?
Das ist nicht ausgeschlossen.
Dieser Text ist Teil der [4][taz Panter Beilage zur taz-Sonderausgabe] „Ein
Jahr Krieg in der Ukraine“
25 Feb 2023
## LINKS
[1] /Das-Montags-Interview/!5153697
[2] /Roman-von-Nino-Haratischwili/!5536505
[3] /Krieg-und-Frieden/!vn5917951
[4] /Journalismus-in-Osteuropa/!vn5881840
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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