Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Holodomor-Debatte im Bundestag: Hungerkatastrophe als Völkermord
> Ampel und Union billigen Antrag, der den Holodomor in der Ukraine 1932
> als Völkermord bezeichnet. Viele ziehen Verbindung zu Putin.
Bild: Holodomor-Debatte im Bundestag: Der ukrainische Botschafter Makejew ist a…
Berlin taz | Der Bundestag ist für diesen Zeitpunkt, Mittwoch abend, recht
voll. Unionsfraktionschef Friedrich Merz ist noch da. Auf der Tribüne sitzt
der ukrainische Botschafter Oleksij Makejew. Eine dreiviertel Stunden lang
will man an [1][die Opfer der Hungerkatastrophe in der Ukraine 1930 bis
1933] erinnern. Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führten
dazu, dass in der Ukraine bis zu vier Millionen Menschen starben. Auch in
anderen Regionen der Sowjetunion starben Millionen an dem mit politischer
Repression erzeugten Hunger. Aber im Bundestag geht es um mehr als
Geschichte.
Der Grüne Robin Wagener, einer der Autoren des [2][fraktionsübergreifenden
Antrags], gibt den Ton vor: „Der Horror hatte seine Ursachen im Kreml“,
sagt er. Der Terror sollte „auch das ukrainische Nationalbewusstsein
treffen“. Das ist Konsens bei Union, SPD, FDP und Grünen. Und Wagener zieht
entschlossen eine Linie zwischen Geschichte und Gegenwart. „Die Parallelen
sind unübersehbar. Wieder versucht ein Diktator im Kreml die Ukraine zu
vernichten.“ Und endet mit dem Satz: „Stoppen Sie Putin.“
Auch CDU-Mann Michael Brand ist sich sicher, dass die „Ukraine von der
sowjetischen Führung in Moskau zum Opfer eines Völkermords gemacht“ wurde.
„Das ukrainische Volk sollte vernichtet werden, nicht weniger“, ruft er und
appelliert mit einem gewissen Pathos „Wir dürfen nicht noch einmal schuldig
werden“. Brand endet mit dem Ausruf „Slava ukraini“.
Für Gabriela Heinrich, Vizevorsitzender der SPD-Fraktion, haben die
Deutschen „eine besondere Verantwortung Menschenrechtsverbrechen
aufzuarbeiten“. Stalins Politik habe „auch auf das ukrainische
Nationalbewusstsein“ gezielt und die Hungersnot den Zweck gehabt, die
Ukraine gefügig zu machen. Heinrich betont, dass die Erinnerung an den
Holodomor in der Sowjetunion lange tabuisiert war. Traumata würden sich an
die nächste Generation vererben. [3][Daher sei die Erinnerung wichtig]. Der
fraktionsübergreifende Antrag habe das Ziel, so Heinrich, „uns mit der
Ukraine zusammenzuschweißen.“
## Viele Behauptungen, viele Wiederholungen
Auffällig ist, dass die RednerInnen von Ampel und Union das Problem,
inwieweit die Definition des Genozids auf den Holodomor anwendbar ist, eher
formelhaft als argumentativ behandeln. Es wird behauptet – und soll
offenbar durch Wiederholung plausibel werden. Marc Jongen (AfD) bezeichnete
den Holodomor als eines der größten Menschheitsverbrechen des 20.
Jahrhunderts.
Schuld sei „die sozialistische Ideologie mit ihrem Hass auf Freiheit und
Individualismus“, die daher überall bekämpft werden müsse. Jongen
kritisiert die Parallelisierung von Stalin und Putin, die die RednerInnen
von Ampel und Union betonen. Und schließt mit dem für die AfD originellen
Satz: „Wir lehnen die Instrumentalisierung der Geschichte ab.“
Gregor Gysi, Linkspartei, versucht einen anderen Ton anzuschlagen. Stalins
Zwangskollektivierung war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so Gysi.
Er bezweifelt aber, ob die Kennzeichnung als Völkermord das Geschehen
zutreffend beschreibe. Stalins Terror sei nicht ethnisch oder rassistisch
motiviert gewesen – er habe auf „alle gezielt, die die terroristische
Industrialisierung und Zwangskollektivierung ablehnten.“
## Gysi: Stalin war schlimm, aber kein Hitler
Zudem glaubt Gysi eine Gleichsetzung von Hitler und Stalin in dem Antrag zu
erkennen. „Stalin war schlimm, aber kein Hitler“, sagt er. Außerdem dürfe
man die Leistung der Sowjetunion bei der Bekämpfung des NS-Regimes nicht
vergessen.
Knut Abraham, CDU, kontert diesen Vorwurf direkt. In dem Antrag werde
Hitler keineswegs mit Stalin verglichen – womit der CDU-Mann und
Mitverfasser des Antrags faktisch recht hat. „Herr Gysi, Sie haben den
Vergleich Hitler-Stalin eingeführt“, so Abraham, und zwar nur „um die
Schuld der sowjetischen Führung zu relativieren“ Das wiederum stimmt so
auch nur ungefähr – denn das hat Gysi nicht gesagt. Es ist bedauerlich,
dass der einzige dialogische Augenblick der Debatte ein doppeltes
Missverstehen ist.
Laut Abraham verfolgt der Antrag mehrere Ziele. Man wolle an die Opfer
erinnern und das Wissen in Deutschland über das Schicksal Osteuropas und
den Holodomor erweitern. In der Geschichtskenntnis erkennt Abraham einen
praktischen Mehrwert. Der Mangel an Wissen über den Holodomor habe „zu der
Fehleinschätzung Putins“ geführt. „Wir sehen heute denselben Willen zum
Völkermord“, so der CDU-Mann.
## Völkermord 1932 – und heute?
Völkermord 1932, Völkermord 2022. Damit ist das Gleichheitszeichen zwischen
Putin und Stalin unübersehbar markiert. Auch der Liberale Ulrich Lechte
sagt, dass Stalin daran gescheitert sei, die nationale Identität der
Ukraine zu zerstören. „Damit wird auch Putin scheitern“. CSU-Mann Volker
Ullrich befindet, dass es „fahrlässig und auch böswillig“ sei, den
Holodomor als Folge der Zwangskollektivierung zu deuten.
„Das Ziel war die Auslöschung des ukrainischen Volkes“, so Ullrich. Warum
auch Millionen Kasachen und Russen der Zwangskollektivierung zum Opfer
fielen, bleibt in dieser zugespitzten Sicht ein Rätsel, das Ullrich zu
ignorieren entschlossen ist. Der Befund des Antrags, dass in Deutschland
beim Holomodor noch Wissenslücken klaffen, wirkt nach Ullrichs Rede noch
einleuchtender. Der Antrag wird mit Stimmen von Ampel und Union angenommen.
Es gibt keine Gegenstimmen. AfD und Linksfraktion enthalten sich.
1 Dec 2022
## LINKS
[1] /Holodomor-in-der-Sowjetunion/!5895422
[2] /Holodomor-Antrag-im-Bundestag/!5895413
[3] /Stalins-Holodomor-als-Voelkermord/!5898247
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Holodomor
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Bundestag
Gregor Gysi
Holodomor
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Osteuropa – ein Gedankenaustausch
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Holodomor
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Holodomor
Holodomor
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Streit um ukrainisches Holodomor-Museum: Erst Stalin, dann Putin
Ein Museum soll an den Genozid an den Ukrainern unter Stalin erinnern.
Vielen erscheint er als Blaupause für das heutige Vorgehen Russlands.
Ukrainischer Kulturminister tritt zurück: Drohnen statt Kinofilme
Kulturminister Tkatschenko wollte Kulturprojekte trotz des Krieges
finanzieren. Präsident Selenskij setzt andere Prioritäten. Der Minister
geht.
Holodomor, die Hungersnot in Kasachstan: Der Irrsinn des Hungers
Die Hungersnot von 1932/1933 in Kasachstan hinterließ ein Trauma. In der
Region sind sich die Menschen einig, ob man sie „Genozid“ nennen soll.
Stromausfälle in der Ukraine: Kochen nachts um drei
Bei häufigen Blackouts wegen der russischen Angriffe müssen die
Ukrainer*innen ihren Lebensrhythmus umstellen. Bei Eiseskälte.
Bundestag beschließt Holodomor-Resolution: Einordnung als Völkermord
Vor 90 Jahren ließ Stalin in der Ukraine vier Millionen Menschen
verhungern. Der Bundestag hat diesen Holodomor nun als Völkermord
anerkannt.
Roman „Das Zeitalter der roten Ameisen“: Dieser entsetzliche Hunger
Mit dem Holodomor wollte Stalin die Ukraine aushungern. Die Buchautorin
Tanya Pyankova hat beim Schreiben zeitweise selbst auf Nahrung verzichtet.
Holodomor-Antrag im Bundestag: Verständlich, aber anmaßend
Der Bundestag will die Hungerkatastrophe in der Ukraine unter Stalin als
Völkermord einstufen. Damit wird Geschichte für aktuelle Ziele
zugeschnitten.
Holodomor in der Sowjetunion: Die künstliche Hungersnot
Stalins Politik führte Anfang der 1930er Jahre zum Hungertod von Millionen
von Menschen – dem Holodomor. Die meisten Opfer waren Ukrainer.
Hungerkatastrophe Holodomor in Ukraine: Einstufung als Genozid rückt näher
Ampelkoalition und Union wollen die Hungersnot, der Millionen
Ukrainer:innen zum Opfer fielen, als Völkermord anerkennen. Das ist
umstritten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.