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# taz.de -- Stromausfälle in der Ukraine: Kochen nachts um drei
> Bei häufigen Blackouts wegen der russischen Angriffe müssen die
> Ukrainer*innen ihren Lebensrhythmus umstellen. Bei Eiseskälte.
Bild: Die Kälte kommt. Kyjiw am 30. November
Luzk taz | „Auch ohne Licht können wir sehen, dass ihr Terroristen seid“,
schreiben Ukrainer*innen in den sozialen Netzwerken. Doch daneben machen
sie auch noch viele andere Dinge: Sie gehen zu Nachbar*innen, die einen
Gasherd hat, um dort warme Mahlzeiten für sich zuzubereiten. Sie stehen an
Wasserpumpen Schlange. Früher sind Ukrainer*innen nie freiwillig zur
Polizei gegangen. Doch jetzt tun sie es, denn es sind auch in
Polizeistationen und Schulen Wärmestuben geöffnet worden.
Es herrscht eine leichte Panik und vieles wirkt wie in den ersten
Kriegstagen im Februar. Ältere Menschen, die sich an Geschichten aus dem
Zweiten Weltkrieg erinnern, versorgen sich eilig mit Brot. In den
Supermärkten kommt es zu Hamsterkäufe: Kerzen, Batterien, Akkus und Kabel.
Tankstellen werden zu Lebensmittelpunkten. Alle gehen dorthin, um
Kraftstoff und Generatoren zu kaufen, oder auch nur, um einen Kaffee zu
trinken. In Kyjiw wurde ein Mädchen zu einer Tankstelle gebracht, um dort
den von ihr benötigten Inhalator an das Stromnetz anzuschließen.
Die Regierung hat sich [1][auf Stromausfälle vorbereitet]. Innerhalb
weniger Stunden öffneten im Land mehrere Hundert sogenannter „Punkte der
Unbesiegbarkeit“. Schon dieser Name spricht Bände. In der Ukraine verstehen
die Menschen, warum sie kein Licht haben und wer es ausgeschaltet hat.
## Arbeiten, wenn es Strom gibt
Eine solche Wärmestube ist in der Regel ein Zelt des Rettungsdienstes. Hier
läuft ein Generator, man kann ein warmes Getränk bekommen, technische
Geräte aufladen, sich unterhalten und nachrichtlich auf den neuesten Stand
bringen. An einigen Punkten ist es möglich, über Starlink ins Internet zu
kommen. Auch hier sind die Warteschlangen lang.
Und doch geht es irgendwie weiter. Auch im Dunkeln und ohne Internet
floriert der Handel. Lampen werden an Generatoren angeschlossen, manchmal
direkt an Batterien in den Verkaufsräumen.
Kund*innen hasten zwischen den Kabeln hindurch. Kassierer*innen
akzeptieren normalerweise nur Bargeld, aber es ist auch möglich, mit Karte
zu bezahlen und Geld per elektronischer Zahlung zu überweisen. Das
Finanzsystem hält stand. Die meisten Banken haben die Gebühren für das
Abheben von Bargeld von den Konten anderer Geldinstitute abgeschafft. Die
Nationalbank hat sogar die Abhebungslimits an Geldautomaten erhöht, da
manchmal nur ein Fünftel von ihnen funktioniert.
Im Oktober, und damit nach den ersten russischen Angriffen auf den
Energiesektor, ist den Ukrainer*innen klar, dass sie sich an den neuen
Lebensrhythmus anpassen müssen. Das heißt: arbeiten und Dinge zu Hause
erledigen, wenn es Strom gibt. Manch eine/r kocht um drei Uhr nachts
Borschtsch, wischt Böden oder hängt Wäsche auf. Das Geräusch eines
Staubsaugers oder Mixers mitten in der Nacht ist heutzutage normal. Oft
bleiben dafür nur eine oder zwei Stunden, da Energietechniker auf
Notabschaltungen zurückgreifen müssen. Doch niemand jammert oder
protestiert. Die Menschen denken an die Soldaten, die in den Schützengräben
frieren und die Front halten.
## Die Situation als Krankheit
„Das ist ein Krieg des Imperiums des Bösen und der jahrhundertealten
Dunkelheit gegen die Energieinfrastruktur der Ukraine. All dies ist sehr
symbolisch. Zukünftigen Historikern, die sich mit der Periode des Blackouts
beschäftigen, wird das wie eine Art Metapher und Allegorie vorkommen. Wie
aus einem Märchen von Kornei Tschukowski (russischer bzw. sowjetischer
Dichter sowie Autor und Übersetzer zahlreicher Kinderbücher, 1882 -1969,
Anm. d. Red.) über ein dummes Krokodil, das die Sonne verschluckt hat“,
sagt der Ex-Abgeordnete und Blogger Witali Tschepinoga.
Aber ein bisschen Humor muss auch sein. Swetlana Boschko, eine freiwillige
Helferin in Kyjiw, verrät, wie man „Kaffee auf Kyjiwer Art“ kocht. Er wird
mangels Strom und Gasherd mit Trockenbrennstoff zubereitet. „Drehen Sie den
Kochtopf um und geben Sie eine Brennstofftablette hinein. Gießen Sie
Trinkwasser in ein Mokkakännchen und halten Sie es über den angezündeten
Brennstoff. Nach zwei bis drei Minuten sollte das Wasser kochen, dann fügen
Sie nach Belieben gemahlenen Kaffee hinzu. Der Geruch von Kaffee vermischt
sich mit dem ungewöhnlichen Geruch von verbranntem Brennstoff. Sie können
eine Prise Zimt, Kardamom oder Vanille beimengen.
„Kaffee auf Kyjiwer Art“ sollte stark sein, wie der Charakter der Menschen
in Kyjiw. Er hat den bitteren Nachgeschmack unserer Ängste und den
brennenden Geschmack unseres Willens zum Sieg. Am besten trinkt man ihn,
während man in den Himmel schaut, auch wenn der Himmel mit Rauch von den
jüngsten Raketenangriffen bedeckt ist. Vor dem ersten Schluck sollte man
die richtige Botschaft ans Universum senden.“
Der Freiwillige Anton Senenko, im richtigen Leben Wissenschaftler, ist
immer wieder überrascht, dass die Unterstützung für die Armee nach wie vor
hoch ist. Als er einen Platz mit Internet gefunden hatte und seine Posts
sowie Messenger-Dienste überprüfte, erfuhr er, dass trotz Angriffen und
Stromausfällen alles wie gewohnt weitergeht: Jemand fertigt Dickbauchöfen
für die Front an und bittet darum, sie nach Bachmut zu bringen. Jemand hat
drei Autos repariert, die Anton von Spendengeldern gekauft hatte. An der
Grenze treffen ein Stapel warmer Kleidung und Generatoren ein.
## Gefährliches Virus
„Kinder malen abends bei Kerzenlicht Bilder für die Soldaten.
Elektrotechniker hantieren mit Drähten, Wasserversorger mit Ventilen. Das
Land leistet Widerstand. Ich weiß nicht, was sich die Russen davon
erhoffen, wenn sie die zivile Infrastruktur angreifen, aber bei ihnen läuft
definitiv etwas schief“, sagt Senenko.
Der Finanzanalyst Sergei Fursa drängt darauf, die aktuelle Situation als
Krankheit zu behandeln – ein vorübergehendes Problem, das es zu ertragen
gilt. Das müsse auch die Einstellung zu Russland sein – ein gefährliches
Virus, das besiegt werden muss. „Das passiert nicht an einem Tag. Dieses
Virus nimmt dir die Kraft, kann dich töten, wenn du es nicht bekämpfst.
Wenn du krank bist, gehe keine Kompromisse mit dem Virus ein und sage
nicht, dass das Virus definitiv gewonnen hat. Nein, du wirst behandelt, du
stärkst dein Immunsystem und dann geht es dir besser. Wir brauchen Zeit, um
uns zu erholen“, schreibt Fursa.
Natürlich gibt es auch diejenigen, die die Nerven verlieren. Die Leute
beginnen sich darüber zu ärgern, dass ein Teil der Straße Strom hat,
während der andere fast jeden Tag abgeschaltet wird. Im Netz kursieren
Verschwörungstheorien über den angeblichen Export von ukrainischem Strom
nach Europa. Dies sei auch der Grund für die Ausfälle. Viele denken schon
jetzt, was bei [2][Temperaturen von minus zehn Grad] und darunter sein
wird. Sie frösteln …
Aus dem Russischen Barbara Oertel
Juri Konkewitsch lebt und arbeitet in Luzk. Seit dem Beginn des Krieges
am 24. Februar 2022 schreibt er regelmäßig für die taz – auch gerne über
Fußball
3 Dec 2022
## LINKS
[1] /Aktuelle-Lage-in-der-Ukraine/!5898474
[2] /Ukraine-richtet-Waermestuben-ein/!5897688
## AUTOREN
Juri Konkewitsch
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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