# taz.de -- Historie und Gegenwart in der Ukraine: Geschichtswissenschaft im Kr… | |
> In der Ukraine schlägt der Krieg sich auf die Arbeit von Museen und | |
> Geschichtsinitiativen nieder. Auch der Blick auf die Vergangenheit | |
> verändert sich. | |
Bild: Das Mutterlanddenkmal in Kyjiw trägt nun das Wappen der Ukraine auf dem … | |
Lwiw/Kyjiw taz | Die Großinvasion Russlands seit dem 24. Februar 2022 gilt | |
unter anderem dem kulturellen Erbe der Ukraine. Museen und historische | |
Initiativen sind daher besonders gefragt wie auch herausgefordert, auf den | |
andauernden Kriegszustand und den Terror gegen die Zivilbevölkerung zu | |
reagieren. Dabei steht auch zur Debatte, [1][wie die Geschichte des Landes | |
grundsätzlich interpretiert und erzählt wird.] | |
Die NGO After Silence ist bereits seit 2021 darum bemüht, Erinnerungen | |
mithilfe von Oral History, Privatarchiven und (Familien-)Dokumenten | |
festzuhalten und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. | |
Bei der Oral History handelt es sich im Falle der Ukraine um eine | |
verhältnismäßig junge Disziplin, die das einst sowjetisch geprägte | |
Geschichtsbild durch Interviews ergänzen und herausfordern kann. Auch die | |
in den Dörfern gesammelten Dokumente wie etwa persönliche Tagebücher sind | |
eine wertvolle Ergänzung der Bestände staatlicher Archive. | |
Zu den Aufgaben von After Silence zählt auch, vorhandene Materialien zu | |
digitalisieren. Ein Aspekt, der innerhalb des letzten Jahres besonders | |
dringlich geworden ist: Geschichten und Erinnerungen sollen bewahrt werden | |
– nicht nur vor dem Vergessen, sondern auch vor der Vernichtung durch | |
Kriegseinwirkungen. | |
## Oral History | |
Jüngst bereisten die NGO-Mitarbeiter*innen Andrij Usatsch und Anna Jazenko | |
wieder sechs Regionen der Ukraine, interviewten die wenigen Menschen, die | |
noch von den 1930er und 1940er Jahren berichten können. Allein 2022 konnten | |
sie und weitere Mitwirkende 75 Interviews führen. „Während des umfassenden | |
russisch-ukrainischen Kriegs werden sie mit neuen Sorgen um ihre Kinder, | |
Enkel und Urenkel belastet, die jetzt in der ukrainischen Armee kämpfen, in | |
kritischen Infrastrukturen arbeiten oder zur Evakuierung gezwungen wurden“, | |
erzählt Usatsch. | |
Auch im Lwiwer Museum Territority of Terror spielt die Oral History eine | |
wichtige Rolle. Das Museum befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen | |
Ghettos (1941–1943) und des Transitgefängnisses Nr. 25 (1944–1955), es | |
informiert sowohl über die Shoah als auch über die sowjetischen | |
Deportationen aus der Region. Aber auch Grenzkonflikte zwischen Polen und | |
der Ukraine und weitere Themen werden in eine multiethnische Geschichte der | |
Ukraine eingewoben, an dessen Entstehen Interviewte zentral mitwirken | |
sollen. | |
Nach dem Beginn der Invasion gründete Olha Hontschar, seit 2016 Direktorin | |
des Museums, mit zahlreichen Kolleg:innen das Museum Crisis Center. Sie | |
unterstützen vorrangig kleine, regionale Museen in der Ost- und Südukraine, | |
wo die Kämpfe am heftigsten sind. Im September 2022 konnte das Territority | |
of Terror wiedereröffnen. | |
Nicht alle waren davon begeistert, so hört man dieser Tage des Öfteren. Die | |
Legitimität kultureller Einrichtungen bemisst sich derzeit auch daran, wie | |
sehr sie sich auf den gegenwärtigen Krieg beziehen und die Armee | |
unterstützen – und viele wünschen das auch. | |
## Unterschiedliche Geschichtsbilder | |
Der Andrang in Lwiw war jedoch enorm und das Museum erreicht nun viele | |
Menschen aus allen Teilen des Landes, die aufgrund des Krieges gezwungen | |
sind, sich in Lwiw aufzuhalten. „Sie bringen ganz unterschiedliche | |
Interessen und Geschichtsbilder mit“, so Liana Blicharska, | |
wissenschaftliche Mitarbeiterin des Territory of Terror. „Das ist für uns | |
Historiker:innen besonders interessant.“ Viele erzählten auch ihre | |
eigene Geschichte „vom Beginn des Krieges“, der nun nicht mehr am 1. | |
September 1939 oder am 22. Juni 1941, sondern am 24. Februar 2022 beginnt. | |
In einer aktuellen Ausstellung werden so nun Objekte ausgestellt, die | |
russische Soldaten in den besetzten Gebieten zurückgelassen haben, darunter | |
Briefe von Kindern aus Russland an die Soldaten. Dass diese Artefakte | |
bisher nicht kontextualisiert werden, deutet auf die Schwierigkeiten von | |
Geschichtsschreibung während eines andauernden Krieges hin. | |
Gleichzeitig ist [2][der Bedürfnis nach unmittelbarer Musealisierung,] die | |
sowohl Sinn stiften als auch zur Verarbeitung aktueller Traumata beitragen | |
kann, groß. Eine besondere symbolische Tragweite haben in der Ukraine die | |
zentralen Museen der Hauptstadt. | |
Das Nationale Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg – bis | |
2015 noch das sowjetische Museum des Großen Vaterländischen Krieges – | |
orientiert sich derzeit sowohl methodisch als auch inhaltlich grundsätzlich | |
neu. Künftig soll die ukrainische Nationalgeschichte und der Kampf für | |
Unabhängigkeit im Zentrum einer Erzählung stehen, die im Jahr 1914 mit dem | |
Ersten Weltkrieg begonnen habe und bis in die Gegenwart reiche. | |
## Zwei Armeen | |
„Im Zweiten Weltkrieg befanden sich zwei Armeen totalitärer Regime auf dem | |
Territorium der Ukraine“, beschreibt es die Mitarbeiterin Milena Tschorna. | |
„Und die Ukrainer*innen befanden sich inmitten eines andauernden Kampfes | |
für Unabhängigkeit, den sie 1919 mit der Niederlage gegen die Bolschewiki | |
verloren hatten.“ | |
Eine Gleichsetzung von Wehrmacht und den Streitkräften der Russischen | |
Föderation, die derzeit in der Ukraine wüten, sehen die | |
Mitarbeiter*innen allerdings kritisch. Zu viel unterscheide die | |
Situationen, um so zu Erkenntnissen zu gelangen. | |
Anders stellt sich dies etwa bei einer polnisch-ukrainischen Ausstellung | |
dar, die derzeit auf dem Kyjiwer Mychajliwska-Platz unmittelbar neben | |
diversen ausgebrannten Militärfahrzeugen zu sehen ist. In dieser werden 16 | |
Bilder aus dem 1944 nach dem Warschauer Aufstand von den Deutschen | |
zerstörten Warschau jeweils einem Bild aus dem von der russischen Armee | |
zerstörten Mariupol sowie den bekannten Kyjiwer Vororten gegenübergestellt | |
und so eine Parallelität suggeriert. | |
Im Kriegsmuseum sollen künftig mehr unterschiedliche Gruppen dargestellt | |
werden, so erzählt Tschorna. Waren die vor allem kleinen Akteur*innen | |
des Zweiten Weltkrieges Teil einer gleichförmigen Masse, aufgeteilt in | |
deutsche Täter und sowjetische Held*innen, so sollen Soldaten aller | |
dargestellten Armeen künftig als Menschen mit individueller Geschichte | |
dargestellt werden – darunter diejenigen, in denen Ukrainer*innen | |
gedient haben. | |
## Objekte sammeln | |
Abzuwarten bleibt, inwieweit die vielfältigen Entscheidungen in der | |
ukrainischen Bevölkerung, unter denen sich etwa auch Kommunist*innen | |
und Helfer*innen der Nationalsozialisten befanden, in diesen Ansatz | |
integriert werden können. | |
Als zentrale Aufgabe sieht der Direktor Jurij Sawtschuk das Sammeln von | |
Artefakten der Besatzung in den im derzeitigen Krieg von der ukrainischen | |
Armee wiedereroberten Territorien. 12.000 Objekte sammelten er und sein | |
Team bisher, teils unter gefährlichen Bedingungen und ohne größere | |
Ressourcen. | |
Der Transport von riesigen Koffern für BUK-Raketen nach Kyjiw wurde | |
beispielsweise improvisiert. Zugeführt werden diese Objekte teils einer neu | |
installierten, gut besuchten Ausstellung, die konstant weiterentwickelt | |
wird – wohingegen die Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg derzeit nicht | |
zugänglich ist. Im Jahr 2023 besuchten bisher über 180.000 Menschen die | |
Ausstellungen, während es 2021 etwa 123.000 waren. | |
Medientauglich inszeniert wurde kürzlich die „Dekommunisierung“ der | |
sowjetischen „Mutter Heimat“-Statue zum Unabhängigkeitstag der Ukraine. Sie | |
nennt sich nun „Mutter Ukraine“, Hammer und Sichel wurden durch den | |
goldenen Dreizack, das Wappen der Ukraine, ersetzt. Auch zur Geschichte | |
dieses Symbols entsteht derzeit eine neue Ausstellung in ehemaligen | |
Büroräumen des Museums. Unklar ist, wie man mit den weiteren monumentalen | |
Statuen umgeht. Klar ist jedoch: Auch die Tannenbäume sollen weichen, da | |
sie mit sowjetischen Gedenkanlagen assoziiert werden. | |
## Mitarbeiter an der Front | |
Es sind bei Weitem nicht nur die musealen Inhalte, über die das Museum | |
derzeit einen Bezug zum Krieg herstellt: Zehn Mitarbeiter*innen | |
befinden sich im frontnahen Armeedienst. | |
Auch Anatoly Podolsky beginnt jeden seiner Tage in den letzten anderthalb | |
Jahren damit, sich bei den zwölf Kolleg*innen und Bekannten zu | |
erkundigen, die derzeit als Soldaten eingesetzt sind, ob es ihnen gut geht. | |
Podolsky ist Direktor des Ukrainian Center for Holocaust Studies (UCHS), | |
einer seit dem Jahr 2003 arbeitenden renommierten NGO, die sich der | |
Aufklärung über den Holocaust und andere NS-Verbrechen verschrieben hat. | |
Das UCHS ist Teil des im März 2022 gegründeten Hilfsnetzwerks für | |
Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine, das aus etwa 50 Gedenkstätten | |
und Initiativen in der Ukraine und Deutschland besteht. | |
Das Netzwerk leistet vor allem unbürokratische humanitäre Unterstützung | |
betagter Menschen. Auch Fachkolleg*innen werden immer wieder | |
unterstützt – und auch der Austausch zwischen ihnen hat sich bei dieser | |
Kooperation intensiviert. Einer der zwölf Kolleg*innen, um die sich | |
Podolsky sorgt, ist Mykhaylo Tyaglyy, einer der führenden Forschenden zur | |
Verfolgung der Roma unter deutscher Besatzung. Seit März 2022 ist der | |
Historiker Soldat. [3][Seine und weitere Familien der | |
Mitarbeiter*innen sind seit dem Krieg auseinandergerissen]. | |
27 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Erinnerungskultur-in-der-Ukraine/!5916483 | |
[2] /Historikerin-ueber-Architektur-im-Krieg/!5884249 | |
[3] /Kriegstote-in-der-Ukraine/!5958764 | |
## AUTOREN | |
Johannes Spohr | |
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