# taz.de -- 51 Tote bei Raketenangriff bei Charkiw: Das getroffene Dorf | |
> Der Angriff auf das ukrainische Dorf Hroza ist der bislang blutigste | |
> russische Terrorakt im Gebiet Charkiw. Die Hinterbliebenen ringen um | |
> Worte. | |
Bild: Eine Frau legt nahe der Einschlagsstelle Blumen für die Opfer nieder | |
Tatjana Lukaschowa steht vor dem ehemaligen Ladencafé des Dorfes und weint. | |
„Die Explosion war so stark, dass die ganze Erde zu zittern begann“, | |
erzählt sie. [1][An dem Ort, an dem am Donnerstagnachmittag eine Rakete | |
einschlug, hat niemand überlebt.] | |
In dem Café waren zum Zeitpunkt des Angriffs auch Tatjana Lukaschowas | |
43-jährige Tochter und ihr Schwiegersohn. Die Leiche des Schwiegersohns | |
wurde bereits gefunden und identifiziert, aber ihre tote Tochter hat die | |
Frau noch nicht gesehen. Sie hat sich entschieden, hier zu warten, bis die | |
letzten Toten gefunden wurden. | |
Lukaschowa erzählt, dass in dem Café gerade eine Gedenkfeier für einen aus | |
Hroza stammenden Soldaten stattfand, der schon 2022 gestorben war, aber | |
erst jetzt in seinem Heimatdorf bestattet werden konnte. Aus diesem Anlass | |
hatte seine Familie zu einem Essen eingeladen, zu dem sich rund 60 | |
Dorfbewohner versammelt hatten. | |
Im Hof des ehemaligen Ladencafés liegen zahlreiche Leichen, manche bis zur | |
Unkenntlichkeit zerfetzt. Einige sind schon in weiße Plastiksäcke verpackt, | |
die anderen liegen einfach auf der Erde. Immer wieder führen Ermittler | |
Menschen zu den Leichenteilen. Ein alter Mann mit Namen Serhij fällt vor | |
den Überresten einer Frau auf die Knie und beginnt zu schluchzen. Von dem | |
Frauenkörper ist nur der Rumpf übrig, Serhij erkennt seine Angehörige an | |
den Fetzen ihrer Kleidung. | |
## Neben vielen Leichensäcken steht niemand | |
Fast niemand hier möchte mit Reportern sprechen. „Wozu sollen wir jetzt ein | |
Interview geben? Das bringt uns die Menschen nicht zurück!“ Serhij schreit | |
jetzt fast. | |
In der Mitte des Hofes sitzt ein Mann neben einer verpackten Leiche, er | |
weint und flüstert etwas. Dann wird der Leichensack auf einen Lkw geladen, | |
der die Toten in das Leichenschauhaus von Charkiw bringt. | |
Ein großer Mann schafft es gerade noch bis zu dem fast zerstörten Zaun des | |
Cafés, lehnt sich daran und bleibt fast eine Viertelstunde regungslos dort | |
stehen. Der Mann lehnt jede Hilfe ab, will weder Tee noch Wasser. Als ich | |
ihn anspreche, beginnt er zu schluchzen und versucht mühsam, die Tränen | |
zurückzuhalten. | |
Das Schrecklichste an der ganzen Situation ist, dass neben den meisten | |
Leichensäcken keine Angehörigen oder Freunde stehen. Tatjana Lukaschowa | |
erklärt, dass hier ganze Familien umgekommen sind, ganze Häuser entlang der | |
Dorfstraße sind jetzt leer. | |
## 51 von 330 | |
Der Polizeichef des Gebietes Charkiw, Wolodymyr Tymoschko, sagt, dass bis | |
zum Donnerstagmorgen 330 Menschen in Hroza gelebt haben. Eine einzige | |
Rakete habe auf einen Schlag 51 von ihnen getötet. „Fast aus jedem Haus | |
sind Menschen ums Leben gekommen“, sagt Tymoschko. | |
Der Raketentyp habe bereits anhand der Markierungen auf den geborgenen | |
Trümmern bestimmt werden können, erklärt er. Es handele sich um eine | |
russische ballistische Rakete vom Typ Iskander-M. „Es gibt nur eine | |
Richtung, aus der der ganze Ärger hier kommt: aus Russland. Aus anderen | |
Richtungen werden wir nicht bedroht, nur aus dieser einen“, sagt Tymoschko. | |
„Wir werden alle notwendigen Ermittlungen durchführen, um die Identität | |
derjenigen zu ermitteln, die die Rakete auf dieses Gebäude gerichtet haben, | |
und wir werden alle Eventualitäten prüfen“, sagt der Polizeichef zu den | |
Gerüchten, jemand habe absichtlich das Ladencafé zum Zeitpunkt der | |
Gedenkfeier ins Visier genommen. | |
## Bruder, Mutter, Schwägerin | |
Dorfbewohner Olexander Muchowatyj hat bei dem Anschlag drei Angehörige | |
verloren. „Ich war während der Explosion nicht hier. Ich habe davon | |
erfahren, weil mein Bruder nicht ans Telefon ging. Und dann riefen sie | |
meinen Neffen an und er sagte, dass Papa, Mama und Oma hier unter den | |
Trümmern liegen. Mein Bruder, meine Schwägerin und meine Mutter waren hier. | |
Mein Bruder wurde schon gefunden, seine Frau und unsere Mama noch nicht“, | |
erzählt Muchowatyj. | |
Er ist davon überzeugt, dass die Russen ganz bewusst das Ladencafé | |
angegriffen haben. Jemand habe die Rakete direkt darauf ausgerichtet, genau | |
zu der Zeit, als die Gedenkfeier dort stattfand. „Sie wurde mit | |
hundertprozentiger Sicherheit bewusst auf uns gerichtet. Ich denke, viele | |
haben während der Zeit der russischen Besatzung mit den Orks (abwertende | |
ukrainische Bezeichnung für die russischen Besatzer; Anmerkung der | |
Redaktion) zusammengearbeitet. Sie haben das Gebiet nach der Befreiung | |
durch die ukrainische Armee verlassen, aber sind weiter mit ihren | |
Angehörigen hier in Kontakt“, sagt Muchowatyj. | |
„Ich bin mir sicher, dass dies ein sehr gezielter und bewusster Angriff | |
war. Die Rakete war ein Volltreffer.“ | |
Der Gouverneur des Gebiets Charkiw, Oleg Sinegubow, sagt, dass es nicht nur | |
51 Tote gab, sondern auch noch sechs weitere Menschen durch den russischen | |
Raketenangriff verletzt wurden. Einige von ihnen lebensgefährlich. Da alle | |
Menschen, die am Donnerstagnachmittag in dem Café waren, tot oder schwer | |
verletzt seien, könne auch niemand mehr etwas über den Angriff erzählen, | |
sagt er. | |
## Dreitägige Trauerzeit | |
25 Wohnhäuser seien durch den Raketenangriff beschädigt worden, die | |
Menschen würden umgehend mit Baumaterialien und allem anderen | |
Lebensnotwendigen unterstützt, betont der Gouverneur. | |
Der Anblick des Dorfs schockiert selbst den Chefermittler des Gebietes | |
Charkiw, Serhij Bolwinow. „Als Chefermittler habe ich schon viel gesehen. | |
Ich war im letzten Herbst auch [2][bei den Massengräbern in Isjum], wo wir | |
sehr viele Leichen exhumiert haben. Aber dass 51 Menschen auf einmal | |
sterben, sehe ich persönlich wirklich zum ersten Mal“, sagt er. | |
„Es ist schwierig, diese Tat zu charakterisieren. Man könnte sagen, so | |
etwas tun nur Terroristen. Und russische Soldaten können so etwas tun. Ein | |
ziviles Ziel, ein Café, anzugreifen, in dem sich ausschließlich Zivilisten | |
aufhalten, die einem Gefallenen aus ihrem Dorf die letzte Ehre erweisen.“ | |
Jeder normale Mensch verstehe, [3][dass das nichts anderes als ein | |
Terrorakt sei, nichts anderes als der Bruch von Gesetzen und Regeln im | |
Krieg,] sagt er. | |
Bis Donnerstagabend seien 35 von 51 Leichen identifiziert worden, fügt der | |
Chefermittler noch hinzu. Leichen, die anhand äußerer Merkmale nicht mehr | |
zu erkennen sind, werden jetzt mittels DNA-Proben identifiziert. Alle | |
Verstorbenen würden mit einem Militärlaster nach Charkiw gebracht. Die | |
Untersuchung vor Ort sei abgeschlossen. | |
Ab dem 6. Oktober wird es im Dorf Hroza zahlreiche Beerdigungen geben. In | |
der Region Charkiw wurde eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. | |
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey | |
6 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Juri Larin | |
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