Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Erzählungen von Hryhir Tjutjunnyk: Wunderlinge im Heu
> Der ukrainische Autor Hryhir Tjutjunnyk hatte es in der Sowjetunion
> schwer. Nun erscheinen seine naturlyrischen Erzählungen auf Deutsch.
Bild: Ein Bergdorf am Fuße der ukrainischen Karpaten
Wahrscheinlich hat er in mindestens einer Erzählung ein wenig auch sich
selbst porträtiert. Es ist auf jeden Fall gut vorstellbar, dass Hryhir
Tjutjunnyk eben solch ein Kind war wie der Junge Oles in der Erzählung „Der
Wunderling“ – oder es hätte sein können, wenn die Zeiten andere gewesen
wären.
Einer, der selbstvergessen in der Natur umherstreift, Bilder in den Schnee
malt, über dem Beobachten von Tieren gänzlich die Zeit vergisst und der,
wenn in der Schule verlangt wird, dass alle Kinder einen Blumentopf
abmalen, stattdessen einen Specht zeichnet, der die Lehrerin verächtlich
aus einem Auge anblickt.
Letztlich sind sie aber alle in irgendeiner Weise „Wunderlinge“, die
Menschen in den hier versammelten kurzen bis mittellangen Prosastücken, die
Momentaufnahmen des Lebens gleichen. Zwar waltet in allen Texten eine
gewissermaßen natürliche narrative Dramaturgie, und doch wirken sie dabei
oft wie flüchtig eingefangene Impressionen. Es sind Ausschnitte eines
Daseins zwischen den Traditionen einer dörflich-bäuerlichen Existenz und
den Anforderungen des Lebens in einer modernisierten, sowjetisierten Welt.
Hryhir Tjutjunnyk lebte von 1931 bis 1980, überstand als Kleinkind den
[1][Holodomor,] erfuhr eine Kindheit voller Entbehrungen und Strapazen und
studierte als Erwachsener in Charkiw russische Literatur, um sich als Autor
aber bald dem Ukrainischen zuzuwenden.
Im sowjetischen Literaturbetrieb war er ein marginalisierter „Wunderling“,
der mit seiner naturlyrischen, liebevoll dem einzelnen Menschen zugewandten
Prosa nicht ins Raster des sozialistischen Realismus passte. Er litt sehr
unter der ausbleibenden Anerkennung und beging mit 48 Jahren Selbstmord.
## Landschaften mit allen Sinnen erlesen
Wundervoll farbig, sinnlich, hingebungsvoll durch genaues Hinsehen und
Erfühlen noch die kleinsten Einzelheiten belebend, stellt Tjutjunnyk die
Natur dar. Da gibt es, nur zum Beispiel, ein Abendrot, das „als tiefroter
Streifen am Horizont aushärtete. Auf dem Fluss glänzte matt das nach dem
Tauwetter dünne Eis, es roch nach überfrorenen Weidenästen und trockenem
Schilf“.
Und sofort steht man lesend mitten in dieser Landschaft, angeregt, sie mit
allen Sinnen zu imaginieren – im besten Fall so intensiv wie der
Protagonist der Erzählung „Geröstete Kartoffeln“, der sich von einem Baum
einen kleinen Vorrat an Kiefernharz abpult: „Den nimmt er mit auf den
Dachboden […], legt sich auf einen Heuhaufen oder ein Ährenbündel und liegt
dann einfach nur da, mit geschlossenen Augen und einem Lächeln, weil das
Harz nach jungen Zapfen duftet, das Dach knarzt im Wind, und Tymocha wähnt
sich im Kiefernwald…“
Die Präsenz der lebendigen Natur, und sei es nur in der Fantasie, ist ein
stets vorhandener Trost in diesen Erzählungen. Und Trost haben sie wohl
alle, wenn auch in verschiedenem Maße, nötig, die Menschen, die darin
porträtiert werden. Denn auch wenn von ihnen oft nur aus der Perspektive
eines äußeren Beobachters erzählt wird, ist doch deutlich, dass das Leben
ihnen viel abverlangt.
Irgendwie müssen sie aber doch existieren, und sei es in eigentlich unnötig
übergroßer Einsamkeit wie in der Erzählung „Der Ahornspross“, worin ein
sehr alter, ans Haus gefesselter Mann noch jede Gelegenheit, seine
Isolation für Momente zu überwinden, durch sein erratisches Verhalten
selbst torpediert.
## Die Moderne bricht ins Landleben ein
In anderen Erzählungen werden die gesellschaftlichen Umbrüche mit ihren
Folgen für das ländliche Leben sichtbar. Am deutlichsten treten sie in der
Erzählung „Wie sie Katrja verheirateten“ zutage, in der eine junge Frau,
die längst fern vom Heimatdorf in der Produktion arbeitet, zu den Eltern
kommt, um ihre Hochzeit im alten Zuhause zu feiern.
Für die Menschen im Dorf eine schöne Gelegenheit, bei Gesang und Gelage
zusammenzukommen; doch wissen alle, dass es für die Eltern ein trauriger
Tag ist, da nun auch die jüngste Tochter für immer aus ihrem Leben
verschwinden wird. Auch wirken weder Braut noch Bräutigam besonders
glücklich.
Es ist leicht zu verstehen, warum Tjutjunnyk, der hartnäckig den
kulturpolitischen Anforderungen widerstand, optimistische Aufbauliteratur
abzuliefern, mit seinen Erzählungen [2][zu Sowjetzeiten] einen schweren
Stand hatte. Etliche der in diesem Band versammelten Texte sind zu seinen
Lebzeiten nie veröffentlicht worden, wie aus dem informativen Nachwort von
Beatrix Kersten zu erfahren ist.
Kersten hat nicht nur als Herausgeberin die Auswahl der Texte, sondern auch
die fantastisch schön geratene deutsche Übersetzung besorgt. Deren
Korrektheit beim Sprachtransfer kann an dieser Stelle nicht bewertet
werden, doch ist ihr von vorne bis hinten anzumerken, wie sehr die
Übersetzerin den Autor und seine Sprache schätzt.
28 Aug 2024
## LINKS
[1] /Russischer-Journalist-Mikhail-Zygar/!5964058
[2] /Gefaengnisroman-aus-der-Sowjetunion/!5969313
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Sowjetunion
Erzählungen
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ukraine-Unterstützung bröckelt: Dem Hai zum Fraß
Der ukrainische Erfolg in Kursk scheint militärisch nicht zu wirken wie
erhofft. Ausgerechnet in dieser Situation bröckelt die westliche
Solidarität.
Gedichte von Marianna Kijanowska: Schmerz ist ein Ort im Morgen
Gedichtband „Babyn Jar. Stimmen“: Die ukrainische Lyrikerin Marianna
Kijanowska widmet den Opfern des Massakers von Babyn Jar ein wortgewaltiges
Denkmal.
Vortrag über ukrainische Kultur: Nationaldichter mit großem MG
Im Angriffskrieg steht es prekär um die ukrainische Kultur. Der Künstler
Yuriy Gurzhy spricht am Mittwoch bei einer Vortragsreihe an der HU Berlin.
Russischer Journalist Mikhail Zygar: Land ohne Zukunft
Der russische Journalist Mikhail Zygar musste sein Land verlassen. In
seinem Buch zeichnet er den langen Kampf Russlands gegen die Ukraine nach.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.