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# taz.de -- „Im toten Winkel“ von Ayşe Polat: Harte Lektion in Vergangenhe…
> Für „Im toten Winkel“ schickt Regisseurin Ayşe Polat ein deutsches
> Filmteam zur Recherche nach Anatolien. Diverse Perspektiven formen den
> Thriller.
Bild: Das Filmteam in „Im toten Winkel“: Christian (Max Hemmersdorfer), Sim…
Auf einem provisorischen Friedhof werden die Gräber von grünem Gras
umhüllt. An einem Grab steht ein Mann und betet, neben ihm ein kleines
Mädchen, das sich stark von der Umgebung durch ihre lila Jacke abhebt.
Nachdem Zafer sich von seinem dort begrabenen Vater verabschiedet hat,
genießt er zu Hause noch einen letzten Moment mit seiner Tochter, bevor er
das Land verlässt. Seine leeren Augen füllen sich mit Panik, als er ein
Live-Video zugeschickt bekommt, in dem er und seine Tochter am Esstisch zu
sehen sind und ihm aufgeht: Er wird beobachtet.
In ihrem neuesten Film „Im toten Winkel“ stellt [1][Regisseurin Ayşe Polat]
die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen. So reist bei ihr ein
deutsches Filmteam in den Nordosten der Türkei, um eine Dokumentation über
eine kurdische Familie zu drehen, die ihren Sohn Baran verloren hat. Die
Ankunft der Leute aus dem Ausland in der Türkei bringt Dynamik in eine
verschleierte Vergangenheit, von der sowohl Opfer als auch Täter betroffen
sind.
Den Beginn inszeniert Polat ähnlich wie den einer echten Dokumentation. Im
Zentrum steht die kurdische Dorfbewohnerin Hatice. Der Verlust ihres Sohnes
sitzt tief, obwohl sein Tod schon über zwei Jahrzehnte her ist. An jedem
Wochentag, zur selben Uhrzeit, bereitet Hatice dieselbe Portion Suppe für
ihren Sohn vor, als Akt der Erinnerung.
Die Bilder vom Dorf und der anatolischen Landschaft sind, wie so oft bei
Filmen zum Thema, von Melancholie gezeichnet. Hinzu kommt in diesem Fall
der nicht enden wollende Schmerz von Hatice, nicht mit der Vergangenheit
abschließen zu können. Bei alldem betritt das deutsche Filmteam, wie die
Zuschauenden, unbekanntes Territorium. Sie werden die Hintergründe dieser
Ereignisse auf hartem Wege erfahren.
## Nichtlineare und multiperspektivische Erzählweise
Polats nichtlineare und multiperspektivische Erzählweise sticht heraus.
Erzählt werden drei Kapitel, die sich jeweils gegenseitig aufklären, aber
dennoch ihre Lücken haben und sich wie Puzzlestücke nach und nach ergänzen.
Sie nähert sich dem Umgang mit Vergangenem aus unterschiedlichsten
Betrachtungsweisen an: der eines Filmteams, der eines Mitglieds der
rechtsextremen Gruppierung Graue Wölfe und der eines kleinen Kindes. Zwar
beginnt der Film ruhig, verliert ab dem zweiten Kapitel aber nicht mehr an
Spannung.
Dort betritt besagter Zafer das Bild, ihm steht die Wahrheit auf seinen
Schnauzer geschrieben. Denn er ist ein Grauer Wolf und als solcher in einer
Gruppierung tätig, die überzeugt davon ist, die Türkei von all denen
reinigen zu müssen, die nicht das Mutterland lieben. Für sie sind das die
kurdischen Bewohner, die auf ihre Identität bestehen.
Allein um das Wort „Kurden“ wird ein großer Bogen gemacht, so wird aus dem
kurdischen Anwalt ein „Terroristen-Anwalt“. Die Aufgabe von Zafer und
seinen Wölfen ist es, diesen Anwalt im Auge zu behalten und an seiner
Arbeit mit dem Filmteam aus Deutschland zu hindern. So versuchen sie aktiv,
die Vergangenheit zu verschleiern.
Zafer verhält sich aber, anders als seine Kollegen, eigenartig. Denn er
wird verfolgt, wie sich an den Videos und Fotos von seinem Aufenthalt
zeigt, die er ständig zugeschickt bekommt. Diese sind creepy inszeniert und
schaffen eine mysteriöse, fast übernatürliche Stimmung. Verstärkt wird dies
durch Zafers lila gewandete Tochter Melek.
## Ästhetik zwischen „Tatort“ und türkischer Soap-Opera
Sie legt à la „Shining“ eine unheimlich wirkende Naivität an den Tag, da
sie einen unsichtbaren Freund hat, der Dinge sieht, die selbst den Anwalt
und Zafer einschüchtern. Und so nimmt Zafer die Videos als eine Drohung
wahr, die ihn veranlasst, selbst alles und jeden mit der Handykamera zu
filmen. Hierbei spielt Polat mit dem Format und verwendet hochkantige
Handyaufnahmen, die das Bild verengen und ein klaustrophobisches Gefühl
erzeugen.
Ästhetisch beeindruckt der Film jedoch nicht weiter, visuell liegt er
irgendwo zwischen „Tatort“ und türkischer Soap-Opera, ohne große visuelle
Experimente. Viel eher verstärken scharfe Bilder in Nahaufnahme vor
verschwommenem Hintergrund den Eindruck eines dialoggetriebenen Films, in
dem die Mimik der Schauspielenden im Vordergrund steht.
Zafers Angst lässt ihn in seinem Versuch scheitern, dem Bild des türkischen
Mannes, wie seine Gruppe es predigt, gerecht zu werden. Stets steht er im
Schatten seines verstorbenen Vaters, der ebenfalls Mitglied der Grauen
Wölfe war und als streng beschrieben wird. Vom Gruppenoberhaupt wird Zafer
vorgehalten, sein Vater hätte nicht gewollt, dass sein Sohn ein Feigling
wird.
## Die Vergangenheit hinterlässt offene Wunden
Eine Aussage, die Zafer aus der Fassung bringt und auch als
Familienoberhaupt scheitern lässt. So wird das fragile Bild des türkischen
„evinin erkeği“ (Herr des Hauses) rissig und der [2][giftige Charakter
dieses Männlichkeitsbilds] tritt offen zutage.
Polat gelingt eine Gegenüberstellung von Opfer und Täter, die nicht
geschmacklos wirkt, stattdessen die Sensibilität des Themas und der
Geschichte aufgreift und sich traut, diese aus mehreren Perspektiven zu
erzählen. Das deutsche Filmteam kann nur einen oberflächlichen Blick auf
die Region werfen.
Hatice bleibt nur zu erinnern und dafür zu sorgen, dass ihr Sohn nicht in
Vergessenheit gerät. Dem gegenüber stehen Zafer und seine Gruppe. Sie
wollen die Vergangenheit vergessen machen und werden von ihr eingeholt. Die
Vergangenheit beeinflusst alle, wie Polat zeigt. Sie hinterlässt eine
offene Wunde.
4 Jan 2024
## LINKS
[1] /Interview-mit-der-Regisseurin-Aye-Polat/!5913889
[2] /Rollenklischees-in-Frage-stellen/!5686467
## AUTOREN
Oğulcan Korkmaz
## TAGS
Film
Genrefilm
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Deutscher Filmpreis
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Venedig
Film
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