# taz.de -- Bei den Mayas in Guatemala: Reisen mit Notizbuch | |
> Gesammelte Notrationen von unterwegs: Damit wir nicht vergessen, warum | |
> wir gereist sind. Und wieder reisen werden. | |
Bild: Entspannte Reisebegleiter: Tuctucs in Guatemala | |
Mein Vater liebte es, zu verreisen. Von jeder Tour brachte er ein volles | |
Notizbuch mit nach Hause. „Geistige Notration für schlechte Zeiten“, | |
erklärte er, und wir Kinder schüttelten den Kopf. Als er alt wurde, machten | |
seine Beine nicht mehr mit. Doch nun saß er Tag für Tag an seinem | |
Schreibtisch, studierte seine alten Aufzeichnungen und durchlebte glücklich | |
jede Fahrt ein zweites Mal. Auch heute herrschen ungute Zeiten in Sachen | |
Reisen. Doch auch ich habe über die Jahre Notrationen gesammelt. Und ich | |
teile sie gern. Damit wir nicht vergessen, warum wir gereist sind. [1][Und | |
wieder reisen werden]. | |
Ein Tuctuc-Fahrer bringt uns zu dem Haus in Santiago Atitlán in Guatemala, | |
in dem der Maximón für ein Jahr haust. Im Halbdunkel thront der hölzerne | |
Halbheilige mit dem geschnitzten Gesicht auf einem Stuhl, Hut auf dem Kopf, | |
Zigarette im Mund. Er ist mit Krawatten und Schals behängt und mit | |
Geldscheinen besteckt, eine Mischung aus Maya-Gott und christlichem | |
Sendboten. | |
Luftballons hängen von der Decke, ein Radio dudelt, Chrysanthemen duften | |
gegen den Kopalrauch an. Im flackernden Licht der Kerzen leiert ein | |
Maya-Priester im Schneidersitz Litaneien, gönnt immer wieder mal dem | |
Maximón ein Schlückchen Rum und dann sich selbst. Gäste kommen, Gäste | |
gehen, noch ein Schlückchen, noch ein Gebet, und, ach ja, zehn Quetzales | |
für das Foto bitte, ein Euro vierzig. | |
Rund sechs Millionen Maya gibt es heute noch in [2][Mittelamerika]. Sie | |
sprechen 21 Sprachen und sind untereinander nicht weniger uneins als zu | |
ihren Glanzzeiten im siebten oder achten Jahrhundert n. Chr., als sie in | |
zwei Dutzend Königreiche aufgeteilt waren. Der größte Teil davon lebt in | |
Guatemala und macht dort fast die Hälfte der Bevölkerung aus. Viele | |
versuchen, sich bestmöglich zu assimilieren und wie Ladinos zu werden, ihre | |
spanischstämmigen Landsleute. Ein Teil aber pflegt die alten Riten, weiß | |
sich der Sonne, den Bergen und Bäumen auf ungewöhnliche Weise verbunden und | |
versucht, die alte Kultur am Leben zu erhalten. | |
## Rohe Bilder | |
Sträuße gelber Chrysanthemen stapeln sich auf der Kirchentreppe von St. | |
Tomás in Chichicastenango. Glocken läuten, der Himmel ist grau vom | |
Kopalrauch. Zum Klang von Tröten und Flöten schreitet ein Zug von Männern | |
und Frauen in abgewetzten Arbeitsklamotten wie in Feiertagstracht die | |
Stufen herunter. | |
Die Mitglieder der Laienbruderschaft Jesus Nazareno tragen knielange Hosen, | |
schwarze Jacken und bunte Kopftücher mit langen Fransen. Sie gehen schwer | |
gebeugt unter der Last des Heiligenbildes mit dem silbernen Kreuz. Für ein | |
paar Minuten vibriert die Luft vor Stolz, Hingabe und heiligem Eifer. Denn | |
es ist ihr Umzug, ihr großer Tag, der Dia de Sacramento. Und die Kameras | |
klicken. | |
Ein paar Tage später sehen wir zufällig „Ixcanul“, einen Film des | |
guatemaltekischen Regisseurs Jayro Bustamente, „Träume am Fuß des Vulkans�… | |
Die Geschichte der 17-jährigen Kaffeepflückerin Maria, die schwanger wird | |
und ihr Kind an eine anonyme Adoptionsvermittlung verliert, r[3][ückt | |
einiges an bunter Folklore zurecht] und wirkt wie ein Schlag ins Gesicht | |
einer Mayavermarktung, die deren Dasein gern auf Trachten, Tortillas und | |
Tänze reduziert. | |
Roh ist der Sex, stressig die Arbeit in „dem Land, das nach Vulkan und | |
Kaffee riecht“, freudlos die Sauferei. Am Ende bleibt als Halt nur die | |
unerschütterliche Liebe der Mutter. Ein weiteres Mal erweist sich die | |
traditionelle Gemeinschaft als das Netz, in dem der Einzelne gefangen | |
bleibt – das ihn aber auch auffängt, wenn er Glück hat. | |
Genauso gehe es zu in den Dörfern, sagen die beiden Mayafrauen, die im | |
grauen Businesskostüm gekommen sind. Genau dieses wüste, ausgelieferte | |
Leben gebe es, und auch die Opfergaben an den zerstörenden und zugleich | |
Fruchtbarkeit bringenden Vulkan. Diese rohen Bilder des Films nehmen wir | |
mit. Wir entdecken sie wieder in niedergeschlagenen Gesichtern, in | |
schmutzigen Füßen und in den Betrunkenen, die vor Märkten in Ecken liegen | |
und die niemand beachtet oder bedauert. Wie ein Gegengift wirken sie, wenn | |
die Mayawelt wieder einmal nur als ein lächelnder Trachtenverein | |
daherkommt, allzu leicht konsumierbar. | |
3 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
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