# taz.de -- 150 Jahre Metropolitan Museum of Art: Die Wurmlochtheorie in der Mo… | |
> Zum Jubiläum zeigt das New Yorker Met die Ausstellung „About Time: | |
> Fashion & Duration“. Anzusehen im Costume Institute und online. | |
Bild: Einblick in die Ausstellung „About Time: Fashion and Duration“ im Met… | |
1927 kreierte [1][Coco Chanel] das berühmte [2][„Kleine Schwarze“], das es | |
längst in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft hat, weshalb fast jede | |
oder jeder gleich versteht, worauf sich der weiße Schriftzug bezieht, den | |
der amerikanische Designer Virgil Abloh rund 100 Jahre später auf ein | |
schlichtes, schwarzes A-Linien-Kleid drucken ließ: „Little Black Dress“, | |
Anführungszeichen inklusive. | |
Querverbindungen wie diese präsentiert seit Herbst „About Time: Fashion & | |
Duration“, eine Ausstellung des zum [3][New Yorker Metropolitan Museum of | |
Art] gehörenden The Costume Institute, das einer breiteren Öffentlichkeit | |
durch seine alljährliche Mode-Gala bekannt wurde, zu denen die prominenten | |
Gäste gern mit extravaganten Outfits aufwarten. Rund 33.000 Kleidungsstücke | |
umfasst die hauseigene Sammlung, 120 Exponate wurden für die Schau | |
ausgewählt. | |
Den Zeitgeistern nachzuspüren, die hier so vielgestaltig durch die | |
Kreationen und Jahrzehnte huschen, das funktioniert dank umfangreicher | |
Online-Dokumentation, Ausstellungskatalog sowie Videorundgang mit Kurator | |
Andrew Bolton auch aus der Ferne ganz passabel (trotz einiger Abzüge, denn | |
Bilder und Erläuterungen sind im Katalog getrennt voneinander präsentiert). | |
Nun klingt „Duration“ auf den ersten Blick wie der denkbar unpassendste | |
Begriff für eine Ausstellung über Mode, haben wir doch gelernt, dass die | |
Unbeständigkeit ihre einzig beständige oder dauerhafte Eigenschaft | |
darstellt („Fashion is change“, schrieb die Modehistorikerin Elizabeth | |
Wilson einmal). Doch bezieht sich der Titel natürlich vor allem auf gerade | |
diese Kontinuität des Wechsels, die das Wesen der Mode in den letzten | |
anderthalb Jahrhunderten durchzieht. | |
## Von der Gründung des Museums 1870 bis 2020 | |
Vorgeführt werden geradezu Gegenentwürfe zu ästhetischer Zeitlosigkeit: | |
Jedes ausgewählte Stück kennzeichnet einen hochspezifischen | |
Entstehungszeitpunkt, eine präzise Markierung im Raum-Zeit-Kontinuum, an | |
der sie sich aus sehr konkreten Umständen herauskristallisiert hat. Die so | |
abgedeckte Zeitleiste umfasst 150 Jahre, von der Gründung des Museums im | |
Jahr 1870 bis zum Ausstellungsbeginn 2020. | |
Alle präsentierten Stücke sind ausschließlich schwarz, manchmal weiß oder | |
beides. Diese Auswahl enthebt die Stücke einer allzu starken Verhaftung in | |
einer bestimmten Epoche oder einem konkreten Stil und ermöglicht schnelle | |
Vergleichsziehungen in Schnitt, Silhouette und Gestaltungsidee. 60 Minuten | |
Fashion repräsentiert der zwei Uhren nachempfundene Ausstellungsparcours, | |
je ein Mode-Duo pro Minute. | |
Nach diesem Prinzip entstehen Paarungen wie die aus einem sogenannten | |
Walking Dress (1885), dessen Übermaß an drapiertem, schwerem Samt seiner | |
Trägerin das namentliche Gehen sicherlich erschwert haben dürfte, mit Yohji | |
Yamamotos Mantelkleid von 1986/1987. | |
Ersteres war eine modische Antwort auf die Krise der französischen | |
Textilindustrie, die durch die materialintensive Silhouette steigende | |
Nachfrage verzeichnen sollte, Letzteres eine Hommage des Designers, mit | |
einer Turnüre aus üppigen Lagen sehr viel leichteren Tülls. | |
## Originale vs. Neuinterpretationen | |
An einer anderen Stelle lassen sich Kreationen wie das Minikleid (1968/69) | |
von Rudi Gernreich wiederentdecken, um das der österreichisch-amerikanische | |
Modevisionär rundherum einen Reißverschluss als modernes Ornament wickelte | |
– ihm zur Seite gestellt ein bodenlanges Jerseykleid von Azzedine Alaïa, | |
der spiralförmige Reißverschlüsse nur zwei Jahrzehnte später zu einem | |
seiner Markenzeichen werden ließ. | |
Während man so historisch verankerte Originale und Neuinterpretationen | |
vergleicht, landet man schnell bei grundsätzlichen Überlegungen, die | |
stärker noch als die hier ausgestellten Kostbarkeiten auf Alltagskleidung | |
und ihre modischen Durchformungen zutreffen mögen. | |
Wie stark die Wirkung der Mode an ihre Zeit geknüpft ist, lässt sich | |
schließlich am besten erfahren, wenn man sich nicht an ihre Zyklen hält: | |
„Laugh, and the past does not laugh with us; and that, it seems, how we | |
know it is past“, zeichnet Theodore Martin im Katalog einen fast schon | |
ontologischen Modebeweis von Baudelaire nach. | |
Es gilt eben, dass etwa eine knappe Generation liegen muss zwischen | |
vestimentärem Überdruss und Wiederentdeckung, bis die ehemals abstoßenden, | |
lächerlich geglaubten Formen, Farben und Sentiments wieder mit ihrer | |
ursprünglichen Begehrlichkeit aufgeladen werden können. Manchmal sogar mehr | |
als das. | |
## Nostalgia Marketing | |
Denn auf die verführerische Kraft einer zeitlichen Dringlichkeit setzen ja | |
inzwischen ganze Branchen – Nostalgia Marketing lautet die Losung. Man | |
denke nur an das Luxuslabel Gucci, wo schon eine ganze Weile lang das | |
hemmungslos retrograde Schwelgen zelebriert wird. Aktuell schauen viele | |
Stücke und die zugehörigen Kampagnen in etwa so aus, wie man sich in den | |
90ern eine glamourös-gemütliche Büroparty in den 70er Jahren vorstellte. | |
Nur: besser. „I have nostalgia for things I probably have never known“, | |
ließ der Künstler David Kramer im Frühjahr 2020 auf seine Gastkreationen | |
für das Modelabel Celine drucken, und womöglich ist auch die hier halb | |
ironisch aufgegriffene Rückwärtssentimentalität wiederum gar nichts so | |
Neues. | |
Der Ausstellungskatalog gibt Lektürevorschläge zum Verhältnis von Mode | |
respektive Ästhetik und Zeitempfinden an die Hand – Michael Cunninghams | |
Kurzgeschichte „Out of Time“ ist abgedruckt und in Auszügen online | |
nachlesbar, zum Weiterlesen werden Texte von [4][Toni Morrison] und Theresa | |
Hak Kyung Cha empfohlen. | |
Oder von Virginia Woolf, die bekanntlich immer wieder davon zu erzählen | |
wusste, wie lineares Zeitverständnis – historisch eng an die Etablierung | |
der hier aufgegriffenen Uhr geknüpft – und Zeitempfinden mitnichten | |
identisch sind. | |
## Zeitreise durch die Modegeschichte | |
Während sich die Zeitleiste in der Schau fortwährend unserer Jetztzeit | |
annähert, drehen sich die Verhältnisse in einem zweiten Uhrwerk um: Jetzt | |
stehen die jüngeren Entwürfe in vorderer Reihe. Dem avantgardistischen | |
Kleid der niederländischen Designerin Iris van Herpen aus schwarzem, | |
lackglänzenden PVC (2012/2013) wird so ein Ballkleid aus weißer Seide von | |
Charles James aus 1951 an die Seite gestellt. Und plötzlich könnte der | |
Rückgriff auch einen Vorgriff oder gar eine Gleichzeitigkeit kennzeichnen. | |
So arbeiteten beide Modeschöpfer mit Halbmondformen und ausladenden | |
Volumina, die ihren Kreationen eine organische Anmutung verleihen; der | |
ausschlaggebende Unterschied scheint nun vor allem in den technischen | |
Möglichkeiten zu liegen. | |
Während James’ Kleider ihre extravaganten Silhouetten tollkühnen Raffungen | |
verdanken, konnte sich van Herpen die Möglichkeiten des 3-D-Drucks zunutze | |
machen. Parallel hierzu zersplittert die Ausstellungsarchitektur im zweiten | |
Teil durch unzählige Spiegelungen, die ein Kaleidoskop aus oben, unten, vor | |
und zurück kreieren. | |
Ende Dezember erschien ein Artikel auf der Seite des National Geographic, | |
der über die Möglichkeiten von Zeitreisen informierte (Tenor: theoretisch | |
denkbar, praktisch schwieriger). „About Time: Fashion and Duration“ liefert | |
schon mal die modische Anschauung zur Wurmlochtheorie, in der Vergangenheit | |
und Zukunft anhand ganz spezifischer Ausformungen immer schon in unsere | |
jeweilige Gegenwart grätschten. Und, das sowieso, aus dieser wieder vor- | |
und zurückweisen. | |
4 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Ausstellung-ueber-Coco-Chanel/!5728843 | |
[2] /Schwarz-als-Modefarbe/!5626655 | |
[3] /Soziale-Ungleichheit-im-Kulturbereich/!5720802 | |
[4] /Nachruf-auf-Autorin-Toni-Morrison/!5616527 | |
## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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