| # taz.de -- Schwarz als Modefarbe: Die große Beunruhigung | |
| > Man muss vorsichtig sein mit der Anrufung der Frau in Schwarz: Womöglich | |
| > schätzt man sie falsch ein. Wer ist sie? | |
| Bild: Ikonisch in schwarz: Coco Chanel im Jahr 1932 | |
| Ob es nicht zu sehr nach Beerdigung und Trauer aussehen würde, hatten sich | |
| einige Beobachter gefragt, als weibliche Hollywoodstars im vergangenen Jahr | |
| erklärten, in schwarzen Kleidern bei den Verleihungen der [1][Golden | |
| Globes] erscheinen zu wollen, um so gegen sexuelle Gewalt und ungleiche | |
| Bezahlung zu demonstrieren. [2][Die New York Times fand die Ängste im | |
| Nachhinein] völlig unbegründet. Sie habe, schrieb Vanessa Friedman | |
| angemessen ironisch, selten ein solch elegantes Red-Carpet-Event erlebt. | |
| Warum fehlte die Kraft? Warum wirkte der Auftritt in politischer Hinsicht | |
| unangenehm naiv? Es könnte daran liegen, dass die Schauspielerinnen nicht | |
| daran gedacht haben, aus welchem Skript sie zitierten. Dass sie Anna | |
| Karenina vergessen haben, die Frau aus bester Gesellschaft, die in | |
| schwarzem Kleid einen Ball besucht und alle Blicke auf sich zieht. Das | |
| Urteil des Erzählers ist da bereits über sie verhängt: „Die Rache ist mein, | |
| ich will vergelten.“ | |
| Tolstoi gegen Meryl Streep. Man muss vorsichtig sein mit der Anrufung der | |
| Frau in Schwarz; womöglich schätzt man sie falsch ein. Wer ist sie? Bei | |
| näherer Betrachtung wird es schwierig. Oft hat sie zum Beispiel selbst die | |
| Rolle der Rächerin gespielt. Als Geist und Untote, als „Woman in Black“ | |
| spukt sie durch die Welt des Schauermärchens, als Projektion, der man sich | |
| mit Angstlust hingegeben kann. Ausgerechnet diese Übertragung kehrt | |
| übrigens in den aktuellen Trendbeschreibungen wieder. | |
| „Dominatix“, „Magie Noir“ und „Dark Arts“. Die Überschriften aus d… | |
| britischen und französischen Vogue könnten seltsam anmuten. Die Mode ist | |
| momentan doch bunt! Sie unterhält Kleider im Blümchendekor und | |
| Businessanzüge in „Juicy Fruit“ und Neon. Es gibt Fransen und Pailletten. | |
| Den Mustermix und selbstverständlich den unvermeidlichen Animalprint. Das | |
| Charisma der großen Katze, das Leuchten der Sonne. Das wären die | |
| Stichwörter, wenn sich nicht der Eindruck verdichten würde, dass dieser | |
| Optimismus etwas Wahnsinniges hat und ein Besuch der Frau in Schwarz | |
| eventuell helfen könnte, den Trend der Gegenwart genauer zu lesen. | |
| ## Zufrieden mit der Rolle der Zuschauerin | |
| Die Adresse ist bekannt. Die Frau in Schwarz ist der ständige Gast der | |
| Mode, ihre Nemesis. Und sie ist eine Provokation, über die man sich lange | |
| Zeit am ehesten mit dem Gedanken beruhigen konnte, dass die Frau in Schwarz | |
| eine Frau in Trauer ist. Zurückhaltend und zufrieden mit der Rolle der | |
| Zuschauerin. | |
| So gehört sie als Allgemeinplatz ins Ensemble eines europäischen | |
| Dress-Codes, den auch Lady Mary Crawley (Michelle Dockery) versteht, wenn | |
| sie, nachdem ihr Verlobter in Folge eins mit der „Titanic“ untergegangen | |
| ist, keine Lust hat, sich in Schwarz zu kleiden. Die Farbe der Trauer | |
| erscheint ihr unvorteilhaft. Sie sei zu jung dafür, der Look ein Hindernis | |
| auf Partys. Ihr Vater ist empört, und die Tochter fügt sich. Eine Zeit lang | |
| läuft sie in schwarzem Taft und dem eigenen Verständnis nach am Rand durch | |
| ihre privilegierte Existenz. | |
| Diese Spur der Konvention ist eine der einflussreichsten, auf der man der | |
| Frau in Schwarz begegnen kann. Wenn auch nicht die einzige. Die | |
| Beunruhigung ist zu mächtig, um das Phantasma still zu stellen. Daher das | |
| Geisterhafte, daher der Spuk der Frau in Schwarz, den die „Men in Black“ | |
| nicht mit ihr teilen. | |
| ## Die Frau bleibt im Schatten | |
| In der gleichnamigen Untersuchung des englischen Literaturprofessors John | |
| Harvey beispielsweise gehören die Männer in schwarzen Anzügen ins Zentrum | |
| der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Warum in einer | |
| Epoche des ungeheuren Reichtums die meisten Männer ausgesehen haben, als | |
| würden sie auf eine Beerdigung gehen, fragt Harvey mit Ruskin, Dickens und | |
| Baudelaire und führt vom Eindruck der Trauer zu einem Gefühl romantischer | |
| Verbundenheit und letztlich zu einem als männlich verstandenen Diskurs der | |
| Rationalität. Für den Dandy Beau Brummell etwa sei der schwarze Anzug ein | |
| Zeichen des Selbstrespekts gewesen, der Ausdruck einer Eleganz jenseits der | |
| Klassen, notiert Harvey. Die Frau in Schwarz bleibt für ihn völlig im | |
| Schatten. | |
| Eingeschlossen in das Dekor definierter Gesellschafts- und | |
| Geschlechterrollen, ist sie die in ihrem Erleben Isolierte. Sie ist die | |
| junge Hauslehrerin auf einem Gemälde Richard Redgraves („The Poor Teacher“, | |
| 1844), die stumm und verzweifelt einen Brief in den Händen hält, während | |
| sich im Hintergrund die weiß gekleideten Töchter der Herrschaft im | |
| Sonnenlicht vergnügen. Oder die junge Witwe bei P. A. Fedotow („The Little | |
| Widow“, 1851), die ebenfalls wie betäubt erscheint. Auf dem Boden steht | |
| silberner Tafelschmuck, offensichtlich für den Verkauf und den Abtrag von | |
| Schulden bestimmt. Das schwarze Kleid der jungen Frau ist prächtig, ihr | |
| Gesicht blass. | |
| Sie lächelt nicht. Sie hält ihren Kopf nicht schräg. Streicht sich nicht | |
| kokett das Haar aus dem Nacken. Die Frau in Schwarz kann zu einer Figur der | |
| Sehnsucht werden. Vorausgesetzt, sie verlässt ihr Zimmer und ihr | |
| Totenreich. Nach draußen nimmt sie ihre Erfahrung mit, was ihr eine gewisse | |
| Kompromisslosigkeit verleiht. Sie kann Ally (Lady Gaga) heißen und in einem | |
| schwarzen Negligé „La vie en rose“ in einem schwulen Nightclub singen und | |
| die Idee von Tod und Strafe sehr weit hinter sich lassen. Oder sie kann, | |
| wie Janelle Monàe, einen knöchellangen Smoking tragen und die „Tarnung“ | |
| („Black an white, yeah that’s always been my camo“) in Eleganz und | |
| Gedankenschärfe verwandeln. Ihre Farben: Schwarz und Weiß und Pink. Nicht | |
| die Farben Schneewittchens, welch ein Glück! | |
| ## Fruchtbarkeit und Tod | |
| Farben sind Teil von Konstellationen, schreibt der französische Historiker | |
| und Farbexperte Michel Pastoureau. Sie sind mehrdeutig und ambivalent. Was | |
| für die Farbe Schwarz die theologisch radikalste Gegenüberstellung mit Weiß | |
| und vor allem Rot meint. Schwarz, das ist die antike Farbe der | |
| Fruchtbarkeit, die mittelalterliche Farbe des Todes, die Farbe der | |
| Abwesenheit, auch die der Abwesenheit von Sünde. | |
| Eine Farbe der weltlichen Mode ist Schwarz zuerst im 14. Jahrhundert in den | |
| Städten Norditaliens, wo reiche Bürger gegen das Vorrecht des Adels, sich | |
| in bestimmte Farben zu kleiden, auf teuer gefärbte, schwarze Garderoben | |
| setzen. Eine noble Farbe war Schwarz dann im 15. Jahrhundert am Hofe | |
| Burgunds und in Spanien. Die Moralisten, die Reformatoren sahen in Schwarz | |
| die Farbe der Mäßigung, und nachdem im Farbkreis Isaac Newtons für Schwarz | |
| keinen Platz mehr war, brachte die Malerei des 19. Jahrhunderts, brachte | |
| die PFotographie das Schwarz als moderne Farbe zurück. | |
| Als hätte die Frau in Schwarz sich ihr Kleid nicht selbst ausgesucht. So | |
| liest sich das auch in dieser Herleitung. Sie muss eben warten, die Frau in | |
| Schwarz, bis ihr Coco Chanel eine Uniform schenkt, die im Glossar der Mode | |
| mit fast lächerlicher Folgerichtigkeit – „Little Black Dress“ – die | |
| Kleinheit im Namen führt. Es ist ein unkompliziertes, in seiner Einfachheit | |
| manchmal äußerst raffiniertes Kleid, und im Vergleich zu den Trauernden und | |
| Schönen des 19. Jahrhunderts ist die Frau darin eine Ikone der | |
| Unabhängigkeit. Sie sitzt nicht zu Hause herum; allein dafür muss man diese | |
| Pragmatikerin lieben. Ihre Alltagstipps allerdings können einem auf die | |
| Nerven gehen. Sei smart. Sei sexy. Pass dich an. | |
| ## Kühle Priesterin des Luxus | |
| Die Frau im „Little Black Dress“ ist nicht das bewunderte Biest in Dior, | |
| keine romantische Streunerin in einem matt-schwarzen Mantel von Ann | |
| Demeulenmeester, und einen am Trauma arbeitenden Modeschöpfer wie Alexander | |
| McQueen haben die leistungsbereiten Prämissen dieses Kleides sowieso nie | |
| interessiert. | |
| Welche Gefühle sind zugelassen? Welche Abwehrstrategien sind akut? In | |
| polemischen Zeiten wie diesen stellt sich die Frage nach der Frau in | |
| Schwarz besonders dringend. Wer würde sich auf der heiklen Grenze zwischen | |
| Ab- und Anwesenheit besser auskennen als sie? Sich die Ernsthaftigkeit der | |
| Situation eingestehen, über Ungesagtes kritisch verhandeln oder umgekehrt: | |
| sich verschließen. Vielleicht geht es darum. | |
| Eine kühle Priesterin des Luxus ist sie zur Stunde, eine Königstochter in | |
| bodenlangem, fließendem und bei Valentino mit Pfauenfedern verzierten | |
| Kaschmircape. Ihr Schwarz ist glänzend (Gucci, Chloé) und mit Pailletten | |
| (Balmain, Celine, Prada, Dolce & Gabbana) und/oder Spitze (Alexander | |
| McQueen) besetzt. Man müsste blind sein, um die Chiffren höfischer Macht | |
| nicht zu erkennen, das Spiel mit der Kostbarkeit, das versucht, sich vor | |
| der eigenen Angst zu drücken. Dazu würden jedenfalls – gern zu Schwarz | |
| kombiniert – die Blumenmuster passen, die auf Unschuld plädieren. Das | |
| schreiende Neon und Anzüge in Zinnoberrot, die sich siegessicher jedem | |
| Anflug von Zweifel verweigern. Wie es aussieht, spitzt sich die Lage zu. | |
| Die Frau in Schwarz gibt es zu verstehen. Die Geister scheiden sich. | |
| 1 Oct 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Golden-Globes/!t5024361 | |
| [2] https://www.nytimes.com/2019/01/07/fashion/golden-globes-red-carpet-review.… | |
| ## AUTOREN | |
| Elisabeth Wagner | |
| ## TAGS | |
| Modegeschichte | |
| Golden Globes | |
| Tolstoi | |
| Schwarz | |
| Mode | |
| Literatur | |
| Mode | |
| Mode | |
| Kosmetik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Zu lange Ärmel, zu lange Hosenbeine: Ein Trend will Abstand | |
| Laufen, schweben, stehen bleiben. Ein neuer Trend zeigt: In Zeiten tiefer | |
| Ratlosigkeit ist sich auch die Mode nicht sicher, wie es weitergehen kann. | |
| Neue Erzählungen von Lydia Davis: Erotische Kassenstürze | |
| Die Autorin Lydia Davis muss man einfach verehren. In ihrem nun übersetzten | |
| Erzählungsband „Es ist, wie's ist“ klickt es oft. | |
| Buch über Mode und Zeit: Eigenartig veraltet | |
| Was macht den berühmten Chanel-Mythos aus? Und was bedeutet die Beschwörung | |
| des Klassischen? Ein Buch dokumentiert eine Reise hinter die Kulissen. | |
| Modeausstellungen in London: Tod der Debütantin | |
| Mary Quant steht für die Swinging Sixties, Christian Dior für Haute | |
| Couture. Zwei Ausstellungen zeigen, was Mode mit Wünschen und Ängsten einer | |
| Zeit zu tun hat. | |
| Ausstellung über Helena Rubinstein: Schönheit ist Macht | |
| Eine Frau mit dem Willen zur Selbsterfindung: Das Pariser Musée d’art et | |
| d’histoire du judaisme widmet sich Unternehmerin Helena Rubinstein. |