| # taz.de -- Zu lange Ärmel, zu lange Hosenbeine: Ein Trend will Abstand | |
| > Laufen, schweben, stehen bleiben. Ein neuer Trend zeigt: In Zeiten tiefer | |
| > Ratlosigkeit ist sich auch die Mode nicht sicher, wie es weitergehen | |
| > kann. | |
| Bild: Bedeutet was: Ein Model präsentiert zu lange Hosen aus Stella McCartneys… | |
| Die Dinge anfassen. Auf dem schmutzigen Boden der Tatsachen laufen. Es ist | |
| ziemlich offensichtlich, dass der aktuelle Trend der überlangen Ärmel und | |
| bodenschleifenden Hosen viel über den Kontakt zur Welt und vor allem über | |
| dessen Vermeidung erzählt. Etwas will heraus aus der Gegenwart, will die | |
| eigenen Hände und Füße nicht sehen, will Abstand und träumen, die eigene | |
| Hose könnte eine königliche Schleppe sein. | |
| Unangreifbar, ein bisschen patzig und verwöhnt. So schwebt dieser Look | |
| durch die Gegenwart. Mit dem Material wird nicht gegeizt. Dazu die | |
| Hauptrollen, die prominent besetzt sind: Hände und Füße, die Körperteile | |
| des Handelns, der großen und kleinen Schritte, spielen mit dem eigenen | |
| Verschwinden. Die Maschinerie der Deutung kann gar nicht anders, als | |
| anzuspringen. Aber das gehört dazu, denn alles an diesem Look will – | |
| vielleicht sogar lieber als zu gefallen – gelesen werden. | |
| ## Die Norm verliert an Macht | |
| Da wäre die Anschmiegsamkeit. Die auf Fernwirkung zielende Silhouette. Da | |
| ist der angenehm selbstvergewissernde tiefe Schwerpunkt, den die Stofffülle | |
| an Handgelenken und Füßen setzt. Wie ein Schmuckstück kann sich das | |
| anfühlen, wie eine Aufforderung zum langsamen Tanz oder der Beginn einer | |
| Umarmung. Justin Bieber muss das nicht erst absegnen. Und auch Kendall | |
| Jenner nicht, die alles immer zuerst weiß und am besten kann, und die in | |
| einem ihre Hände restlos ausblendenden Hemd, bereits 2019 maximale | |
| Trendstärke signalisierte. | |
| Es hängt mit der Innenseite des Stoffes zusammen, auf die sich vieles | |
| schreiben lässt, was ansonsten dem Weichzeichner zum Opfer fällt: Anflüge | |
| von Traurigkeit, kleine Kränkungen oder Fragen an das eigene Körperbild. | |
| Die Erinnerung daran, die Ärmel der Pullis nach jeder Wäsche lang gezogen | |
| zu haben, sodass sie zumindest für kurze Zeit „lang genug“ sein würden. In | |
| einem Pullover der aktuellen Mode erübrigt sich das. Die Norm des | |
| Nicht-zu-groß-und-nicht-zu-klein verliert an Macht und wird mit Oversize | |
| überschrieben. | |
| ## Zwischenraum, radikal | |
| Die Idee ist vermutlich so alt wie die Mode selbst. Oversize, das ist die | |
| Größe über der Größe, niemals um Antwort verlegen. Sie kommt von der | |
| Überbietung her, das heißt, egal, wen sie trifft, ist sie dem Gleichstand | |
| um mindestens einen Schritt voraus. Eine chronische Siegerin also, eine | |
| Königin der großen Leinwand, unter deren Dominanz der Charme, das | |
| Je-ne-sais-quoi allerdings manchmal leiden. Ein anderer Begriff ist, nicht | |
| nur für diesen Trend, produktiver. | |
| Gemeint ist die Position des Zwischenraumes, die radikal desinteressiert an | |
| jeder Vereinnahmung ist. In der Mode von Rei Kawakubo oder Yohji Yamamoto | |
| wurde sie Anfang der 1980er Jahre epochemachend formuliert, sehr zur | |
| Verblüffung des westlichen Publikums. Unverschämtheiten wie „Hiroshima | |
| Chic“ und „post atomic“ waren zu lesen. Die Raffinesse jener Mode, ihre | |
| verletzte Schönheit und Augenblicksverliebtheit waren zunächst völlig | |
| unverständlich. | |
| Sinnlich und zugleich ein Raum für Gedanken: Der Zwischenraum lässt Platz | |
| für das Nichtabgeschlossene, für die Bewegung des Körpers und – wenn man so | |
| will – die Geheimnisse des Tagebuchs, die im Korsett der Repräsentation | |
| nicht einmal laut zu atmen wagen. | |
| ## Das Spiel der Verführung | |
| Die belgische Virtuosin Ann Demeulemeester, in deren Mode Extralängen | |
| ständig vorkommen, kennt ihn gut, den Zwischenraum. Ihre lang | |
| ausgreifenden, poesiebegabten Arme spielen darin selbstvergessen das Spiel | |
| der Verführung. Mit den heftigen Umarmungen des Oversize hat das nichts zu | |
| tun. Auch bei [1][Martin Margiela] nicht, der in der Freiheit des | |
| Zwischenraums ganze Szenen arrangiert. | |
| Dazu ein Beispiel: ein berühmtes Jackett aus der Herbst- und | |
| Winterkollektion 2005/2006. Es tritt als Kapuzenjacke in Erscheinung, als | |
| Dekonstruktion eines Klassikers der Herrenmode also, wobei das viel zu | |
| theoretisch klingt. Eingefangen ist nämlich ein Augenblick, eine Situation. | |
| Man kann sich vorstellen, jemand wird von einem Gewitterschauer überrascht. | |
| Er hat keinen Schirm dabei und zieht sich, während er im Regen seinem Ziel | |
| entgegenläuft, schützend das Jackett über den Kopf. | |
| ## Klar, ich sehe dich | |
| Diese Margiela-Jacke ist übrigens im vergangenen Winter als Zitat wieder | |
| aufgetaucht. Beim Label Coperni wurde sie gleich mehrfach zitiert, und zwar | |
| in maximal geglätteter Gestalt. Die Jacke ist jetzt oversize. Vergessen ist | |
| die Zartheit des Augenblicks, die huschende Geste, die sich bei Margiela in | |
| den Falten des Stoffes eingelassen hatte. Statt des Regenschauers ein | |
| straffer Imperativ: „Sieh mich an!“ | |
| „Klar, ich sehe dich. Wie könnte ich nicht.“ Die Antwort gibt sich wie von | |
| selbst. Doch wie immer, wenn die Aufmerksamkeitsökonomie einen anschreit | |
| und verlangt, dass man nirgendwo sonst hinschauen soll, bleibt ein | |
| trauriges Gefühl. Was wird aus der eher leisen Frage, ob die überbordenden | |
| Säume abseits der großen Leinwand nicht auch mit der romantischen Sehnsucht | |
| zu tun haben, sich selbst zu entkommen? | |
| ## Unwiderstehlich lässig sei der Trend | |
| Interessanterweise tun sich auch die Modejournale halbwegs schwer. | |
| Unwiderstehlich lässig sei dieser Trend, obwohl oder vielleicht auch weil | |
| jeder Schritt die Hose immer nur schmutziger und kaputter macht. Gedankt | |
| wird es jedenfalls mit endlos langen Beinen. So weit, so vertraut. Dann | |
| aber kommt eine Stelle, die schon darum eine gewisse Irritation verrät, | |
| weil sie keinerlei ästhetischen Vorteil verspricht. Superlange Ärmel können | |
| vor unhygienischen Türklinken schützen, heißt es vielmehr. | |
| Klingt praktisch, harmlos aber ist das Türklinken-Argument nicht. Alte, | |
| ständische Kleidercodes und ihre Privilegien spiegeln sich wider. Derbe | |
| Arbeit braucht Arme und Hände. Weshalb die mittelalterliche Houppelande | |
| umso vornehmer galt, je unauffindbarer ihre tütenförmigen Ärmel die Hände | |
| für jede Zumutung der Wirklichkeit machten. | |
| ## Lust an der Zuspitzung | |
| Unruhe ist spürbar, Eskapismus und Neugier. Abseits des Mainstreams drückt | |
| sich das als Lust an der Zuspitzung aus. So zählt das Trendmagazin View | |
| „extreme Körperproportionen“ zu den wichtigsten Auffälligkeiten der | |
| aktuellen Mode und zeigte in seiner Projektion für den Winter 23/24 eine | |
| Arbeit der Graduiertenklasse 2022 des London College of Fashion: einen | |
| violetten, asymmetrischen Abendmantel, dessen rechte Schulter dramatisch | |
| erhöht ist und dessen extravagante Armlänge weit über die Hand bis auf den | |
| Boden reicht. | |
| Wieder winkt die mittelalterliche Houppelande. Wie man überhaupt sagen | |
| muss, dass die sonderbaren, fantastischen Formen der Vergangenheit für das | |
| Nachdenken über Gegenwart und Zukunft gerade ausgesprochen nützlich sind. | |
| ## Der emotionale Aufruhr | |
| Zum Schluss deshalb noch ein Beispiel, eine Strick-Kombination des Londoner | |
| Labels Jordanluca: Besonders toll ist die Hose, die Anleihen bei einer | |
| Nagabakama, einer Zeremonienhose der Samurai und des traditionellen | |
| japanischen Theaters, macht. Sie ist so lang, dass Gehen im Grunde | |
| unmöglich ist. Ein bisschen Schlurfen und Schreiten, mehr ist nicht drin. | |
| Auf Partys könnte man gut so herumstehen. | |
| Das jedenfalls sagt der eskapistische Teil der Deutung. Der andere, | |
| neugierige Teil hat mit einem dramatischen Stillstand zu tun. Die Mode | |
| leiht sich das Paradoxon vom Kabuki-Theater aus. Die Szene verharrt, bleibt | |
| stehen, wenn der emotionale Aufruhr am intensivsten ist. Ein Gefühl kommt | |
| an sein eigenes Ende. Auf der Bühne wenigstens ist das ein Moment der | |
| Erkenntnis. | |
| 20 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Elisabeth Wagner | |
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