# taz.de -- Ausstellung über Coco Chanel: Goldader der modernen Mode | |
> Erstmals ist eine zusammenhängende Präsentation von Coco Chanels Kleidern | |
> zu sehen. Die Ausstellung dürfte ein Publikumsmagnet werden. | |
Bild: Chanel-Foto in ihrer Suite im Ritz. Das Original-Mobiliar des Hotels wurd… | |
Man weiß alles über sie: über ihre Wohnungen, ihre Gewohnheiten, ihre | |
Launen, man weiß, dass ein Diener am Morgen das Treppenhaus der 31, rue | |
Cambon, wo sie zeitlebens arbeitete und wohnte (geschlafen wurde gegenüber | |
in einer kleinen Suite des Hotel Ritz), mit dem Duft von Chanel No. 5 | |
einsprühen musste, bevor sie kam. | |
Man kennt ihre Liebhaber, [1][ihr Geschäftsgebaren], ihre Versuche, in die | |
Weltgeschichte einzugreifen. Sie gehört zu den Großen der Geschichte | |
Frankreichs im 20. Jahrhundert – de Gaulle, Picasso, Chanel. Nur die Sachen | |
selbst, denen sie ihr Leben widmete, die Kleider der Coco Chanel waren | |
bislang nur vereinzelt zu sehen. Denn Chanels Werk ist verstreut in der | |
ganzen Welt, in Museen und Privatsammlungen. | |
Eine zusammenhängende Präsentation ihrer Kleider und Accessoires, wie sie | |
für Yves Saint Laurent die Fondation Pierre Bergé, bei Balenciaga sein | |
Museum im Baskenland, für andere Designer große Retrospektiven zeigen, kam | |
nie zustande. Nie konnte man sich sämtliche Entwicklungsphasen der | |
Desigerin Coco Chanel, dieser Goldader der modernen Mode, von den Anfängen | |
vor dem Ersten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre vor Augen führen. | |
Nun macht das Pariser Museum Palais Galliera, ein prächtiges Palais, das | |
eine italienische Herzogin namens Galliera Ende des 19. Jahrhunderts für | |
ihre Kunstsammlung bauen ließ und das seit 1977 das Modemuseum der Stadt | |
Paris beherbergt, in einer großen Schau Chanels Werk insgesamt zum ersten | |
Mal zugänglich. Die Ausstellung „Gabriel Chanel. Manifeste de mode“ dürfte | |
ein Publikumsmagnet werden, sofern Corona es zulässt. | |
Natürlich muss die Ausstellung, bevor es zur Sache geht, mythisch beginnen. | |
Daher der zweiminütige Stummfilm zu Beginn: Paris, Champs-Élysées, ein | |
kleines Mädchen, einfach gekleidet, steht an der Ampel, da kommt eine Dame | |
mit Hut, in einem leichten Seidenkleid auf es zu und beugt sich zu ihm | |
runter – Hut und Kleid von Chanel, das versteht sich von selbst. | |
## Chanel begann als Modistin | |
Chanel begann als Modistin von Hüten, dann entstanden die ersten Kleider, | |
für die Krankenschwestern von Deauville während des Ersten Weltkriegs, der | |
Schnitt orientiert an deren Arbeitskleidung, und schließlich die Kleider, | |
die wirklich einen Anfang setzen: Strandmode aus Biarritz, jenem Ferienort | |
an der baskischen Atlantikküste. Chanel macht Mode aus Paris für reiche | |
Käuferinnen der spanisch-baskischen Aristokratie und – aus Paris. | |
Im Zentrum steht jenes Kleid, in dem schon die ganze Programmatik Chanels, | |
ihr „Manifest“ sichtbar wird, das man in Hunderten von Kreationen über ein | |
halbes Jahrhundert hin wiederfinden kann: ein Strandkleid in naturweißem | |
Jersey, gebunden mit einem Gürtel, getragen wie ein Cardigan, hinten ein | |
Kragen,wie ihn Matrosenanzüge haben – La Marinière. Dass Coco 1916 | |
überhaupt ein Kleid aus Jersey schneidert, der Stoff leicht, bequem und | |
dehnbar, ist einigermaßen erstaunlich. | |
Der Direktor der Firma Rodier, die bislang nur Unterwäsche für Männer und | |
Badeanzüge gemacht hatte, hielt sie für leicht verrückt, als ihre | |
Riesenbestellung für Jersey einging. Auch die anderen Kleider dieser ersten | |
Phase ähneln Damen-Outfits für Badmington und Tennis oder Golf. | |
Die eigentliche Sensation von La Marinière aber ist der Schnitt. Einer | |
Laune der Kulturgeschichte folgend bezeichnet man die Grundform von | |
Schnitten oft nach griechisch-lateinischen Buchstaben: X-Silhouette, A-, O- | |
oder V-Silhouette. Was aber ist – vor dem Chanel-Label mit dem | |
spiegelverkehrt ineinander geschobenen zweifachen C – der Chanel-Buchstabe? | |
Es ist das I. | |
Seine designerische Formel ist von Anfang an da. I heißt schlicht: Schluss | |
mit Betonung der Taille! In so vielen Chanel-Entwürfen noch bis nach dem | |
Zweiten Weltkrieg sitzt eine nur leicht angedeutete Taille weit unten, eher | |
an den Hüftknochen, zunächst wie Hemdkleider, die für die Zeit außerdem | |
sensationell kurz sind und nur bis zur Wade gehen. | |
## Das ganze Outfit hängt an den Schultern | |
Das ganze Outfit hängt an den Schultern. Ach, was musste die arme, weiche, | |
verletzliche Taille schon alles aushalten in der Geschichte der | |
europäischen Mode! Korsette, Korsagen, Krinolinen und später noch die | |
X-Silhouette des New Look, der Zeit von Chanels Comeback in den 1950ern: | |
Sie alle deklinieren Sexiness von der Taille aus – mit der naheliegenden | |
Folge, den Busen zu betonen. Dagegen steht Chanels Formel: Befreiung der | |
Taille. Die Schnitte, die daraus entstehen, sind simpel, elegant, auch ein | |
wenig maskulin, la femme dandy. | |
Aus diesen Anfängen entsteht in Paris 1910 die erste Boutique, 1918 Umzug | |
auf die legendäre 31, rue Cambon, wo Chanel bis zum Ende ihres Lebens | |
bleibt. In vielen kleinen Schritten macht die Ausstellung den Übergang von | |
den chemisierartigen Tageskleidern zu den bodenlangen, spektakulären | |
Abendkleidern Chanels in den 1920er und 1930er Jahren sichtbar. | |
Viele sind durch Drapierungstechnik entstanden, das meiste an der Puppe | |
oder direkt am Körper des Models gesteckt. Denn Chanel konnte keine | |
Schnitte. Was herauskommt, ist reduzierte Eleganz, lange Abendroben, | |
Chiffonkleider, Faltenröcke, die Stoffe oft mit Blumen-Prints und | |
Stickereien (die sie von der Firma Kitmir einer russischen Fürstin machen | |
ließ). | |
Chanels Welt vor dem Krieg: Glamour und große Industrie, eigene Firmen, wie | |
die Stoffmanufaktur in Asnières-sur-Seine, Fabrikation von Parfums im | |
großen Stil, immer nahe am Kino, bis hin zu Cocos Tick mit den Reichen. Als | |
junges Mädchen war sie besessen von der Idee, einen Adligen zu heiraten. | |
Ihre Vorliebe für Pracht und Reichtum artikuliert sich in diesen Jahren vor | |
allem über Accessoires. Zunächst ein Gürtel, ganz schlicht und, getreu | |
ihrer Formel, etwas heruntergerutscht sitzend, an den Hüftknochen. Dann | |
wird die Schnalle immer luxuriöser, mit Gold und schließlich Edelsteinen. | |
## Ein ganzer Raum für den „Kometen“ | |
Die Kleider selbst tragen keine Applikationen, aber sie entwirft Schmuck – | |
das vielleicht unbekannteste Kapitel von Chanels Werk. Dem berühmten | |
„Kometen“ von 1932, 18 sternförmig angeordnete Diamanten, gefasst in | |
Platin, widmet die Ausstellung einen eigenen Raum. | |
Und auch dem legendären Chanel No. 5, jenem durchkomponierten, | |
synthetischen Duft mit mysteriöser Ursprungsgeschichte im vorrevolutionären | |
Russland, dem sich, wie ausführlich dokumentiert, auch Marilyn Monroe | |
anvertraute, seit ihrem Geständnis auf die Frage: „Was tragen Sie im Bett?“ | |
– „Nur einen Tropfen Chanel No. 5.“ | |
Die Zeit des Weltkriegs ab 1939 und das von der Wehrmacht besetzte Paris | |
bis 1944 sind in der Ausstellung weitgehend ausgespart. Die Zeit also, in | |
der sie versuchte die Gebrüder Wertheimer, die Produzenten ihrer Parfüms, | |
über die deutschen Besatzer aus dem Geschäft zu drängen, ihre Liaison mit | |
dem Presse-Attaché und Geheimdienstler Hans Günther von Dincklage. | |
Ihre Idee, durch persönliche Beziehung Churchill zu einem Separatfrieden | |
mit den Deutschen zu bewegen, und dann nach dem Krieg die Jahre der totalen | |
Modepause in der Schweiz, aus der sie morphiumabhängig nach Paris | |
zurückkehrte. Es kommt hier eben auf die Sachen an – Kleider, Entwürfe, | |
Accessoires. | |
Erst 1954 war das, ein Comeback in eine Zeit, die alles bald ganz anders | |
machte. Es ist die Zeit der beginnenden sexuellen Revolution, kurze | |
Kleider, ärmellos, große Ausschnitte, Knie sichtbar. Aber Chanel hasste | |
Knie und Ellenbogen. Sie sähen nur von vorne schön aus, von der Seite und | |
von hinten hässlich. Chanel kontert mit dem Tweed-Kostüm: Le Tailleur | |
Chanel. | |
Es ist geschlossen, der schwere Tweed-Stoff eine schwierige Technologie, | |
früher in Heimarbeit oder in britischen Manufakturen gewebt, später mit | |
verbessertem Know-how in Asnières. Chanel verändert den Tweed und macht ihn | |
leichter, sodass er die Figur formt, sehr weich und bequem zu tragen ist: | |
das glatte Gegenteil von New Look. Und treu folgt das Kostüm ihrer alten | |
Formel I, die man auch englisch hören darf. | |
30 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Marina Razumovskaya | |
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