# taz.de -- Porträt des Fotografen Vladimir Sichov: Wie ein Astronaut auf dem … | |
> Die Welt des russischen Fotografen Vladimir Sichov hat eine schwarz-weiße | |
> und eine farbige Seite. Über Straßenszenen aus Moskau und Mode aus Paris. | |
Bild: Francois Boyer fotografierte 1984 Jacques Chirac und Vladimir Sichov (rec… | |
Seine Fotos sprangen mich zum ersten Mal [1][im Buch „Mode und Revolution“] | |
an. Ich konnte mir überhaupt keinen Reim darauf machen: links Bilder von | |
Moskauer Alkoholikern, zwei Hausfrauen in der Metro haben ihre Schuhe | |
ausgezogen und schlafen, eine gähnende Marktfrau, die Hand lässig auf einen | |
abgeschnittenen Kuhkopf gestützt, ein Outlaw irgendwo in der russischen | |
Provinz vor seiner Hütte mit tätowiertem Stalinporträt auf der nackten | |
Brust. | |
Und auf der anderen Seite, direkt daneben, Modeikonen, weltbekannte | |
Designer, Porträts von Models und Helmut Newton, Yves Saint Laurent, Karl | |
Lagerfeld, die für meine Generation auch in der Sowjetunion unsterbliche | |
Vorbilder westlichen Lebens waren. | |
Der russische Fotograf Vladimir Sichov war 1980 der meistveröffentlichte | |
Fotograf der Welt. 2012 zog er mit 68 Jahren von Paris nach Berlin und | |
begann ein neues Leben. Inzwischen 75, bewohnt er eine kleine Wohnung in | |
Weißensee, vollgestopft mit mehr als 300 Bildern russischer | |
Undergroundkünstler. Er sagt, er habe noch nie im Leben ein einziges Foto | |
an die Wand gepinnt. | |
Es war Paris, wo Sichov auf einen Schlag weltberühmt wurde. Als er Anfang | |
1980 in den Westen emigrierte, brachte er Fotos aus eineinhalb Jahrzehnten | |
Sowjetunion mit, dem unbekannten Reich, verborgen im Kühlschrank des Kalten | |
Kriegs. Auch dort lebte man, aber wenige wussten, wie. Und dann zeigte | |
einer zum ersten Mal den sowjetischen Alltag. | |
## 5000 Filmrollen in den Westen geschmuggelt | |
Schon vor seiner Emigration hatte Sichov 5.000 Filmrollen mit 180.000 | |
seiner Fotos in den Westen geschmuggelt. Über ein Stern-Cover von ihm | |
entsteht der Kontakt zu Paris Match, wo im März in zwei Ausgaben auf | |
sagenhaften 44 Seiten „Les russes vus par Vladimir Sicov“ erscheint. Im Mai | |
1980 werden noch einmal 14 Fotos in Life veröffentlicht, Szenen, die wir | |
damals alle überall sahen, aber keiner beachtete sie, keiner kitzelte so | |
die ironische und weltgeschichtliche Seite aus allem hervor. | |
Die Fotos in Paris Match und Life hatte auch [2][Helmut Newton gesehen, | |
Halbgott] der französischen Vogue. „Ein paar Monate lang waren wir dann | |
dick befreundet (bevor Newton nach Monaco und Los Angeles zog, MR), er kam | |
bei mir vorbei, wir gingen spazieren, ich fotografierte ihn auch, aber | |
sonst nichts Besonderes.“ | |
Anfang Juni ruft ihn der Fotoredakteur von Vogue an und fragt, ob er mal | |
vorbeikommen könne. „‚Logisch, ich habe genügend Zeit‘ – ‚Dieser Ne… | |
will uns seit drei Monaten überzeugen, dass Sie für uns arbeiten sollen … | |
Sie sind also Modefotograf?‘ – ‚Ach was, wo denken Sie hin, ich bin ein | |
einfacher Straßenfotograf.‘ – ‚Und russische Mode?‘ – ‚Die war so … | |
wie nur irgendwas. Ich hab auf der Straße fotografiert, ohne Idee, ohne | |
Konzept.‘“ Und dann der Probeauftrag: das Defilee der Haute Couture Fashion | |
Week Paris fotografieren, fünf Tage, von der ersten Show, Nina Ricci, bis | |
zur letzten, YSL. | |
## Ein Wunder für einen Emigranten | |
Zur Sicherheit hatten sie ihm eine Redakteurin mitgegeben, die ihm | |
Anweisungen geben sollte. Er bringt die Filme in die Redaktion und zwei | |
Tage später ruft ihn der Art-Direktor der Vogue an: „‚Wir haben die Filme | |
entwickelt und die Bilder angesehen. Toll! Also, so was hatten wir noch | |
nie! Wir würden ihnen gerne einen Vertrag geben … auch wenn Sie der erste | |
sowjetische Fotograf wären, dem die Vogue einen Vertrag angeboten hat. | |
Wollen Sie? Denken Sie nach!‘ – ‚Warum nachdenken? Ich sage sofort zu!‘… | |
Das war, so Sichov im Gespräch, ein Wunder für jemanden, der gerade als | |
Emigrant in der fremden Stadt Paris anfangen wollte. Im Vertrag hieß es: | |
100 Fotos im Jahr, aber schon die erste Strecke waren 40 Seiten am Stück: | |
sämtliche Bilder von der Haute Couture Fashion Week. | |
Was begeisterte die Leute von der Vogue so? Sichov darf man nach Mode | |
lieber nicht fragen … „Mode ist mir egal – Laufsteg ist für mich die | |
Straße! Die Leute auf der Straße laufen, bewegen sich schnell, ich | |
fotografiere schnell, auf dem Laufsteg geht auch alles schnell, nur nicht | |
stehen bleiben.“ In der westlichen Modeszene habe er sich gefühlt wie ein | |
Astronaut auf dem Mond, verzaubert von einer fantastischen Welt. | |
Sichov ist 1945 in Kasan (Tatarstan) geboren, zur Schule ging er in Tuapse | |
am Schwarzen Meer, wo er schon als 19-Jähriger anfing, Klassenkameraden und | |
Stadtszenen zu fotografieren. Dann Militärdienst auf dem Weltraumbahnhof, | |
dem Kosmodrom von Baikonur, Studium als Radioingenieur im aeronautischen | |
Institut Kasan. Überall fotografiert er, zum Spaß und nur für sich. | |
## Leben unter russischen Nonkonformisten | |
Dann 1972 Umzug nach Moskau, mitten hinein in eine andere Welt. Er lebt | |
unter und mit den russischen Nonkonformisten der Zeit und dort werden seine | |
ästhetischen Vorstellungen geprägt. Er hat mit ihnen Ausstellungen | |
organisiert, die „Wohnungsausstellungen“ und die berühmte | |
„Bulldozerausstellung“ von Malern, die nicht im offiziellen | |
Künstlerverband waren. | |
In Paris ging es für den Emigranten nach seinem ersten Auftritt schnell | |
weiter, Aufträge aus der Schweiz, vom Stern, von YSL, Privatfotos von Yves | |
Saint Laurant und Pierre Bergé und schließlich seine Entdeckung: YSL ist | |
farbenblind! Mit der Vogue aber gab es bald ein Problem: die Fotos vor | |
weißem Hintergrund. „Das kann ich nicht, da werde ich hilflos, mir fehlt | |
alles. Ich habe keine Fantasie, ich bin ein fantasieloser Mensch. | |
Inszenierungen interessieren mich nicht. Aber wenn ich auf der Straße bin, | |
dann lebe ich auf, das ist mein Umfeld.“ | |
Und dann das Problem mit der Farbe. Noch heute wundert er sich, dass er in | |
den Westen kam und mit ein paar Schwarzweißfotos aus dem Osten weltbekannt | |
wurde. [3][Sichovs Website] teilt die Welt so ein: West-Artist, | |
West-Street, East-Artist, East-Street. Wobei Modefotos einfach unter | |
West-Artist fallen. „Die Auftragsfotos sind alle in Farbe, meine | |
persönlichen Fotos sind alle schwarzweiß, immer hatte ich, bei allen | |
Aufträgen, einen Schwarzweißfilm dabei, so konnte ich beides machen: | |
Auftrag erfüllen und für mich selbst fotografieren.“ | |
Als dann 1983 Gislaine Cargère die Fotoredaktion von der Vogue übernahm, | |
sollte er plötzlich das Gegenteil von allem machen, was er wollte und | |
konnte: Studioaufnahmen und das auch noch in Farbe! Da sieht er keine | |
Perspektive mehr bei der Vogue und schwenkt komplett zur Reportage, | |
politisch, weltgeschichtlich, sportlich, auf Reisen durch die ganze Welt, | |
Fototermine mit allen großen Politikern von Giscard d’Estaing über Chirac | |
bis Gorbatschow und über jeden kann er eine originelle Geschichte erzählen. | |
Aber seine Leidenschaft gehört der Straße. | |
## Etwas muss geschehen | |
„Ich laufe rum, bleibe nicht stehen, und sehe voraus, dass da gleich was | |
passieren wird. Arbeitsregel für den Straßenfotografen: Etwas muss | |
geschehen, direkt neben dir, in deinem Umfeld, vor deinen Augen, nicht 30, | |
50 Meter entfernt, sondern hier, in nächster Nähe. Da passiert nicht immer | |
was, aber bereit muss man sein. Etwa diese Aufnahme von den zwei älteren | |
Leuten, die sich auf einem Markt in Moskau küssen (sie sind wie ein | |
ironischer Kommentar auf Doisneaus junges Pärchen auf der Straße in Paris, | |
MR) – das konnte ich nicht vorhersehen, das war nur ein kurzer Augenblick, | |
ich kann nicht fotografieren, wenn ich stehen bleibe, und warten und | |
warten, dass durch diese ausgewählte Tür da Leute laufen, das interessiert | |
mich nicht …“ | |
„Mode? Das ist für mich eine Linie, eine Handschrift … Pierre Cardin hat | |
diese Linie, YSL mit seinen Frauensmokings hat auch diese Linie. Das sind | |
meine Favoriten. Und dann natürlich Lagerfeld. Auf einer Show, die ich | |
fotografierte, [4][habe ich auch mal Claudia Schiffer kennengelernt]. Ich | |
war sehr überrascht, dass sie durchweg allen sofort zugesagt hat, die sie | |
fotografieren wollten, völlig unkompliziert. Dann traf ich sie 1992 wieder, | |
wir saßen im gleichen Flugzeug von Moskau nach St. Petersburg. Dort hat sie | |
mich dann am Hoteleingang abgepasst, sie wollte Souvenirs kaufen auf einem | |
nahe gelegenen Markt. ‚Kommen sie mit?‘“ | |
Die Ikone wollte nämlich unbedingt ein paar Ikonen kaufen und Sichov sollte | |
für sie ein wenig um den Preis handeln. Er ging mit und fotografierte den | |
ganzen Ausflug – Claudia Schiffer, russischer Winter, Ikonen treffen sich | |
auf einem Markt in Sankt Petersburg … Leider wurde diese Strecke noch nie | |
veröffentlicht. | |
2 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Mode-und-Revolution/!5710362 | |
[2] /Doku-ueber-Fotografen-Helmut-Newton/!5694257 | |
[3] http://www.vladimirsichov.me/ | |
[4] /Archiv-Suche/!3283831&s=Claudia+Schiffer&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Marina Razumovskaya | |
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