# taz.de -- Mode und Revolution: Was Menschen in ihrer Kleidung tun | |
> Das Wesen revolutionärer Mode erklärt das wunderbar gestaltete Buch „Mode | |
> & Revolution“, herausgegeben von Dmitri Dergatchev und Wladimir | |
> Velminski. | |
Bild: Vladimir Sichov, „Moscow“ | |
Es gibt kein besseres Nachrichtenmedium als die kleine Schwester der Kunst: | |
die Mode. Wer sie zu lesen versteht, erfährt aus ihr mehr als aus Netz und | |
Zeitung. Wie man sie aber liest – dazu ist die kurzweiligste Einführung, | |
die ich kenne, ein eben erschienenes Buch: „Mode & Revolution“, herausgeben | |
von Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski, erschienen im Verlag ciconia | |
ciconia, Berlin, einem segensreichen Mittler zwischen russischer und | |
deutscher Literatur, Kunst, Philosophie. | |
Dieses Buch denkt nicht nur über Mode nach, sondern produziert auch welche. | |
Neben den Texten präsentieren russische Künster*innen und Designer*innen | |
und schließlich der bekannte Schriftsteller und Zeichner Pavel Pepperstein | |
neue Stoffe, Kollektionen, Projekte. Aber das Buch ist auch selbst ein | |
wunderbar entworfenes und gestaltetes Kunststück. Schon das | |
Inhaltsverzeichnis ist ein solches, wenn der Künstler Alexey Frey Heroen | |
der russischen Geistesgeschichte in moderne Outfits steckt: Dostojewski in | |
edler Streetwear und punkigen Sandalen mit silbernen Ketten. Den Texten, | |
die durchweg in Deutsch und Russisch sind, stehen gleichberechtigt eine | |
Reihe hochinteressanter Bildessays zur Seite. | |
Das Buch nimmt den Faden bei der Mode der russischen Avantgarde der 1920er | |
Jahre auf. Man sieht zunächst, wie sich die Grundidee des Konstruktivismus, | |
Funktionalismus, zweckmäßige Erscheinung, einheitlicher Lebensstil, mit dem | |
endlosen Spiel der Symbole verbindet: die Sowjetmacht als roter Stern, aus | |
dem Weizenähren wachsen. Und dann die Dinge der Zukunft: Flugzeug, Panzer, | |
Telegrafenmasten, Funkwellen, geometrisch gebrochen zu seriellen Mustern, | |
synthetisiert zu halb ornamentalen, halb gegenständlichen Kompositionen. | |
Aber die beiden Frauen, deren Kleider und Texte am ausführlichsten | |
behandelt werden, Varvara Stepanova und Ljubov’ Popova, hatten eine andere | |
Grundidee. Ein Beitrag von Julia Tulovskaja zeigt, wie die Technik der | |
Stoffherstellung selbst, die Weberei, seit frühgriechischer Zeit wie von | |
selbst und jetzt bei den beiden Russinnen programmatisch in geometrische | |
Muster mündet. Sie gehen vom Handwerklichen aus, der Technik der | |
Stoffherstellung und dann erst zu Design und Symbol über. Auch interessiert | |
sich die revolutionäre Mode, so ein Essay Stepanovas von 1923, für das, was | |
die Menschen in ihren Kleidern tun. Paul Poiret und Chanel befreiten die | |
Frau vom Korsett, für die russische Avantgarde bedeutet Befreiung auch, | |
tätig zu sein. | |
Unverkennbarer Stil à la russe | |
Die einzige nicht übersetzte, weil kaum übersetzbare Strecke des Buches ist | |
zwei anderen Frauen gewidmet: Nadezhda Lamanova und Vera Muchina. Lamanova | |
gilt oft als die erste sowjetische Modedesignerin. Sie hatte vor der | |
Revolution nur Frauenkurse besucht und drapierte für ihre meist adligen | |
Kundinnen direkt am Körper, ohne Schnittmuster. In den revolutionären | |
1920er Jahren gab es dann keine Stoffe, Kleider entstanden aus Kopftüchern | |
und schließlich sollte industriell produziert werden. In dieser Lage traf | |
sie die Bildhauerin Vera Muchina (sie hatte die berühmte Monumentalskulptur | |
„Arbeiter und Kolchosbäuerin“ gemacht). Die Künstlerin beginnt, die Ideen | |
von Lamanova auch grafisch darzustellen, und bringt ihr geometrisches | |
Denken bei. | |
Die im Buch reproduzierten Seiten aus „Entwürfe für den Alltag“ von 1924 | |
liefern die Schnittmuster gleich mit. Lamanovas und Muchinas unverkennbarer | |
Stil à la russe mit seinen folkloristischen Grundelementen aus dem | |
russischen Dorf wurde 1925 schließlich auf der Weltausstellung in Paris | |
gezeigt und erhielt den Grand Prix. | |
Überhaupt war der revolutionäre Austausch mit der Pariser Modewelt sehr | |
rege. Der französische Kunstwissenschaftler Régis Gayraud erzählt in | |
hinreißendem Tempo von einem solchen Transfer: Coco Chanel hatte die | |
schönsten ihrer Stoffmuster von Il’ja Zdanevic, dem Autor einer | |
paradadaistischen Gruppe in Tiflis, der Bücher in der dadaistischen | |
Kunstsprache Zaum, einer Art konkreter Poesie schrieb. Buchstaben und | |
Zeilen des Texts werden Textur, werden Stoffmuster aus Treppen, Kreisen, | |
verschränkten Rauten und Rechtecken, Muster ohne Farbübergänge. Zdanevic | |
holte seine Inspirationen auch aus dem Abzeichnen und Fotografieren | |
byzantinischer Kirchen. Als Coco Chanel 1928 ihre eigene Textilfabrik | |
gründet, Tissus Chanel, wird Zdanevic bis 1933 zum Leiter des größten | |
Betriebs in Asnières. | |
Russische Revolution trifft auf französische Mode | |
Diese fortgesetzte Begegnung von russischer Revolution und französischer | |
Mode lässt das Buch schließlich in eine sagenhafte Fotostrecke münden: | |
links die Fotografie einer westlichen, meist französischen Modeikone | |
(Lagerfeld, Loulou de la Falaise, Yves Saint Laurent, Gaultier, usw.) und | |
rechts Bilder aus dem sowjetischen Alltag der 1980er Jahre. | |
Man kann nicht aufhören, in diesem subtilen Fotodialog zu lesen: Links | |
scheint die Revolution jetzt im Westen stattzufinden. Die Nonkonformisten | |
zeigen ihren Lebensstil, Bilder aus der Werkstatt der Ikonenproduktion, | |
Bilder von Vorbildern, die Vorbilder haben: de la Falaise, eine elegante | |
Dame im schwarzen Herrenanzug, zusammen mit Yves zwischen zwei weißen Vans | |
auf einem Parkplatz mit schmutzigen Pfützen. Rechts daneben: Einer mit | |
Dreitagebart, mit nachlässig sitzender, hochgeklappter Pudelmütze und halb | |
geknöpftem Mantel zündet sich eine Zigarette an, während er über die Straße | |
geht – ohne Vorbild. Jeder ist sich selbst sein Vorbild. Das ikonenlose | |
Leben huscht unter den Ikonen weg, auch wenn Lenin überüberlebensgroß | |
irgendwo hängt. | |
Den Sprung von 1923 über 1980 bis in die Gegenwart der Revolution macht der | |
heimliche Held des Buches: der Künstler und Schriftsteller Pavel | |
Pepperstein. Zunächst geschieht dies in einem Meisterstück postmodernen | |
Denkens aus dem Moskau der 1990er Jahre. Wo das 20. Jahrhundert bislang auf | |
Codes und Symbole setzte, da ging Peppersteins Lagebestimmung 1998 von | |
einem russischen Fernsehkanal aus, der in den 1990er Jahren ausschließlich | |
Modeschauen sendete, nichts als Catwalks, Defiles, herankommende, | |
weglaufende Models, vierundzwanzig Stunden am Tag. | |
Da ereilte Pepperstein die postmoderne Krise. Was sind hier noch die | |
Kleider? Mode ist Mode ohne Kleidung geworden. Sollte früher die Kleidung | |
stärker sein als die Trägerin, so ist jetzt das Model stärker als die | |
Kleidung. Gezeigt wird nur noch das „System Mode“ aus Supermodels, Werbung, | |
Laufen, Zeigen, Präsentieren, ohne jede semantische Verwicklung, der | |
Laufsteg eine phallische Veranstaltung, die Models könnten auch nackt sein. | |
Die Trägerinnen haben keine Rollen und sie reden nicht, wie die Engel | |
Leonardos sind sie von reinem Schweigen erfüllt. Dieser Artikel aus dem | |
Moskau von 1998 ist subtiler als alles, was Baudrillard je geschrieben hat. | |
Am Ende des Buches stehen 13 von Pepperstein selbst entworfene und von | |
Varvara Kuznecova-Gvozdik realisierte Outfits: sehr reale Kleider mit einer | |
Botschaft, einer poetischen Botschaft. Jedes Kleid ist – ganz im Gegensatz | |
zu Ossip Bricks Rat, der 1924 gegen die Staffeleimaler wettert – ein Bild, | |
die Formen tendieren zur Fläche. Die Botschaft, auf den Spuren des | |
dichtenden Stoffdesigners Zdanevic, ist eine Zukunft, fragmentiert in | |
Science-Fiction, fantastisch, ironisch, leichtfüßig gehen Vergangenheit und | |
Zukunft ineinander über, vom Traum der Jakobsleiter über die italienischen | |
Renaissancekünstler zur Doppelhelix: Man trägt sie elegant als | |
figurbetontes, bodenlanges Abendkleid, die bunten Perlen der DNA auf beigem | |
Grund. | |
1 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Marina Razumovskaya | |
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